Lyrik und Anarchie. Ein Versuch über Paul Celan und andere
Daß Lyrik politisch sein kann, wird oft bezweifelt. Sicher - es gibt solche und solche Gedichte. Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich anarchistische moderne Lyrik - sei es Wandlyrik oder Flugblattlyrik - der überkommenen "Dichtkunst für gehobene Stände" vorziehe.
Nur allzu oft macht Lyrik ihrem altgriechischen Ursprung alle Ehre: "lyra" bedeutet so viel wie "Leier". Andererseits wird sie von vielen als die "Urform der Dichtung" schlechthin gefeiert. Und so kommt es, daß sie mindestens ebenso viele Feinde wie "JüngerInnen" hat. So gibt es Leute, die bei allem, was das Etikett "Lyrik" trägt, in Verzückung geraten. Meines Erachtens passen derartig erhebende Gefühle, die sich in das Leben eines Geheimrates v. Goethe problemlos einfügen, nicht in unsere Zeit. Sie verstellen die unvoreingenommene Lektüre der Texte und verbauen so vielen Menschen den Zugang zu dem, was sich unter Umständen wirklich zu lesen lohnt.
Traditionelle Lyrik-Gattungen zeichnen sich durch starre Formkriterien wie Sprachrhythmus, Reim, Versmaß und Strophen aus. Der Inhalt hat dabei nicht selten hinter der Einhaltung des Reims zurückzustehen. Form und Inhalt haben sich gefälligst zu entsprechen, wie im folgenden Beispiel:
"Der Alpenjäger./ Willst du nicht das Lämmlein hüten?/ Lämmlein ist so fromm und sanft,/ Nährt sich von des Grases Blüten,/ Spielend an des Baches Ranst./ "Mutter, Mutter, laß mich gehen,/ Jagen nach des Berges Höhen!" ..."
Reim dich oder ich freß dich, Herr Schiller. Da klingeln einem ja die Ohren! Je schmalziger, desto trief...
Kein Wunder, daß gerade die festgelegtesten, angepaßtesten Formen zum Widerspruch reizen. So haben fortschrittliche SchriftstellerInnen immer wieder versucht, ihre nicht angepaßte Meinung in Gedichtform den LeserInnen nahe zu bringen. Da sich Form und Inhalt üblicherweise zu entsprechen hatten, war der Überraschungseffekt vorprogrammiert, wenn progressive Gedanken in traditionellen Formen präsentiert wurden. Diese Technik wurde von Berthold Brecht in folgendem Gedicht verwendet:
KUH BEIM FRESSEN
Sie wiegt die breite Brust an holziger Krippe
Und frißt. Seht, sie zermalmt ein Hälmchen jetzt!
Es schaut noch eine Zeitlang spitz aus ihrer Lippe
Sie malmt es sorgsam, daß sie's nicht zerfetzt.
Ihr Leib ist dick, ihr trauriges Aug bejahrt
Gewöhnt des Bösen, zaudert sie beim Kauen
Seit Jahren mit emporgezogenen Brauen
Die wundert's nicht mehr, wenn ihr dazwischenfahrt.
Und während sie sich noch mit Heu versieht
Entnimmt ihr einer Milch, sie duldet's stumm
Daß eine Hand an ihrem Euter reißt.
Sie kennt die Hand, sie schaut nicht einmal um
Sie will nicht wissen, was mit ihr geschieht
Und nützt die Abendstimmung aus und scheißt.
Dieses Gedicht zerstört Idylle, die schlechte Poesie den KunstkonsumentInnen in eben derselben Verpackung immer wieder vorgaukelt. Es gewinnt so ein Stück Besonderheit, Autonomie, trotz fester Form. Es zeigt, daß sich auch in Gedichtform Widerstand ausdrücken kann.
Paul Celan
Als ein Beispiel für einen anarchistischen Dichter der jüngsten Vergangenheit möchte ich Paul Celan, 1920 - 1970, vorstellen. Kaum ein(e) DichterIn der deutschen Nachkriegszeit hat so beharrlich wie er die poetische Haltung als politische verstanden. Er stellte sich in die politische Tradition der Anarchisten Peter Kropotkin, 1842 - 1921, und Gustav Landauer, 1870 - 1919.
Seine Eltern fielen der JüdInnenverfolgung zum Opfer: Sie wurden von den Nazis in ein Vernichtungslager gebracht und ermordet. Das Gedenken der Opfer des Faschismus ist ein zentrales Thema seiner Lyrik.
Seine Lyrik leistet Widerstand. Sie ist oft auf den ersten Blick nicht zu verstehen, rätselhaft und dunkel. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch bald deutlich, warum Celan diese Dunkelheit wählt: Er schreibt über Ereignisse, die sich nicht einfach in Worte fassen lassen. Seine Dichtung versucht, so präzise wie möglich über Unsagbares, wie die Greuel von Auschwitz, zu schreiben.
Sie führt die LeserInnen oft zu einem Punkt des Verstummens, des wissenden Schweigens. Durch die Rätselhaftigkeit und die Faszination der Worte wirft seine Lyrik die LeserInnen auf sich selbst zurück und macht die Verzweiflung zu einem existentiellen Erlebnis.
Daß viele seiner Gedichte nur schwer verständlich sind, ist ihm mehrfach vorgeworfen worden. Seine Antwort: "Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst."
Hermetische Lyrik
Es darf sicher keine eilige LeserIn sein, die sich mit seiner Lyrik befassen will. Sie wird nicht zufällig von einigen Literatur-wissenschaftlerInnen zur sog. "hermetischen" (verschlossenen) Literatur gezählt. Andererseits kann schon beim ersten Lesen durch die Atmosphäre des Gedichts all das "fühlbar" werden, was mensch sonst erst nach mühevoller Analyse des Textes herausbekommt.
Als engagierte Poesie widersetzt sich Celans Lyrik der apolitischen Interpretation.
In seiner Rede "Der Meridian", die er anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises gehalten hat, stellte Celan sein anarchistisches Lyrik-Konzept vor. Das Gedicht wird dargestellt als der Ort, in dem alle Allgemeinplätze und althergebrachten totalitären Vorstellungen ad absurdum geführt werden sollen.
Celans Gedichte lassen sich nach seinen eigenen Worten nur im Lichte seines anarchistischen Utopiebegriffs entschlüsseln.
U-TOPIE
Utopie ist ein aus dem Griechischen entlehntes Wort: Es ist aus dem Verneinungspartikel "ou" und dem Wort "topos" zusammengesetzt. "ou" bedeutet soviel wie "nein", "nicht"; "topos" soviel wie "Ort, Stelle, Platz, Bücherstelle, Schriftstelle, Gegend, Land, Raum, Örtlichkeit, Stand, Rang, Gelegenheit, Möglichkeit". Die "Utopie" wird somit zum "Nirgendheim", zum "Nicht-Ort", zum "Unmöglichen". Umgangssprachlich ist mit dem Wort "Utopie" meist die Schilderung eines erhofften Gesellschaftszustandes gemeint.
Über den Utopiebegriff Celans ist schon viel geschrieben worden. Absetzen tut er sich von der üblichen Verwendung schon durch seine Schreibweise: Celan schreibt "U-topie". Der Bindestrich verbindet und trennt gleichzeitig den "Ort", die "Möglichkeit" von ihrer "Negation". U-topie meint deshalb nicht bloß den Ort der Negation, sondern denjenigen offenen und eröffneten Zwischenbereich, in dem ein anderes, ein ganz anderes, freies Leben möglich wird. Auf diesen Zwischenraum kommt es an. Der Blick richtet sich auf etwas, was noch nie gesellschaftliche Wirklichkeit wurde.
Celan vermeidet bewußt das Wort Utopie ohne Bindestrich, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß keiner von uns diese U-topie bereits genau beschreiben kann. Er grenzt sich damit von jenen "Eliten" ab, die die Wahrheit für sich gepachtet haben. Zu oft schon wurde versucht, die vermeintlich "beste aller Welten" anderen mit Gewalt aufzuzwingen. Die Utopien der Vegenheit waren Versuche, ein Bild von einer besseren Welt zu entwerfen. Leider läßt sich zeigen, daß es uns in unserer gesellschaftlichen Beschränktheit nicht möglich ist, ein realistisches Bild einer wirklich herrschaftsfreien Welt zu zeichnen. Unsere Sprache und unser Denken ist dermaßen mit hierarchischen, totalitären und patriarchalen Strukturen verseucht, daß eine radikal andere Welt ohne Änderung auch der Gesellschaft, der Sprache und des Denkens sich nicht mal denken läßt. Für Celan heißt das: Abkehr von den großen positiven Utopien des vergangenen Jahrhunderts.
An die Stelle der großen Denksysteme tritt für ihn das Hier und Jetzt, das Leben zwischen U und topie, das sich einem wirklich anarchistischen utopischen Zustand immer nur annähern kann. Seine Gedichte versuchen die LeserInnen in die Nähe dieser U-topie zu führen, sie freizusetzen.
Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere, auf die U-topie, zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.
Indem sich Celan z. B. "erlaubt", seine eigene Sprache zu sprechen, seine allereigensten Gefühle auszudrücken, schafft er eine Atmosphäre, in der die LeserInnen angeregt werden, auch ihre eigenen Gedanken und Gefühle bewußt zu leben.
Die auf den ersten Blick oft unverständliche Sprache drückt bei genauerer Betrachtung äußerst präzise das aus, was gemeint ist. Die häufigen Zitate versuchen darauf aufmerksam zu machen, daß die durch die FaschistInnen Ermordeten nicht mehr für sich selbst sprechen können. Durch die Zitate würdigt er die Besonderheit dieser Menschen und appelliert an die LeserInnen, sie nicht zu vergessen.
Celans Gedichte sind oft zunächst wie Rätsel, die sich nur erschließen lassen, wenn sie in Richtung auf vollkommene Anarchie - d. h. völlige HERRschaftsfreiheit auch der außermenschlichen Natur - betrachtet werden. Nicht nur die Menschen sind Opfer der Unterdrückungsmaschine "Staat", auch die Pflanzen, Tiere, ja sogar die Erde werden durch sie schamlos ausgebeutet. Die totale industrielle Verwertung und Vernichtung von Menschen durch Menschen wurde in den "Konzentrationslagern" der Nazis in deutscher Gründlichkeit vorgeführt. Selbst für die Knochen von Ermordeten fand sich noch Verwendung: z. B. für die "jüdische Skelettsammlung der Reichsuniversität Straßburg".
Angesichts der Greuel des Faschismus, der in den Krematorien verbrannten JüdInnen, die als Rauch ein unfreiwilliges Wundenmal in der Luft errichtet haben, führt Celan uns mehr als einmal zum wissenden Schweigen. Der Wiederaufbau-Geschäftigkeit der Nachkriegszeit stellt er sich und Dich (die LeserInnen) entgegen: Widerstand gegen leeres Phrasendreschen.
STEHEN, im Schatten
des Wundenmals in der Luft.
Für-niemand-und-nichts-Stehn.
Unerkannt,
für dich
allein.
Mit allem, was darin Raum hat,
auch ohne
Sprache.
Celans Spätwerk zeichnet sich durch immer kürzeren, engagierten, plakativen Stil aus. Er nimmt Stellung zu den damals aktuellen Atombombentests, indem er "den baumlosen Tag danach" skizziert. Die baumhohen Gedanken der MachtpolitikerInnen spielen nun wohl keine Rolle mehr. Die Strahlung, mit der sie gespielt haben, hat sie vernichtet. Bittere Ironie der Schluß des Gedichtes:
FADENSONNEN
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baumhoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.
Celans politische Lyrik wollte vor allem auch zum Handeln auffordern. So unterstützten seine Gedichte z. B. den Widerstand der revoltierenden StudentInnen in Paris 1968. Der Zuruf aus der Flüstertüte motiviert, ist Gefährte im Kampf. Angeregt durch die Lektüre, die die Handelnden frei gesetzt hat, kommt es zur Revolte. Die theoretische Grundlage, auf der die Revolte steht, ist "die Barrikade".
DER ÜBERKÜBELTE ZURUF
dein Gefährte, nennbar,
neben dem abgestoßenen Buchrand:
komm mit dem Leseschimmer,
es ist
die Barrikade.
Die Vielfalt der Formen des Ausdrucks von Widerstand und revolutionärer Energie, von Unzufriedenheit am althergebrachten, von Kritik an konkreten menschenverachtenden Projekten wurde durch Celans Art zu dichten wohltuend vermehrt. In seine Tradition stellt sich auch der Dichter folgender Zeilen.
Das Gedicht entstand kurz nach dem Störfall in Tschernobyl - und erschien als Flugblatt:
STRAHLEN-lyrik bahnt sich einen weg
trotz aller sicherheitsvorkehrungen
gemüter erhitzen sich
trotz funktionierender kühlaggregate
töne bilden sich
an ungeahnten stimmritzen
strömen aus
trotz kehldeckel
werden gestaltet und geformt
an schluck- und freßwerkzeugen
brechen sich bahn durch die lippen
schallen schließlich
ton-köpfen entgegen
und manchmal
selten
finden sie
gehör
Wandlyrik
Von Celan führt ein gerader Weg zur zeitgemäßen Lyrik der Gegenwart, die sich oft durch Kürze, treffenden Ausdruck und Aktualität auszeichnet. Darin liegt der besondere Reiz der allgegenwärtigen emanzipatorischen "Sprüchen an den Wänden", der "Wandlyrik".
Celan hat uns gezeigt, wie mensch in kürzester Form politische Inhalte übermitteln kann. Durch den jeweiligen Zusammenhang, in dem das Gedicht steht, wird deutlich, was gemeint ist.
Die anarchistischen DichterInnen von heute haben die Ästhetik der Kürze aufgegriffen. Je kürzer ein Gedicht, desto eher wird es in unserer schnellebigen Zeit gelesen, desto schneller ist es aber auch an eine Wand gesprüht (und bringt die KünstlerInnen nicht in die Gefahr, erwischt zu werden).
Die anarchistische, befreiende Dimension wird durch Elemente des Happenings häufig noch verstärkt. Lyrik wird gelebt!
Auch die Tatsache, daß Lyrik nicht mehr an das Medium Papier gebunden ist, inspiriert. Die Besonderheit des Kunstwerks wird so nicht nur durch die Sprache garantiert, sondern auch durch die Wand, an der das Gedicht steht. Phantasie befreit - immer noch:
Hau weg den Scheiß
ist ein häufig sehr aussagekräftiges Stück Poesie: So an der Mauer der Startbahn West, an unmenschlichen Wohnsilos, an US-Kasernen usw.
Auch der Satz: übermahlen zwecklos
oder: Kein Herz ohne Zeitbombe
drückt ein ganzes Lebensgefühl aus. Es zeigt den LeserInnen in ihrem Alltagstrott, daß da noch andere Leute sind, die mit dieser Welt nicht einverstanden sind und die trotz alledem Widerstand gegen diesen allgemeinen Wahn leisten. Für viele Massen-Menschen bleibt nach dem Lesen solcher Gedichte allerdings nur ein undefiniertes Unbehagen zurück: letztes Lebenszeichen ihrer verschütteten Individualität.
Mark Astral
Originaltext: http://www.anarchismus.de/afaz/afaz-nr2/lyrik.htm