Mühsams Eiertanz um die "Homosexualität"

Über Mühsams unbekannte Schrift "Die Homosexualität"

Überrascht war ich, als ich bei einem Streifzug durch die örtliche linke Buchhandlung im Regal "Schwulenliteratur" Erich Mühsams Streitschrift zur Homosexualität entdeckte. Von der Existenz einer solchen war mir bisher nichts bekannt, und das, obwohl diese Streitschrift Mühsams erste selbstständige Veröffentlichung war.

Mühsams Schrift entstand 1903, zu einer Zeit, als sich im wilheminischen Deutschland zum ersten Mal eine Homosexuellenbewegung zu organisieren begann (1897 wurde von Magnus Hirschfeld das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee gegründet) und den Kampf gegen den § 175 aufnahm, der "beischlafähnliche Handlungen" unter Männern unter Strafe stellte. 1902 hat die Veröffentlichung der homosexuellen Praxis des Konzernchefs Friedrich Krupps auf seinem Feriendomizil Capri und sein anschließender Selbstmord durch eine sozialdemokratische Zeitung zu einer breiteren Diskussion der Homosexualität und insbesondere des § 175 in der sozialdemokratischen und anarchistischen Presse geführt.

Mühsam zeigt sich in der "Ein Beitrag zur Sittengeschichte unserer Zeit" untertitelten Schrift sehr bewandert in der wissenschaftlichen Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts zur Homosexualität. Er weist darauf hin, daß er das Material für die Erstellung seiner Schrift überwiegend vom WhK erhalten hatte. Gemäß der Politik des WhK, das sich eine Emanzipation der Homosexuellen und die Abschaffung des § 175 nur durch wissenschaftliche Arbeit und Aufklärung erreichen lassen, geht auch Mühsam der Frage nach, wie sich Homosexualität erklären läßt. Er stellt sich dabei ganz auf die Seite Hirschfelds: "Wer homosexuell ist, war homosexuell von Anfang an. Seine Homosexualität ist angeboren und ist in dem physischen oder psychischen Wesen des betreffenden Urnings begründet und vernotwendigt." (S. 33) Seit Karl-Heinz Ulrichs, der in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts unter dem Pseudonym Numa Numantius 12 Schriften zum Thema Homosexualität herausgab, bezeichneten sich Homosexuelle häufig mit dem Begriff "Urning", der den medizinische oder biologischen Klang des Begriffs "homosexuell" vermied.

Die Suche nach biologischen Ursachen erscheint aus heutiger Sicht unverständlich, damit verbunden war aber die Hoffnung, daß das, was sich als "natürlich" nachweisen lasse, schlicht zu akzeptieren und nicht zu verbieten wäre. Trotz allem Wohlwollen liegt darin jedoch auch eine Abwertung, wenn Mühsam "Homosexualität als biologische Dekadence-Erscheinung" auffaßt (S. 37) – auch wenn er das nur biologisch verstanden wissen will und nicht gesellschaftlich ("Zurückstellung verdient er lediglich als Geschlechtswesen"). Diese biologische Abwertung kompensiert Mühsam mit der Behauptung, "daß im dekadenten Menschen die höchste Kultur seines Stammes zum Ausdruck kommt."

Fast schon amüsant wird es, wenn Mühsam das auch heute noch existente Klischee auspackt, daß Homosexuelle die ästhetischeren Menschen seien, denn "die homosexuelle Veranlagung selbst wird in nicht wenigen Fällen mit dem ästhetischen Empfinden der Urninge zusammenhängen." (S. 53) Wenn er dann aber den "Knaben- oder Manneskörper" nach "rein künstlerischen Gesichtspunkten" als "weitaus schöner ... als (den) des reifen Weibes" erklärt, frage ich mich schon, ob sich hier nicht eher Mühsams sprichwörtliche Frauenfeindlichkeit Ausdruck verschafft hat als das Bemühen um Aufklärung über Homosexualität.

Lesbische Liebe streift Mühsam in seiner Streitschrift über Homosexualität nur am Rande, doch er liefert dafür wenigstens eine Begründung: da lesbische Liebe nicht strafrechtlich verfolgt wird, ist sie für ihn nicht so von Bedeutung. Bei dem, was er da zum besten gibt, ist man aber auch eher froh, daß er sich nicht in epischer Breite darüber ausläßt; Kostproben erspare ich der/dem LeserIn an dieser Stelle.

Den Schluß von Mühsams Streitschrift bildet sein Pladoyer gegen den § 175. Hier bleibt er ganz in der zeitgenössischen Argumentation. Einmal argumentiert er damit, daß eine Verfolgung nach § 175 nur sehr vereinzelt aufgrund der Aussagen von "Chanteuren" möglich ist, was der gesellschaftlichen "Moral" nicht gerade förderlich sei. Zweitens argumentiert er gegen den bevölkerungspolitischen Anspruch des Staates, "daß ihnen kein Individuum verloren gehe." Zweifelhaft wird seine Argumentation jedoch, und auf schrecklichste biologistisch, wenn er schreibt daß "der Staat ... das allergrößte Interesse daran (hat), daß keine Kinder gezeugt werden, die degeneriert sein müssen, weil schon im Vater Degenerationszeichen deutlich sind." (S. 60)

Erfreulich aber ist, mit welcher Deutlichkeit Mühsam gegen die sich zu Beginn des Jahrhunderts durchsetzende Ansicht wendet, Homosexualität sei eine Krankheit und daher seien Homosexuelle zwar nicht zu bestrafen aber zu behandeln. "Und worin besteht die Krankheit der Homosexuellen? Sie selbst fühlen sich frisch, kräftig und gesund, sind mindestens so leistungsfähig wie normal Veranlagte und erreichen ein ebenso hohes Alter. Mir ist es daher noch nie klar geworden, weshalb man homosexuelle Menschen als krank bezeichnen soll. Gewiß sind sie anders als Normalsexuelle. Wenn daraus aber die Normalen den Schluß herleiten wollen, daß sie also krank sind, so können die Homosexuellen dasselbe von ihrem Standpunkt aus von den normalen behaupten." (S. 61)

Mühsams Schrift ist mit Sicherheit kein epochales Werk gewesen. Heute ist vieles davon überholt. Dennoch finde ich die Neuauflage durch den belleville-Verlag sinnvoll, wird so doch ein historisches Dokument der Auseinandersetzung mit Homosexualität wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Allerdings sollte man sich beim Lesen des zeitgeschichtlichen Hintergrundes bewußt sein.

Unerfreuliches ist jedoch zum Schluß zu vermelden: Mühsam selbst hat sich kurz nach Veröffentlichung der Streitschrift in einem offenen Brief, der in der Zeitschrift "Der arme Teufel" vom 9./16. Januar 1904 veröffentlicht wurde, davon öffentlich distanziert. Nicht etwa wegen der darin durchaus enthaltenen Abwertungen von Homosexuellen, sondern weil er die "in der Broschüre niedergelegte Auffassung des homosexuellen Problems seitdem einer gründlichen Revision unterzogen habe, die ein völliges Fallenlassen des darin über Ursprung und Wesen der Homosexualität Gesagten zur Folge hatte." Über die Gründe erfährt man sehr wenig, Mühsam kritisiert seinen Rückgriff auf (homosexuelle) Berühmheiten, die "Monstra (gewesen) wären ..., wenn sie, wie ich mich berechtigt glaubte zu behaupten, in der Tat Urninge im Hirschfeld’schen Sinne, drittgeschlechtliche Dege-nerationsmenschen (welcher Widerspruch in sich!) gewesen wären." Es folgen weitere Ausfälle gegen Homosexuelle, "biologisch minderwertige Individuen", denen er die "bis zu erotischer Liebe gesteigerte Freundschaft" zwischen Männern und Frauen gegenüberstellt.

Die Gründe für diesen Widerruf bleiben nebulös. Und auch die in dem offenen Brief angekündigte Broschüre "Das humanitär-wissenschaftliche Komitee – oder Kultur und Päderastie", die er zusammen mit seinem Freund Johannes Nohl veröffentlichen wollte, erschien meines Wissens nie. Ob diese "bis zu erotischer Liebe gesteigerte Freundschaft" zu Johannes Nohl Grund für den Widerruf war, darüber läßt sich wohl nur spekulieren.

Dennoch blieb Mühsam jedoch immer ein Gegner des § 175 und hat sich auch später sporadisch in diesem Sinne öffentlich geäußert – allerdings nie wieder so umfassend wie in der von ihm widerrufenen Streitschrift.

Andreas Speck

Aus: "Graswurzelrevolution" Nr.212 (Oktober 1996)

Originaltext: http://people.freenet.de/ask/muehsam_homosex.html


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