IDK - Was ist eigentlich Anti-Militarismus?
Der folgende Text stammt von der antimilitaristischen Gruppe "IDK - Internationale der KriegsdienstgegnerInnen" (www.idk-berlin.de) und beschreibt die verschiedenen Entwicklungen und Unterschiede zwischen liberalem, sozialistischem und anarchistischem Antimilitarismus. Letzterer wird in dem Beitrag besonders ausführlich behandelt.
IDK - Was ist eigentlich Anti-Militarismus?
Im Anti-Militarismus (AMI) lassen sich im wesentlichen zwei Entwicklungslinien der Kritik am Militarismus ausmachen, die bis in die Mitte des 19. Jahrh. zurückreichen. Es sind die politischen Theorien des Liberalismus und des Sozialismus.
Liberaler Anti-Militarismus
Der Liberalismus des 19. Jahrhundert trennte die Gesellschaft im wesentlichen in zwei Bereiche, in eine zivile Sphäre und in eine militärische. Die Liberalen wendeten sich zum Beispiel gegen die Etablierung von "stehenden Heeren" im militärischen Bereich; dies würde der Gesellschaft eine Tendenz vorgeben, die das Militär nach Einfluß im zivilen Bereich der Gesellschaft streben läßt.
Eine militaristische Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, daß militärische Wertvorstellungen, Art und Weisen der politischen Entscheidungsbindung wie der gesamte politische Stil von militärischen Konzeptionen bestimmt werden. Militarismus erscheint hier als extremer Gegensatz des Pazifismus', wenn Pazifismus reduziert wird auf eine Haltung, die grundsätzlich nur die "Staatskunst", die Politik, also höchstens einen Kampf mit Worten (als rein geistiges Kampfmittel) gelten läßt.
Instrumenteller Zweck dieser Kritik am Militarismus ist es, von Seiten der Zivilisten Kontrolle über das Militär auszuüben, und die Streitkräfte möglichst auf ihre funktionale Sphäre zu beschränken. Liberaler AMI konzentriert sich auf die Symptome und die Erscheinungsformen des Militarismus und weist nach wie das Militär in die Zivilsphäre der Gesellschaft übergreift.
Liberale Kritik richtet sich gegen alles, was über den rein funktionalen, instrumentalen Charakter des Militärischen, über den normalen Kriegs- und Kriegsvorbereitungsdienst hinausgeht: z. B. gegen kostspielige militärische Liebhabereien wie einer Kavallerie im Panzerzeitalter oder gegen Schnörkeleien in Form von Paraden und dem Stechschritt. Heute, in der professionell-technologisch orientierten Zeit, ist liberaler AMI für die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und will eine reine Berufsarmee. Es wird auch der "Militärisch-Industrielle Komplex" kritisiert und allgemein die "übermäßige" und "überflüssige" Rüstung.
Im 19.Jahrh. wurde von liberalen Vertretern der Marktwirtschaft die Hoffnung geäußert, daß das Absterben des Militärs zugunsten einer bürgerlichen Handels- und Industriegesellschaft erfolgen könne. Mit dem Wirtschaftstheoretiker Silvio Gesell, der kurzzeitig an der Bayerischen Räteregierung 1919 beteiligt war, sehen bis heute einige Anarchisten die "soziale Frage" als ein Problem von Zins und Grundrente. Krisen und Krieg seien Ausdruck gestörter Tauschbeziehungen, die Disproportionalitäten beruhen auf dem Besitz von (Zinsen bringendem) Geld und von Boden. Eine Geldreform (Freigeld, Schwundgeld) und eine wirklich freie Marktwirtschaft sichere den Frieden und mache Rüstung und Kriegsdienst überflüssig.
Sozialistischer Anti-Militarismus
Pierre Joseph Proudhon hat als erster im Jahre 1864 den Begriff "Militarismus" verwendet (vgl. Assmus, 1951). Der Militarismus-Begriff ist gleichzeitig mit dem Imperialismus-Begriff als Kampfbegriff der republikanischen und sozialistischen Opposition gegen die militärischen Abenteuer Frankreichs entstanden (vgl. Vagts, 1937).
Seither setzt jede Kritik in der sozialistischen Tradition an dem Punkt ein, daß die liberalistische Teilung der Gesellschaft verfehlt ist, und daß Militarismus als Symptom der (Fehl-)Entwicklung der Gesamtgesellschaft verstanden werden müsse. Militarismus kann als Stadium aller Klassengesellschaften, insbesondere als Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaft angesehen werden. Entwicklungen in der ehemaligen Sowjetunion sind gelegentlich auch unter dem Stichwort Militarismus kritisiert worden. In der Auseinandersetzung mit Tuchatschewsky benutze Josef Stalin selbst den Ausdruck "roter Militarismus".
Sozialistischer AMI diskutiert (auch kontrovers) besonders die Funktionen von Militarismus. Kritikpunkte sind, daß der Militarismus zur Beibehaltung bestehender Produktionsweisen dient, daß er Herrschaftsstrukturen stützte und daß er überholte Klassenbeziehungen künstlich am Leben erhielt.
Der Militarismus als die Summe "aller friedensstörenden Tendenzen des Kapitalismus" (vgl. Liebknecht) erfüllte einen doppelten Zweck, nämlich als innerer Militarismus, zum Schutz der Kapitalistenklasse, und als äußerer Militarismus, zur imperialistischen Eroberung neuer Ausbeutungsgebiete. Der Marxismus erklärte den Militarismus hauptsächlich ökonomisch oder ignorierte ihn einfach als einen "Nebenwiderspruch" des Kapitalismus. Die Überwindung des Kapitalismus würde auch gleichsam den Militarismus beenden. Gegen diese Strömung im Marxismus richtete sich später die Kritik, daß die Staatsgewalt nicht nur ein intervenierendes Mittel der Klassenherrschaft ist, sondern "ebenfalls ein gesellschaftliches Verhältnis - und zwar wesentlich ein internationales. Produktionsverhältnis und Destruktionsverhältnis sind zwei Seiten desselben gesellschaftlichen Verhältnisses. ... Bürokratismus und Militarismus sind die zivile, 'ökonomische' und die militärische, 'außerökonomische' Seite desselben gesellschaftlichen Gewaltverhältnisses..." (Jahn 1974, S.136)
Die Erkenntnis, daß Militarismus ein besonderer Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses ist und nicht monokausal ein Ausdruck eines Wirtschaftssystems, wurde in der sozialistischen und auch in der anarchistischen Bewegung diskutiert. Bereits 1921 formulierte Helene Stöcker auf dem internationalen Anti-Militaristischen Kongreß in Den Haag die Auffassung, daß der Militarismus eine Gesinnung sei, der die organisierte Menschentötung als erlaubtes Mittel für politische und gesellschaftliche Mittel sei und "daß die Militarisierung ein Geisteszustand von Völkern ist, der unter verschiedenen wirtschaftlichen Formen möglich ist." (IAMB 1921; S.14)
Bei Max Nettlau liegen die Wurzeln des Militarismus und der Diktatur im Nationalismus und Imperialismus und führten zur faschistischen Mentalität in vielen Ländern. Besonders in Italien war die Diktatur zeitweilig unangreifbar, da sie über sämtliche Gewaltmittel verfügte, die Terrorisierung der öffentlichen Meinung vornahm und auch Einfluß auf die Erziehung der Jugend hatte (vgl. Nettlau 1929).
Anarchistischer Anti-Militarismus
Der Anarchistische Anti-Militarismus kann im wesentlichen dem sozialistischen AMI zugeordnet werden. Anarchistischer AMI ist vor allem eine Kritik des Politischen, ist Staatskritik. Es geht darum, "die militärische Vernunft und Logik als legitimes Kind, als eine Variante der Staatsvernunft zu erkennen." (Krippendorff 1985, S.363) Anarchistischer AMI ist weniger orientiert an einer Theoriebildung zu einem Militarismus-Begriff, sondern ist direkte Aktion gegen Krieg und Kriegsvorbereitungen. (vgl. Beyer 1989) Mit dem Anwachsen der Arbeiterbewegung in Europa (ca. 1890) erlangte der anarchistische AMI gesellschaftliche Bedeutung.
Kriegsdienstverweigerung und Generalstreik gegen Krieg
Auf den Konferenzen der 2.Internationale (IAA, Internationale Arbeiterassoziation) 1891 und 1893 wurden von anarchistischer Seite Resolutionen eingebracht, die vorsahen, bei Kriegserklärungen zur allgemeinen Kriegsdienstverweigerung und zum Streik aufzurufen. Diese Anträge, die jedoch von der Mehrheit der Anwesenden abgelehnt wurden, waren konkrete Mittel zur Kriegsverhinderung, während übliche Beschlüsse lediglich davon sprachen, daß die Überwindung des Kapitalismus das Verschwinden der Kriege zur Folge habe.
Bis zum 1.Weltkrieg dominierte bei der Beurteilung über den prinzipiellen Stellenwert des antimilitaristischen Kampfes in der internationalen Arbeiterbewegung diese Mehrheitsposition. Die Minderheitsposition konsolidierte sich 1904 in den Niederlanden in der Internationalen Antimilitaristische Vereinigung (IAMV). Auf Initiative von Domela Nieuvenhuis fand 1907 in Amsterdam ein internationaler antimilitaristischer Kongreß der anarchistischen Bewegung statt, an dem Emma Goldman, Errico Malatesta, D. Nieuwenhuis, Luigi Fabbri und Pierre Ramus u.a. teilnahmen.
Das anarchistische Verständnis des AMI wurde von Domela Nieuvenhuis in der Auseinandersetzung von revolutionärer Gewalt und sozialistischem Neuaufbau der Gesellschaft formuliert: "Die revolutionären Sozialisten können die Sieger in 100 Feldschlachten sein, Legionen von Arbeitern können überall siegend die Rote Fahne hissen, aber wenn sie nicht tatsächlich die Besitzer, die Kapitalisten, die Händler, die Unternehmer ersetzen können durch Menschen aus den eigenen Kreisen, dann werden die heldenhaften Taten nutzlos sein, und alles wird auf's Neue begonnen werden müssen." (Nieuwenhuis 1888, S.86)
D. Niewenhuis richtete sich gegen die marxistichen Militarismusanalysen mit dem Vorwurf gegen die Sozialdemokratie, daß sie die Institution Militär nicht grundsätzlich abschaffen, sondern lediglich korrigieren wolle. Gegen Karl Liebknecht gerichtet stellte er fest, "... daß wir Anarchisten wohl wissen, daß mit der Beseitigung des Kapitalismus ... der Militarismus noch nicht beseitigt ist. ... die Sozialdemokraten wollen den Militarismus nicht an der Wurzel treffen; sie wollen bloß ein Volksheer ... Sie wollen nur eine Form-, keine Wesensänderung. Was die Sozialdemokraten Antimilitarismus nennen, sind in Wahrheit Reformen im Heer, ... was auch die radikale Bourgeoisie will." (Nieuwenhuis 1908, S.230)
Die Sozialdemokratie könne, so Niewenhuis, auch keine radikalere Position im AMI einnehmen, da sie die Macht im Staat anstrebe und daher auf das Militär als staatliches Machtmittel zur Herrschaftssicherung angewiesen bleibe. Ihre Befürwortung eines Verteidigungskrieges werde im Chauvinismus enden war Niewenhuis hypothetische Voraussicht, die sich mit dem 1. Weltkrieg (1914 bis 1918) bewahrheitete. Sozialdemokraten und Sozialisten zogen als Soldaten ihres jeweiligen Staates und als Verteidiger ihres "Vaterlandes" in den Krieg und mordeten sich gegenseitig. Es war ein Endpunkt des marxistischen Dogmas von mechanistischer Fortschrittsentwicklung der Gesellschaft. Bei der Sozialdemokratie fand eine allmähliche Integration in die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung des wilhelminischen Deutschlands statt. Die Jungen in der deutschen Sozialdemokratie formulierten um 1890 anarchistische Kritik gegen die "objektive Entwicklung zum Sozialismus" und die zunehmende Orientierung der SPD auf Wahlerfolge.
Gustav Landauer aus dem Kreis der Jungen definierte den Sozialismus im extremen Gegensatz als die "Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen". Er formulierte damit die Grundsätze der anarchistischen und syndikalistischen Tradition der deutschen Arbeiterbewegung, die nach 1918 in der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) organisiert war und sein Sozialismusverständnis durch die Parolen "Revolutionierung der Köpfe" und "Sozialismus als Kulturfrage" ausformte.
Anarcho-Syndikalisten gegen Rüstungsproduktion und für verantwortliches Produzieren
In der Tradition von Peter Kropotkin und G. Landauer vertrat Rudolf Rocker die Forderung nach Produktionsverweigerung in der Rüstungsindustrie. Zusammen mit Augustin Souchy und Fritz Oerter wurden bewaffnete Aktionen des Proletariats politisch kritisiert und als Putsche abgelehnt.
Bei F. Oerter ist Kritik am Militarismus Staatskritik; und Staatskritik ist wiederum Gewaltkritik. Die folgerichtige Konsequenz liegt also in der Gewaltfreiheit. Die gesellschaftliche Lösung, nämlich die Überwindung von Militarismus, Staat und Gewalt liegt im Föderalismus. Der Föderalismus wird durch die Arbeiterschaft mit ihrer wirtschaftlichen Macht geschaffen, sie ist Kampfform und Ziel der Arbeiterschaft gegen politische Macht. Dazu ist der Widerstandsgeist durch Agitation und Propaganda zu beleben.
Zwischen den beiden Weltkriegen hatte die internationale anarchistische und anarcho-syndikalistische Bewegung einen bedeutungsvollen Diskussions- und Organisationszusammenhang, vor allem im antimilitaristischen Bereich. Aus der IAMV entstanden 1921 die War Resisters' International (WRI) und das Internationale Antimilitaristische Büro (IAMB). 1926 kam die Internationale Antimilitaristische Kommission (IAK) hinzu, die von der anarcho-syndikalistischen Internationalen Arbeiter Assoziation (IAA) und dem IAMB gebildet wurde. Das IAK-Sekretariat in den Niederlanden mit Albert de Jong gab einen Pressedienst heraus.
Im Anarcho-Syndikalismus wurde über Arbeitsmoral, über den Sinn des Tuns über den Gegenstand der Arbeit diskutiert. Bereits 1899 hielt Max Nettlau in London einen Vortrag über Verantwortlichkeit: Es ist eines Menschen unwürdig, seinem Mitmenschen Schaden zuzufügen, weil der Kapitalist es von ihm verlangt. Die Entschuldigung: "ich bin nur ein Werkzeug" könne solches Tun niemals rechtfertigen (Nettlau 1922). 1919 forderte R. Rocker die Rüstungsarbeiter auf, keine Kriegswaffen mehr zu produzieren und A.Lehning führte später aus, daß Streiks unter dem Zeichen des "verantwortlichen Produzierens" die Moral der Produzenten stärker fördern würde als alle denkbare Propaganda.
Die Umwandlung der Rüstungsindustrie in zivile Produktion (Konversion) wurde diskutiert.
Auf dem 3.Kongreß der IAA in Lüttich 1928 wurde über die Fragestellung "Kampf gegen Krieg und Militarismus" diskutiert und folgende Resolution verabschiedet, die von Lucien Huart, dem Vertreter der französischen Sektion eingebracht wurde:
"Die Arbeiter der Rüstungsindustrie und der Betriebe, die für Kriegszwecke umgestaltet werden können, sind davon zu überzeugen, daß es die Pflicht der klassenbewußten Arbeitschaft ist, bei Kriegsausbruch in den Streik zu treten, sich die Vorräte an Kriegsmaterial und der hierfür bestimmten Rohstoffe zu bemächtigen und die Betriebe der Ausnutzung durch den Kapitalismus zu entziehen." (IAK-Pressedienst 1929)
Dieser Resolution folgte eine öffentliche Diskussion im IAK-Pressedienst und dem Organ der französichen Anarchisten der "Voix libertaire". Über mehrere Jahre folgten Beiträge zur Frage der Gewaltanwendung und zur Verteidigung der Revolution. Die Minderheitposition wurde im Gegenantrag von Albert de Jong und Arthur (Müller-)Lehning formuliert und unterschied sich nur im letzten Satz "...die Vorräte an Kriegsmaterial und hierfür bestimmte Rohstoffe zu vernichten und die Betriebe durch Sabotage produktionsunfähig zu machen." (ebd)
Mehrheitsmeinung war zu dieser Zeit noch die Auffassung den Generalstreik zu einer siegreichen Revolution zu gestalten. Nach der russischen Revolution hatten die Hoffnungen auf Revolution gesellschaftliche Realität.
AMI hatte bei L. Huart lediglich die Funktion der destabilisierenden Wirkung auf Armee und Staat. Er wollte nicht die Machtmittel der Bourgeoisie zerstören, sondern plädiert für die Aneignung militärischer Kampfmittel durch die Arbeiterschaft. Die gewaltsame Konfrontation zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse werde unabwendbar sein und deshalb sei militärische Gewalt für den Sieg der anarchistischen Revolution notwendig, um die Konterrevolution zu besiegen. Um der Gefahr einer Eigengesetzlichkeit innerhalb der militärischen Organisation zu entgehen, müsse eine solche analog der ökonomischen Umgestaltung organisiert sein und sich auf dezentrale Basisgruppen in den Betrieben aufbauen.
A. de Jong und A. (Müller-)Lehning lehnten jede militärische Gewaltanwendung seitens der Arbeiterklasse ab, weil gegen Militärgewalt und moderne Kriegstechnik die Arbeiterklasse keine anderen Mittel habe als die ökonomische Wehrhaftigkeit. Außerdem sei das Hauptziel die Übernahme des ökonomischen Lebens durch die ökonomischen Organisationen der Arbeiter. "Die Macht des Staates ist hauptsächlich basiert auf der Passivität des Volkes, auf seiner passiven Mitwirkung. Bei einem wohlorganisierten passiven Widerstand fällt der Staat in sich zusammen. Das zweckmäßigste Mittel, den Staat zu vernichten, ist seine Ausschaltung aus dem gesellschaftlichen Leben. Gegenüber dem passiven Widerstand auf ökonomischen Gebiet, gegen Steuerverweigerung, Boykott und Non-Cooperation ist die militärische Gewalt des Staates machtlos, wie der Kampf in Britisch-Indien bewiesen hat." (De Jong/Lehning 1931, S.109)
Bereits vorher gab es schon grundsätzlichen Einschätzungen im Anarcho-Syndikalismus zur militärischen Gewalt, "daß die bewaffneten Aktionen kein geeignetes Mittel zur Niederringung der militärischen Gewalt" seinen. Begründet wurde dies auch mit pragmatischer Einsicht, daß beim Zweikampf organisierter Gewalt, "immer diejenigen als Sieger hervorgehen, die am stärksten bewaffnet, diszipliniert und zentralisiert" (Oerter 1920, S.9) sind. In den meisten Fällen sei dies die jeweils herrschende Klasse, die über ein wohl ausgebildetes Heer und über die vorteilhafteste Bewaffnung verfügt. (ebd)
Diese politischen Einsichten standen zur politischen Praxis oft im Widerspruch, z.B. als sich während des Ruhraufstandes 1920 die "Rote Ruhrarmee" spontan bildete, die zum großen Teil aus FAUD-Mitgliedern bestand. Oder als sich seit 1930 "Schwarze Scharen" am Rande der FAUD organisierten, die schwarz bekleidet, teilweise mit Bewaffnung und Sprengstoff den antifaschistischen Kampf organisierten. Einige von ihnen nahmen später auf republikanischer Seite am Spanischen Bürgerkrieg teil. In der kritischen Auseinandersetzung mit militärischen Aktionsformen wurde angeführt, daß Straßenkämpfe einen Rückfall in den politischen Terrorismus des 19.Jahrh. bedeuten könnte. Oder, "daß Einheitskleidung und Schwarze Scharen zu einer Militarisierung unserer Jugend führen würden, wodurch unser jahrelanger Kampf gegen Krieg und Militarisierung der Jugend zur Farce werde." (Rübner 1994, S.209)
Neben anarcho-syndikalistischen Diskussionzusammenhängen gab es Anarchisten wie Pierre Ramus, Bart. de Ligt und Ernst Friedrich, die auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen (z.B. Friedensgesellschaften) aktiv waren.
AMI bei P. Ramus bedeutete die Ablehnung von Militarismus in allen Formen und war ferner die Ablehnung aller militärischen Mittel, d.h. Ablehnung von Waffengewalt zur Erreichung eines Zieles. Militarismus-Kritik bei P. Ramus war Teil seiner Herrschaftskritik. Militarismus wurde gesehen als ein Problem jeder Staatlichkeit, als Charakteristikum jeden Staates, da diese, unabhängig von ihren Regierungsformen zu ihrer Selbsterhaltung auch bewaffnete Macht, Gewalt bzw. das Gewaltmonopol in Form von Militär und Polizei benötigten.
Gewaltverzichtserklärungen zwischen Staaten stünden im Widerspruch zur Tatsache, daß jeder Staat imperialistisch ausgerichtet sei. "... Nur mittels des Militarismus vermag der Staat die ökonomische Grundlage seines Bestandes - den Kapitalismus - aufrecht zu erhalten." (Ramus 1921,S.4) Der Kampf gegen Militarismus hatte das Ziel der "Entmilitarisierung der Gesellschaft", ..."was zugleich Entstaatlichung der Gesellschaft bedeutet." (ebd) Der AMI müsse an den gesellschaftlichen Strukturen und an den anerzogenen geistigen Haltungen der Gesellschaftsmitglieder ansetzen. Hier werde Militarismus (und Staat) aufrechterhalten und reproduziert.
Durch Propaganda und Aufklärung seien die Ziele des Militarismus deutlich zu machen und die antimilitaristische Aktion vorzubereiten und zu erklären. Durch direkte Aktionen sollen sich die Menschen dem Militarismus verweigern. Formen der individuellen und kollektiven Kriegsdienstverweigerung und des zivilen Ungehorsam wurden vorgeschlagen. Jeder solle "dem Staate jedweden Militärdienst, jedwede Eides- oder Gelöbnisverpflichtung" verweigern und "den absoluten Antipatriotismus und Internationalismus vertreten." (ebd, S.9) Die Nichtanerkennung staatlicher Gewaltausübung sollte demonstriert werden. AMI sollte darauf angelegt sein, Druck auf die jeweiligen Regierungen auszuüben und schließlich die Macht des Staates zu brechen. Die Zerschlagung des Militarismus sei allerdings nur als kollektive Aktion möglich. Der AMI beinhaltete in sich die wesentlichen Methoden der sozialen Revolution.
B. de Ligt benannte als Kriegsursachen vier Faktoren ( vergleiche auch De Ligt 1927, S.12):
- die kapitalistisch-imperialitischen Gegensätze, welche die Menschheit in neue Kriege zu treiben droht;
- die Rüstungsproduktion;
- die Geistesverfassung eines großen Teils der Völker in ihren Idealen von Nation, Vaterland und Patriotenpflicht;
- überall wo es einen Staat gebe, finde man bestimmte Formen von Militarismus und demzufolge auch Möglichkeiten von Krieg.
Kriegsbekämpfung solle durch wirtschaftliche Macht der Arbeitenden durch Generalstreik, Dienstverweigerung und gegen Rüstungsproduktion erfolgen. Sein "Plan einer Kampagne gegen jede Art von Krieg und jede Art von Kriegsvorbereitung ... (1934)" präzisierte direkte gewaltfreie Aktionen und fand eine weite Verbreitung in der anarcho-syndikalistischen (IAK-Pressedienst No. 152/1935) und in der pazifistischen Bewegung (WRI).
E. Friedrichs AMI war gekennzeichnet durch phantasievolle Aktionsformen (vgl. Friedrich 1978). Das von ihm gegründete Anti-Kriegsmuseum (1924-1933) in Berlin war kein totes Museum sondern "eine lebendige Friedenszentrale", ein Treffpunkt für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Neben Ausstellungen gab es Vorträge und öffentliche Debatten der verschiedenen Flügel der Friedensbewegung. Es gab ein "Märchenzimmer" für Kinder. Friedrich legte sein Augenmerk immer ganz besonders auf die Erziehung zum Frieden. Sein Bildband "Krieg dem Kriege" begann mit Abbildungen von Kriegsspielzeug, in dem er den "Anfang des Krieges" sah.
E. Friedrich entwickelte in der Gruppe "Freie Jugend" phantasiereiche antimilitaristische Aktionsformen. Die einschlägige Wochenzeitschrift "Die Waffen nieder", später "Die schwarze Fahne. Krieg dem Kriege" - ein Blatt "mit famosem Antimilitarismus" (Kurt Hiller) - hatte nach E. Friedrichs Angaben zeitweilig eine Auflage von 40.000 und sollte als Tageszeitung erscheinen. E. Friedrich druckte und vertrieb antimilitaristische Postkarten, darunter Postkartensprüche zu christlichen Feiertagen, und pazifistische "Pfennig-Flugblätter", die von den Verteilern selber bezahlt und entsprechend gewissenhaft verteilt wurden (pro Stück 1 Pfennig). Sein Verlag brachte das antiautoritäre Abzeichen des zerbrochenen Gewehrs in vielfacher Gestalt heraus. Die Gruppen der "Freien Jugend" hielten mit Vorliebe an militärischen Stätten ihre Versammlungen ab. Auf ehemaligen Exerzierplätzen fanden regelmäßige Sonnenwendfeiern statt, die oft von Zehntausenden besucht waren. Selbst bei Einweihungen von Kriegsdenkmälern mischten sich Mädchen und Jungen dazwischen und verkauften ihre Zeitungen und verteilten antimilitaristischen Flugblätter - diese oft in patriotischer Aufmachung. Ein Höhepunkt war die große Anti-Kriegsversammlung beim Völkerschlacht-Denkmal bei Leipzig.
E. Friedrich agitierte Kriegsbegeisterte bei einer feierlichen Einweihung eines Krieger-Denkmal in Hörlitz-Flur als er statt des verhinderten Hauptmanns a.D. sprach. In ähnlicher Weise hatte Johann Most (damals noch SPD-Reichstagabgeordneter, später Anarchist), 1872 einmal eine kleinstädtische Sedanfeier mit Hilfe einer gefälschten "Fest-Zeitung" aufs trefflichste verhöhnt. J. Most unternahm auch Soldatenagitation und versuchte damit direkte Wehrkraftzersetzung.
Nicht zuletzt sind E. Friedrichs Reden bei seinen zahlreichen Prozessen zu erwähnen. Er schrieb, daß der Gerichtsaal sich vorzüglich für antimilitaristische Vorträge eignete. Die Akustik war gut, das Publikum aufmerksam. (Friedrich 1978) Und nach dem 2.Weltkrieg stand auf seiner Friedensinsel in Paris eine zwei Meter hohe Eisenkerze, deren ewige Gasflamme als Gegenstück zum ewigen Feuer des unbekannten Soldaten unter dem Arc de Triomphe gedacht war; sie galt dem "unbekannten Zivilisten".
Anarchistischer Anti-Militarismus nach dem 2. Weltkrieg
Die Situation des anarchistischen AMI entsprach dem allgemeinen Zustand der anarchistischen Bewegung nach dem 2.Weltkrieg. In Deutschland existierten nur noch kleine anarchistische Gruppen. Die Theorie und Praxis bestand aus Diskussions- und Publikationsarbeit. Erste Organisationsansätze gab es mit der "Föderation Freiheitlicher Sozialisten Deutschlands" (FFS) und ihrer Zeitschrift "Die Internationale" (ab 1947 bis 1949). Nach dem 2.Weltkrieg gab es keinen eigenständig entwickelten anarchistischen AMI, sondern viele Anarchisten beteiligten sich an pazifistischen Organisationen, vor allem in Sektionen der WRI. Der bulgarische Anarcho-Syndikalist Theodor Michaltscheff (*1899 - V1969), der 1924 vor der faschistischen Diktatur in Bulgarien fliehen mußte kam über Frankreich und England 1930 nach Hamburg. 1935 promovierte er über William Godwin, war nach dem Kriege maßgeblich an der Gründung der deutschen WRI-Sektion "Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK)" beteiligt und war von 1949 bis 1966 Herausgeber der "Friedensrundschau". Der individualistische Anarchist Uwe Timm - auch IdK-Mitglied - organisierte direkte Aktionen (Mahnwachen) gegen die Atombombe und war Anfang der 60er Jahre in der Ostermarschbewegung aktiv. (Bartsch 1972, 250ff)
Nach den Erfahrungen von Faschismus und Krieg schienen radikaldemokratische Positionen adäquat für libertäres Handeln. Die bedeutenden Diskussionen im anarchistischen AMI zwischen den Weltkriegen (s.o.) wurden nicht aufgenommen und weiterentwickelt; es gab keine Kontinuität sondern ein Bruch in der anarchistischen Theoriebildung. Bedeutend war jetzt die Kritik des "Totalitarismus", die geprägt war von einem allgemeinen Anti-Kommunismus. Dieser führte z.B. bei den schwedischen Syndikalisten (Sveriges Arbetares Centralorganisation, SAC) zur Propagierung der militärischen Verteidigung, sogar zu einer grundsätzlichen Feststellung in der Prinzipienerklärung von 1952 im Falle eines militärischen Angriffs eines "totalitären Regimes" in der schwedischen Armee zu kämpfen.
Eine breite Diskussion wurde über den Föderalismus geführt, über Kommunalpolitik bis hin zur Wahlbeteiligung an Gemeindeparlamenten. Die Grundlage der "Friedenssicherung" wurde in einem föderalistischen Europa gesehen. Der frz. Philosoph Albert Camus mit seinen Werken "Der Mensch in der Revolte" und "Weder Opfer noch Henker" hatte Bedeutung für die Nachkriegsgeneration.
Das neu geschaffene verfassungsmäßige Recht auf Kriegsdienstverweigerung wurde begrüßt, sowie auch eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit durch eine Weltorganisation. In weiten Teilen der Friedensbewegung hatte der Völkerbund und heute die UNO den Ruf einer Frieden schaffenden überstaatlichen Institution. Von anarchistischer Seite wurde der Völkerbund kritisiert da er von englischen und französischen Imperialisten entwickelt und von deutschen Imperialisten vervollkommnet worden sei. Bart.de Ligt kritisierte die von vielen Pazifisten gesetzten Hoffnungen in diese "überstaatliche" Vereinigung. Er bewertete den Völkerbund als ein "rein kapitalistisches Instrument" (De Ligt 1927, S.8), das stets die Neigung habe, die Seite des Mächtigen zu wählen.
Trotzdem hatten viele Anarchisten der Nachkriegsgeneration Hoffnungen der Friedenssicherung in die Nachfolgeorganisation des Völkerbundes, der UNO, die das Ziel hat, "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen und beizulegen." (UNO-Charta, Artikel 1)
AMI-Kritik (vgl. AID 1992/1994) gewaltfreier Anarchisten wies daraufhin, daß die UNO sich von einer einst problematischen Weltorganisation zu einer gewaltlegitimierenden und letztlich auch gewaltfördernden Institution fortentwickelt, deren Ziele und Methoden mit den Prinzipien der gewaltlosen Konfliktlösung unvereinbar sind. Der UNO-Sicherheitsrat beschloß militärische Gewalt (gemäß Artikel 42): Weiterhin werden Kontingente von UNO-Truppen in verschiedenen Ländern bereit gehalten und die UNO hat auch einige Mitglieder militärische Maßnahmen treffen lassen. In der entstehenden "Neuen Weltordnung" wird die UNO verstärkt von Regierungsrepräsentanten dominiert und ist von nationalstaatlichen Interessen geprägt. Der UNO-Sicherheitsrat ist zunehmend zu einem Instrument kriegslegitimierender und kriegführender Mächte geworden.
Die UNO wird von Staaten, Regierungen und nationalen Interessen gebildet und spiegelt diese Interessen insoweit wieder, daß sie:
- Regierungen legitimieren, Armeen zu halten, die Wehrpflicht einzuführen und Kriege zu führen;
- Regierungen legitimieren, Widerstand gegen den Krieg, Wehrpflicht und andere Formen der Kriegsvorbereitung zu unterdrücken;
- sich selbst autorisieren, Kriege zu führen, mit eigenen Truppen oder unter Zuhilfenahme nationaler Truppen.
Widerstand gegen die Wehrpflicht
Die Abschaffung der Wehrpflicht war immer eine anarchistische Forderung. Es war die Ablehnung des staatlichen Zwangsdienstes, der unmittelbar und direkt die männliche Bevölkerung in diversen Ländern zum Militärdienst oder verschiedenen Ersatzdiensten zwingt.
Leo Tolstoi sah im disziplinierten Heer das Wesen jenes Betruges, durch den die Regierungen der neueren Zeit über die Völker herrschen. Sie haben ein "willenloses Werkzeug der Vergewaltigung und des Mordes in ihrer Gewalt". (Tolstoi, S.65) Sein Aufruf zum Ungehorsam gegen Regierungen bedeutet nicht teilzunehmen an der "verbrecherischen Tätigkeit der Regierungen - sei es durch Abgabe ihrer Arbeit in Form von Geld oder durch direkten Militärdienst" (ebd). Militärdienst ist eine Hilfeleistung zur Vorbereitung neuer Verbrechen, da die Regierungen, die disziplinierte Heere unterhalten, sich immer in Vorbereitung zu Verbrechen befinden.
Emma Goldman und Alexander Berkmann initiierten beim Eintritt der USA in den 1.Weltkrieg (1917) eine Kampagne gegen die Einführung der Wehrpflicht in den USA, die es bisher nicht gab und als staatlicher Zwangsdienst die Entwürdigung der menschlichen Persönlichkeit bedeutete. Für ihre antimilitaristische Propaganda erhielten sie zwei Jahre Gefängnisstrafen. B.de Ligt bemerkt aber kritisch, daß die Abschaffung der Wehrpflicht nicht die Vielzahl der anderen Kriegsursachen überwinden hilft (De Ligt 1927). Militarismus und Kriegsgefahr seien mit der Abschaffung von Wehrpflicht nicht überwunden.
Totale Kriegsdienstverweigerung
Die totale Kriegsdienstverweigerung (TKDV) ist die konsequente Form des Widerstandes gegen die Wehrpflicht. TKDV ist der zivile Ungehorsam gegen das vom Staat geschaffene Wehrpflichtgesetz. Verweigert wird die Wehrerfassung, die Musterung, Prüfungsverfahren zur staatlichen Anerkennung als "Kriegsdienstverweigerer" nach Grundgesetz Artikel 4/3, der Wehr- und Zivildienst und die Wehr- und Zivildienstüberwachung durch den Staat. Kernpunkt der Totalverweigerung ist letztendlich die Ablehnung jeglicher vom Kriegsdienstverweigerer geforderten staatlichen Ersatz(dienst)pflicht. Auch Frauen haben sich als totale Kriegsdienstverweigerinnen verstanden, die sich - präventiv - gegen die mögliche Dienstpflicht im militärischen wie zivilen Bereich aussprachen (vgl. Gruppe K.G.W. 1982).
Soldatenagitation
Soldatenagitation hatte im anarchistischen AMI das Ziel der Wehrkraftzersetzung und Destabilisierung von Militär. Soldaten wurden aufgerufen zur Desertion oder Verweigerung des Militärdienstes oder zum legalen Verlassen der Bundeswehr informiert (vgl. Bröckling 1988 und "Info für unzufriedene Soldaten").
Gewaltfreie Revolution
Mit der 68er Studentenrevolte bekam auch der anarchistische AMI neue Impulse auch in internationalen Diskussionszusammenhängen, vor allem in der WRI. An den Ostermärschen der 50er und 60er Jahre gegen die atomare Aufrüstung waren auch Anarchisten organisierend beteiligt. Wichtige Impulse kamen aus dem angelsächsischen Raum, der Bürgerrechtsbewegung der USA, der Bewegung gegen den Vietnamkrieg, der Studentenbewegung der späten 60er Jahre und Gegenkulturen wie den "Provos" in Holland oder den "Yippes" der USA. 1965 erschien die "Direkte Aktion" eine der ersten anarchistischen AMI-Zeitschriften in Westdeutschland, die anderthalb Jahre mit 16 Ausgaben erschien und versuchte eine Synthese von Gewaltlosigkeit und Anarchismus (Bartsch 1974, S.89ff) in Theorie und Praxis zu vollziehen. Sie kann als ein Vorläufer der ab 1972 erscheinenden Zeitschrift "Graswurzelrevolution" angesehen werden.
Das Projekt "Gewaltfreie Revolution" (vgl. Lakey/Randle 1988) wurde international seit Ende der 60er Jahre diskutiert und war eine der neuen Wortschöpfungen, die mit der Herausbildung und Entwicklung der "Neuen Linken" im Zusammenhang stand. Sie vereinigte die antimilitaristische Tradition der Gewaltfreiheit auch des anarchistischen AMI mit sozialrevolutionärer Tradition der Arbeiterbewegung. Es entstand eine Verbindung von Gewaltkritik und Staatskritik. Der Begriff Gewaltfreie Revolution steht in der emanzipatorischen Tradition, die mit der Formulierung vom Absterben des Staates einmal als sozialistische Perspektive diskutiert wurde und auch von anarchistischer Seite als Antistaatlichkeit hervorgehoben worden ist.
In der Gewaltfreien Revolution sollen gewaltloser Widerstand und der Aufbau einer gewaltlosen Gesellschaft zusammentreffen. Widerstand und Aufbau sind ein ständiges Bemühen und Experimentieren des Einzelnen in seinen Verhaltensweisen und kollektiv mit Organisationsstrukturen, die auf Selbstbestimmung, Zusammenarbeit und Koordination beruhen und nicht auf Autorität, Hierarchie und Bürokratie. Angestrebt wird eine herrschaftsfreie, gewaltlose Gesellschaft. Gewaltfreie Aktionsmethoden wurden entwickelt und praktiziert, die nicht auf Waffengewalt beruhen, weil die Mittel des Kampfes mit dem Ziel übereinstimmen müssen.
Ökologische Belange wurden mit dem AMI verbunden, noch bevor weltweit die Umweltzerstörung und die Ökologie zum allgemeinen Thema wurden. Später gab es auch Kriegsdienstverweigerung mit ökologischer Begründung (vgl. Seitz 1987).
Die international geführte Diskussion zur Gewaltfreien Revolution in der WRI Anfang der 70er Jahre haben die Gruppen um die Zeitschrift Graswurzelrevolution stark geprägt (vgl. Bauer 1989). Ende der 80er Jahre gab es in der Internationale der Kriegsdienstgegner/innen (IDK Berlin) eine erneute ausführliche Diskussion zum Projekt "Gewaltfreie Revolution".
Im Selbstverständnis bei der historischen Beurteilung der Sozialgeschichte des AMI in der "Graswurzelrevolution" heißt es, "daß die meisten Texte, die politischen Aktionen und Gedanken der antimilitaristischen Bewegung aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts noch heute eine hohe Aktualität besitzen, ja heute noch Richtschnur in unserem politischen Handeln sein können". ("Graswurzelrevolution 1987, edit.) Eine biographische Verbindung vollzog A. Lehning selber indem er an der Sondernummmer der "Graswurzelrevolution" mitwirkte und feststellte, daß die Arbeit der Graswurzler/innen heute eine Fortsetzung seiner antimilitaristischen Arbeit sei.
Wolfram Beyer
Literatur und Quellen:
- AID - Antimilitaristischer Informationsdienst der Internationale der Kriegsdienstgegner/innen, Nr. 17, Juni 1994; AID Nr. 9 / 1992 (Berlin)
- E.Assmus: Die publizistische Diskussion um den Militarismus unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des Begriffs in Deutschland und seine Beziehungen zu den politischen Ideen zwischen 1850 und 1950, Diss. Erlangen 1951, in: Volker R. Berghahn (Hrsg.): Militarismus, Köln 1975
- Günter Bartsch: Anarchismus in Deutschland, Bd.1 (1945-1965), Hannover 1972
- ders.: Schulen und Praxis des Anarchismus, Troisdorf 1974
- Wolfram Beyer (Hrsg.): Widerstand gegen den Krieg, Beiträge zur Geschichte der War Resisters' International (WRI), Kassel 1989
- Johann Bauer: Gewaltfreie Revolution. Diskussion in der WRI und die deutsche Rezeption, in: W.Beyer (Hrsg.): Widerstand gegen den Krieg ..., Kassel 1989
- Stefan Blankertz: Politik der neuen Toleranz. Plädoyer für einen radikalen Liberalismus, Wetzlar 1988
- Ulrich Bröckling (Hrsg.): Nieder mit der Disziplin! Hoch die Rebellion! Anarchistische Soldatenagitation im Deutschen Kaiserreich, Berlin 1988
- Albert Camus: Weder Opfer noch Henker, Berlin 1991
- Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege, Berlin 1924
- ders.: Vom Friedensmuseum zur Hitlerkaserne. Ein Tatsachenbericht über das Wirken von Ernst Friedrich und Adolf Hitler. Berlin 1978
- "Graswurzelrevolution" - für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, Nr. 117/118- 1987, Sondernummer zur Sozialgeschichte des Antimilitarismus. Keine Frau, keinen Mann, keinen Pfennig für Staat und Krieg.
- Gruppe K.G.W. - Gruppe Kollektiver Gewaltfreier Widerstand gegen Militarismus (Hrsg.): Widerstand gegen die Wehrpflicht, Texte und Materialien, Kassel 1982
- IAMB (Hrsg.): Bericht über den Internationalen Anti-Militaristischen Kongreß im Haag 1921, Utrecht. Deutsche Ausgabe, Berlin o.J.
- Informationen für unzufriedene Soldaten. Wie man legal oder illegal die Bundeswehr verlassen kann, Graswurzelwerkstatt Köln o.J.
- Egbert Jahn: Kommunismus - und was dann? Zur Bürokratisierung und Militarisierung des Systems der Nationalstaaten, Reinbek 1974
- A. de Jong und A. Müller - Lehning: Die soziale Revolution und die antimilitaristische Taktik. Eine Antwort auf Huart, in: Die Internationale. Zeitschrift für die revolutionäre Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau, Hrsg. FAUD / IAA, Nr. 5, Berlin 1931
- Ekkehart Krippendorff: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, Frankfurt am Main 1985
- Lakey / Randle: Gewaltfreie Revolution, Beiträge für eine herrschaftslose Gesellschaft, (Hrsg. Wolfram Beyer), Berlin 1988
- Bart de Ligt: The Conquest of Violence - An Essay on War and Revolution, London 1937 (1989, 2.Auflage)
- ders.: Beim Teufel zur Beichte, Eine Antwort auf das Internationale Manifest gegen die Wehrpflicht, Verlag Fritz Kater Berlin 1927
- Karl Liebknecht: Militarimus und Antimilitarismus, in: Lenin, W.I. & Liebknecht, K.: Militarismus und Antimilitarismus, Frankfurt/Main o.J.
- Max Nettlau: Verantwortlichkeit und Solidarität im Klassenkampf, Berlin 1922
- ders.: Lebende Probleme der Anarchie und der Kongreß von Santa Fe (Argentinien), in: Die Internationale, Zeitschrift für die revolutionäre Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau, Hrsg. FAUD / IAA, Nr.2 Berlin 1929
Originaltext: http://www.tiltonline.net/tilt/gruppen/idk/antimil.htm