Was ist „freie Liebe“?
In den meisten Nachschlagewerken wird „Freie Liebe“ auf eine Beziehung ohne Trauschein reduziert. Für den anarchistischen Kontext reicht diese Reduzierung nicht aus. Hubert van den Berg schreibt über den Begriff in seinem Beitrag für das Lexikon der Anarchie: „ Die Wortzusammenstellung “Freie Liebe“ wurde im 19. Jahrhundert geprägt als Bezeichnung für Sexualität, sexuelle Beziehung sowie Formen des Zusammenlebens mit einer (mutmaßlichen) sexuellen Komponente, die sich jenseits von hegemonialen Moralvorstellungen, wie z.B. dem bürgerlichen Eheideal oder des damaligen viktorianischen Puritianismus in Sexualfragen, bewegte. Dabei war in der Bezeichnung Freie Liebe je nach politischen, religiösen und moralischen Standort des Benutzers/der Benutzerin immer ein Werturteil mit enthalten, das von dem Verdikt der Zügellosigkeit, Dekadenz und moralischer Entartung bis zur Rückkehr nach vermeintlich „natürlichen“ Verhältnissen und der Etablierung einer selbstbestimmten Sexualität, frei von äußeren Eingriffen und rückständigen, überholten, irrationalen Normierungen reichte.“ Die Reduzierung der „Freien Liebe“ auf eine nicht staatlich anerkannte eheartige Beziehung bringt uns in der heutigen Zeit wenig für eine progressive Gestaltung der Beziehung. Eine Liebesbeziehung sollte von der theoretischen Seite her immer auf den Grundlagen „freier Vereinbarung“ beruhen, die jederzeit gelöst werden können. Die Kritik an der Ehe als Institution ist in der Schärfe, wie sie bei einigen AnarchistInnen vorkommt, sicherlich nicht mehr zeitgemäß.
Freie Liebe bedeutet darüber hinaus eine Überwindung von verinnerlichten Normen und Herrschaftsverhältnissen. Darin liegt ihr progressiver Gehalt. “Freie Liebe“ ist eine direkte Aktion. Eine wirkliche „befreite“ Liebe kann es in diesen bestehenden Verhältnissen sicherlich nicht geben. Darüber brauchen wir uns keine Illusion zu machen. Der Kampf um die „Freie Liebe“ muss immer auch mit anderen gesellschaftlichen Kämpfen und Veränderungen einhergehen. Wenn ich in diesem Rahmen von „freier Liebe“ spreche so will ich mich klar abgrenzen von Gruppen wie des ZEGG, die unter dem Deckmantel „freie Liebe“ eine rein auf die Bedürfnisbefriedigung des Mannes zugeschnittene Sexualität propagieren.
Rezeptionsgeschichte im Anarchismus
Einer der ersten Vordenker der „Freien Liebe“ war der Frühsozialist Charles Fourier. Er verfocht bereits im 18 Jahrhundert fortschrittliche Ideen von Liebe und Sexualität - auch wenn an vielen Stellen noch patriarchale Denkmuster durchscheinen. Er beeinflusste auch die anarchistische Diskussion um dieses Thema stark. Für die anarchistische Rezeptionsgeschichte des Themas sind desweiteren Anfänge im Hauptwerk William Godwins „An Equiry concerning political Justice and its influence on general Virtue and Happiness“ zu finden, wo er Kritik an der Form der bürgerlichen Ehe übt: “Die Ehe ist ein Gesetz, und das schlechteste von allen! Wie auch unser Verstand über die Person urteilen mag, die uns durch das gemeinschaftliche Leben in jeder Weise zu fördern bestimmt sein soll - über den Wert der einen Frau und die Fehler einer anderen Frau -, wir sehen uns gezwungen, dem Gesetz zu gehorchen, nicht der Stimme der Gerechtigkeit. Man bedenke ferner, daß die Ehe ein Eigentum zur Folge hat, und zwar in seiner schlimmsten Gestalt.“
Godwin selber war zwar verheiratet, was ihm viele KritikerInnen vorwerfen, aber diese Ehe ging er nur ein, um die damals schwangere Frauenrechtlerin Woodstonecraft vor den gesellschaftlichen Repressalien zu schützen. Die Beziehung zwischen den beiden kann für ihre Zeit dennoch als fortschrittlich betrachtet werden - u.a. hatten sie getrennte Wohnungen. Eine sehr viel drastischere Kritik und Zuspitzung der Gedanken Godwins an der Form der Ehe formulierte die russisch-jüdische Anarchistin Emma Goldmann. Für sie schließen sich die Form der bürgerlichen Ehe und die Liebe gänzlich aus. Inwieweit bei dieser Kritik die enttäuschenden Erfahrungen ihrer ersten Ehe (aus strategischen Gründen heiratete sie noch ein zweites Mal) die Überlegung bestimmen, möchte ich an dieser Stelle nicht bewerten. In ihren Reden und Artikeln taucht dieses Thema immer wieder auf und auch in der Praxis versuchte sie ihr Konzept umzusetzen. Die Erfahrung, die bei Emma ausschlaggebend war, wird von Candrine Falk in ihrer Biographie folgendermaßen wiedergegeben: „Als Emma einmal Modell stand, konnte er [Fedja] sich nicht länger beherrschen. Er verließ fluchtartig das Zimmer, und Emma hörte ihn im Nebenraum heftig schluchzen. Als sie ihn zur Rede stellte, gestand er ihr seine Liebe. Nur seine Furcht, Sascha zu verletzen, hätte ihn bisher daran gehindert, ihr dies zu sagen. Nun aber ginge es nicht mehr, und er müsse wohl ausziehen. Nun merkte Emma, dass auch sie in Fedja verliebt war. Aber war das möglich? Konnte man zwei Menschen gleichzeitig lieben, fragte sie sich. Sie beschlossen Sascha von ihrer Liebe zu erzählen und so ihre gemeinsame Überzeugung, dass Liebe weder exklusiv noch mit Besitzdenken verbunden sein dürfe, zu testen.“ Auch für sie, eine radikale Vorkämpferin dieser Beziehungsform, fiel die Umsetzung sehr schwer. In den Briefen, die Falk in der Biographie zitiert, tauchen immer wieder Passagen auf, in denen sie ihr Leid klagt - z.B. über die von ihr als Promiskuität wahrgenommene Form von “Freier Liebe“, die ihr Liebhaber Ben Reitman auslebte. Es zeigte sich dabei deutlich, dass eine Kluft zwischen rationalem Anspruch und emotionalen Empfindungen auch bei ihr bestand.
Erich Mühsam greift dieses Thema in seinem 1909 verfassten polemischen Schauspiel „Die Freivermählten“ ebenfalls auf. „Ein polemisches Schauspiel, in dem die Probleme freie Liebe, freie Ehe, Treue und Eifersucht untersucht werden“ so lässt Mühsam einen seiner Protagonisten das Schauspiel beschreiben. Sein Verfechter der „Freien Liebe“ scheitert an der Kluft zwischen Anspruch und Emotionen. Unter diesem Aspekt betrachtet hat dieses Stück nichts an Aktualität für heutige Diskussionen verloren. Andere Aspekte hingegen, die in „Die Freivermählten“ auftauchen - wie der gesellschaftliche Umgang mit nicht verheirateten Paaren - ist in der heutigen Gesellschaft überholt. Übersehen werden darf bei Mühsam allerdings nicht, dass er ein sehr problematisches Frauenbild hatte. Auch bei den Genossen der Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) herrschte ein solches Bild vor. Die FAUD propagierte die „Freie Liebe“ im Gegensatz zur staatlich- kirchlich sanktionierten Ehe. Wie wenig dies aber mit der Befreiung der Frau aus den patriarchalen Herrschaftsverhältnissen einherging, zeigt sich in einem Zitat von der FAUD-Aktivistin Trautchen Caspars. „Da gab es nicht selten die Meinung „Freie Liebe“, das sollte heißen, daß die Frauen in der Gruppe nun für jeden Genossen dazusein hätten.“ Mit dem gleichen Problem hatten auch die Anarchistinnen in Spanien zu kämpfen, was u.a. zur Gründung der Mujeres Libres 1936 führte. Einer der Themenschwerpunkte dieser Organisation bildete der Kampf um die „Freie Liebe“ - paradoxer Weise bildete aber gleichzeitig das Thema lesbische Liebe ein Tabu. Nach dem II. Weltkrieg endet die anarchistische Rezeptionsgeschichte. Mit dem Aufkommen der Studierendenbewegung 1967/68 wurde das Thema zwar wieder aktuell, aber inwieweit anarchistische Ideen und Vorstellungen ihren Widerhall darin fanden, ist fraglich. Und heute? In der anarchistischen Bewegung scheint dies kein Thema mehr zu sein. Viele AnarchistInnen haben die bürgerlichen Moral- und Beziehungsvorstellungen übernommen und verinnerlicht. Nur selten wird dies noch hinterfragt oder der Versuch unternommen, eine andere Form der Beziehung auszuleben.
Überlegungen über die Bedingungen für „Freie Liebe“
Auf welchen Fundamenten beruht eine „Freie Liebe“sbeziehung? An erster Stelle ist es wichtig, dass sie auf Gleichberechtigung der PartnerInnen beruht, was unter den jeweiligen Umständen unterschiedlich schwer ist. In einem Umfeld, das noch von patriarchalen, unreflektierten Herrschaftsverhältnissen und dem Mann/Frau- Geschlechtsschemata geprägt ist, wird dem „Mann“ das Recht dazu bis zu einem gewissen Grad zugebilligt bis hin zur Hofierung („toller Hecht“); der “Frau“ hingegen wird das Recht auf freie Liebe verwehrt - bei wechselnden Liebesbeziehungen wird die „Frau“ mit abwertenden Begriffen belegt. Diese gesellschaftlichen Bedingungen sollten bei einer freien Beziehung auf jeden Fall reflektiert werden, um einen Umgang damit zu finden. Das Recht eine/n andere/n PartnerIn bzw. mehrere zu haben, muss allen der beteiligten Personen in gleichberechtigter Weise zugestanden sein. „Freie Liebe“ ist allerdings auch nicht gleichbedeutend mit Poligamie/ Promiskuität. Sie kann auch monogam verlaufen.
Übersehen darf mensch bei der „Freien Liebe“ auch nicht, dass es eine wirklich „gleichberechtigte“ Beziehung wahrscheinlich nur in einer Utopie existiert. Eine/r der Beteiligten hegt immer intensivere Gefühle für eine andere Person, als wie sie erwidert werden. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit auf Grund von äußeren Bedingungen die Form der freien Beziehung gleichberechtigt ausgelebt werden kann. Es fängt bereits damit an, ob der/die PartnerIn den gesellschaftlich- vorherrschenden Schönheitsidealen entspricht, ob eine/r der PartnerInnen eher schüchtern ist oder nicht etc.. Neben der Gleichberechtigung ist die Offenheit ein weiterer Grundpfeiler. Gerade in Hinblick auf die Emotionen, die mit der Liebe verbunden sind, muss offen mit Empfindungen wie Eifersucht umgegangen bzw. reflektiert werden. Als ein Beispiel, das häufig angeführt wird für ein falsch verstandenes Konzept von „Freier Liebe“, ist die Beziehung von Jean-Paul Satré und seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir. Er nahm sich das Recht heraus, mit anderen Frauen Liebesbeziehungen zu haben, reflektierte allerdings nicht, dass er seine Lebensgefährtin damit trotz ihrer Toleranz emotional verletzte. Ein Umgang mit „Freier Liebe“ heißt auch, dass die daran Beteiligten einen rücksichtsvollen Umgang mit ihrer/m/n PartnerInnen finden müssen.
Unter dem von mir verwendeten Liebesbegriff fasse ich sowohl platonische Liebe als auch die sexuelle Komponente. Ein wichtiger Aspekt bei der Begriffsverwendung von Liebe in diesem Kontext ist auch das Aufbrechen der klar abgetrennten Bereiche „Freundschaft“ und „Liebe“. Wo fängt Liebe an? Wo hört Freundschaft auf? Welche Rolle spielt in der Unterscheidung die sexuelle Komponente? Eine Trennlinie dazwischen kann nicht klar gezogen werden. Die Annahme, dass Liebe etwas einzigartiges, nur auf eine/n PartnerIn fixierte emotionale Bindung ist, wird damit negiert und schafft den Raum für freie Beziehungen. In Hinblick auf die sexuelle Komponente zeigt sich ein Vorteil der „Freien Liebe“ gegenüber den gesellschaftlich genormten Beziehungen. Weil es in den meisten „bürgerlichen“ Beziehungsstrukturen zu keiner Reflektion der sexuellen Komponente kommt, kann es zu Triebunterdrückung, die sich unterschwellig oder auch offen in Konflikten in der Partnerschaft auswirkt, und/oder in den „Betrug“ des / der PartnerIn mündet, kommen. Die Toleranz gegenüber meinem/r PartnerIn beruht auch auf der Erkenntnis, dass wenn ich eine Person wirklich liebe, mir nur Recht sein kann, dass diese Person glücklich ist. Zudem akzeptiere ich damit, dass ich nicht in allen Bereichen vielleicht die sexuellen Bedürfnisse oder Vorlieben meines/r PartnerIn teile oder befriedigen kann. Verwehre ich meiner/m PartnerIn das Recht auf Glück, dass er / sie mit anderen Menschen findet - sowohl in sexueller als auch platonischer Hinsicht -, aus reinem Egoismus mache ich mich selber nicht glücklich.
Sicherlich ist dies nicht leicht in die Tat umzusetzen. Wir sind gesellschaftlich geprägt von Werten und Moralvorstellungen, wo Werte wie “Treue“ mit „Monogamie“ verwechselt werden; wo die Zwei-Mensch-Beziehung als die gesellschaftlich anerkannte Form des Zusammenlebens propagiert wird - und nichts anderes ist als eine abgeschwächte, verweltlichte Form der Ehe - und somit einer christlichen Moralvorstellung entspringt. Wir leiden schnell an Verlustangst, wenn unser/e PartnerIn engen Kontakt mit einer anderen Person hegt - wir werden eifersüchtig. Aus der gesellschaftlichen Logik heraus ergibt sich die Wahrnehmung der Eifersucht zeitweise gar als „Liebesbeweis“.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der sich aus den angeführten Überlegungen ergibt, ist das Thema Kommunikation. Die Kommunikation zwischen den PartnerInnen nimmt im Rahmen der „Freien Liebe“ einen sehr hohen Stellenwert ein. Die Überwindung von alten Strukturen und Denkmustern muss in einem gemeinschaftlich-kommunikativen Prozess laufen.
“Freie Liebe“ ist sicherlich nicht „der“ Weg zur Emanzipation der Menschheit, aber das Thema ist ein wichtiger Gesichtspunkt auf dem Weg in eine freie Gesellschaft.“ Camillo Rack
Empfohlene Literatur (Auswahl):
- Armand, E.: Das Problem der sexuellen Beziehungen und der individualistische Gesichtspunkt
- Falk, Candace: Liebe & Anarchie & Emma Goldmann
- Fourier, Charles: Aus der neuen Liebeswelt
- Godwin, William: Untersuchungen über die politische Gerechtigkeit
- Mühsam, Erich: Die Freivermählten
Originaltext: http://www.terminator-berlin.tk/