Georg Glaser, ein vergessener Genosse und sein Buch „Geheimnis und Gewalt“
Bücher und Berichte über die Zeiten der Weimarer Republik gibt es viele. Besonders aus der Sicht der Herrschenden oder der Mittelschicht, die diese als „die goldenen Zwanziger Jahre“ verfälschend schönschreiben. Auch von proletarischer Seite gibt es einiges an Berichten über diese Zeit, oftmals mit lokalen oder regionalen Schwerpunkten. Doch haftet diesen Veröffentlichungen genauso oft der Beigeschmack sozialdemokratischer oder kommunistischer „Parteiwahrheiten“ an.
Ganz anders, und mit nichts mir Bekanntem zu vergleichen, ist hier das Buch von Georg Glaser „Geheimnis und Gewalt“.
Anders als bürgerliche Darstellungen, in denen die Arbeiterklasse nur als „Objekt“ vorkommt, als stumpfe Manövriermasse ohne Gesicht, sowie den sozialdemokratischen und kommunistischen Darstellungen, in denen der Klasse oftmals nur positive Eigenschaften zugeschrieben werden, sie nahezu ausschließlich als „Kollektiv“ auftritt und die einzelnen Menschen in ihm „versteckt“, zeigt Georg Glaser auf, wie es mit ziemlicher Sicherheit wirklich war. Um es vorwegzusagen: Als ich Georg Glaser „entdeckte“ war es, wie auf eine Offenbarung gestoßen zu sein. Sein Buch „Geheimnis und Gewalt“, eine Mischung aus Autobiographie und Erzählung schildert schonungslos und grundehrlich die Zeiten der 20er und 30er Jahre, die Gräuel des 2. Weltkrieges, das Morden und Sterben, das Leben im Exil, die Realität in den Lagern und schließlich die beginnende Nachkriegszeit aus der Sicht und Realität eines revolutionären Arbeiters.
In proletarischen Verhältnissen 1910 in Guntersblum, nahe Worms, geboren und aufgewachsen, wird er Zeuge väterlicher Gewalt gegen die Mutter und seine sieben Geschwister. Er entwickelt Hass gegen diesen Unterdrücker, dem er als kleiner Junge aber nicht viel entgegensetzen kann. Schließlich ist dies der Grund, das „Zuhause“ zu verlassen und für kurze Zeit als „Landstreicher“ durch die Region zu ziehen. Er landet in „Erziehungsanstalten“ und kommt dort in Kontakt mit kommunistischer und anarchistischer Literatur. Den Anarchosyndikalisten der SAJD (Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend) schließt er sich trotz inhaltlicher Übereinstimmung nicht an. Deren dominierende, zur Schau gestellte pazifistische Grundhaltung hält ihn davon ab. Das zerbrochene Gewehr ist nicht sein Ding. Und so wird er Mitglied der Kommunistischen Partei, sieht sich als „Soldat der Revolution“. Er arbeitet und agitiert in Metall-Betrieben, schreibt in der wenigen Freizeit Literatur (u.a. sein Buch „Schluckebier“), veröffentlicht in der „Linkskurve“ und wird Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“. Für KPD-Zeitungen wird er schließlich Gerichtsreporter. Er ist ein Beispiel dafür, welch Schaffenskraft, Kreativität, Aufrichtigkeit und Wille in den Menschen schlummert, die in der arbeitenden Klasse geboren sind, und die sich von diesen, durch den Kapitalismus und autoritäre Bevormundung auferlegten Schranken befreien. Und er steht auf der Straße, als Mitglied im Roten Frontkämpferbund. Im physischen Kampf gegen Polizei- und Nazigewalt gehört er nicht zu den Zimperlichen. Seine Genossen geben ihm den Spitznamen „Haueisen“. Sind andere bereits vor der Polizei geflüchtet; er steht noch da, deckt den Rückzug. Georg wird mehrere male verhaftet, schwer misshandelt und wegen „Landfriedensbruch“ zu Gefängnisstrafen verurteilt. Bei allen Beschreibungen der politischen Handlungen und Entwicklungen gibt er auch die harte soziale Realität dieser Zeit wieder. Armut, Hunger, Krankheiten, Prostitution. Die Beschreibung der Ermordung einer Hausbewohnerin durch fünf Soldaten, der am Ende des Geldes nichts anderes übrig bleibt als ihren Körper zu verkaufen, um ihre Familie zu ernähren, und von diesen zum Geschlechtsverkehr gezwungen wird, gehört zu den härtesten Eindrücken, die das Buch vermittelt. Glaser spricht mit tiefster Seele über diesen geschundenen Menschen.
Georg Glaser beteiligt sich an Ereignissen, die noch heute zum Erbe der Arbeiterbewegung gehören. So sind wir in der Lage, tiefer auf diese zu blicken, als es uns die reine Faktendarstellung erlaubt. Er beschreibt, was vor sich ging bei den Hungerdemonstrationen und Erwerbslosenmärschen, an denen sich Zehntausende beteiligen, als die KPD die putschistische Taktik eines Staatsstreiches entwickelt und wie sich die Straßenkämpfe mit der SA zugetragen haben.
Er beteiligt sich an den blutigen Kämpfen im Sommer 1932 in Worms. „Es kam zu keinem Kampf; es wurde ein Gemetzel.“ An diesem Tag gibt es zahlreiche tote und schwerverletzte Nazis.
Und er ist an einem der widerlichsten Kapitel der Geschichte der KPD beteiligt. Dem Verkehrsarbeiterstreik vom 3. bis 7. November 1932 in Berlin. Die KPD-hörige „Rote Gewerkschafts Opposition“ (RGO) hatte beschlossen, zusammen mit der betrieblichen Nazi-Formation „Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation“ in einen gemeinsamen Streik bei der BVG zu treten.
Er berichtet darüber, wie die Parteidisziplin sich gegen den eigenen Verstand durchsetzte: „Wenn ich an den Verlauf jenes letzten großen Streiks auf deutschem Boden denke, dann erfassen mich Scham, tiefe Scham und Trauer; in jenen Tagen setzten Hunderttausende ihren Glauben und ihren Gehorsam gegen alles bessere Wissen und alle düsteren Vorahnungen. Wie blind und unerschütterlich war unser Glaube, und wie groß das Vertrauen, das unseren Gehorsam begründete, um eine Arbeit vollbringen zu können, von der wir selbst jede Minute spürten, wie schmutzig und unehrlich sie war.“
Seine Zweifel an der Partei wachsen, doch er bleibt weiterhin in ihr, getrieben von der Notwendigkeit des Zusammenhaltens in diesen lebensgefährlichen Zeiten. Er übernimmt Aufgaben, die täglich gefährlicher werden. Mit der Machtübergabe an die Nazis im Januar 1933 wird die KPD illegalisiert. In ihrer Fehleinschätzung, dass die Nazi-Diktatur nur eine kurze Zeitspanne dauern würde, verlegt sie sich darauf, weiterhin Propaganda in Betrieben und Städten zu betreiben um, so der Gedankengang, gestärkt aus der Illegalität hervorzutreten. Georg wird zu einer Propagandaaktion eingeteilt. Wenige Tage nach Hitlers Machtantritt soll er in Worms zusammen mit wenigen weiteren Genossen eine Zeitung an Metallarbeiter verkaufen! Er schreibt: „Die Stahlwerke hatten fünftausend Arbeiter, die Zeitung war in einer Auflage von hundert Abzügen hergestellt worden. Ihr Inhalt war hahnebüchener Unsinn. Und dafür konnten wir alle umkommen.“ Und er führt aus, wie er sich fühlte und was die Stimmung unter den Arbeitern war: „Es wurde uns befohlen, von denselben Arbeitern, die seit vielen Jahren endlich wieder ein Werkzeug zur Hand nehmen durften, den „Streik gegen die Handlanger der Ausbeuter“ zu fordern. Gleichzeitig jedoch wurde uns gesagt, die Ängstlichen und Eingeschüchterten mit Abwartelosungen zu trösten: `Wir sind die Erben des kommenden Zerfalls der Hitlerbewegung.` Aber Scham und Wut überwältigten uns, als uns geboten wurde, diese Losungen, die sich so wenig mit der wirklichen Verfassung der Menge vermählten wie Wassertropfen mit Öl und die immer nur störende Fremdworte sein konnten, zu verkaufen, schwarz auf weiß zu verkaufen.“ Und weiter: „Warum das alles? Warum sich wie Narren draufgehen lassen, wofür? Für Losungen, für die Linie, für das Programm?“
Natürlich bleibt die Verkaufsaktion nicht unbemerkt. Und einer der anwesenden, ein ranghoher SA-Mann erkennt Georg, mit welchem er schon zuvor öfters auf Leben und Tod zu kämpfen hatte. Georg bleibt nichts, als seine Waffe zu ziehen: „Ich wusste was mich im Falle einer Verhaftung erwartete: er hätte mich endgültig getötet. Aber noch nie hatte ich mich ergeben, nie, meine Angst war zu furchtbar.“ Er erschießt den Nazi-Schergen („Ich traf ihn mit der ersten Kugel, aber ich schoß weiter. Ich flehte inbrünstig, daß meine Geschosse zu Hämmern werden möchten, die ihn zermalmten, in die Erde stampften…“) und muss aus Deutschland fliehen. Gesucht von Polizei und Nazis kommt er ins unabhängige Saarland. Die erste Frage, die ihm dort - genauso wie allen anderen Flüchtlingen – von den Verbindungsleuten der KPD gestellt wird, ist: “Genosse, hast du die Erlaubnis oder den Befehl von deiner Bezirksleitung, nach hier zu kommen?“.
Weitestgehend auf sich alleine gestellt geht die Flucht weiter, denn das Saarland stimmt bald darauf für den Anschluss an das „Reich“. Glaser flieht nach Frankreich, gelangt schließlich in die Normandie und findet nach entbehrungsreichen Monaten eine Festanstellung in einer Werkstatt der französischen Bahn. Er verliebt sich dort in eine Frau und heiratet. Er erhält die französische Staatsbürgerschaft, ist nun kein Flüchtling mehr, doch die Freude darüber ist kurz. Deutschland erklärt Frankreich den Krieg, und Glaser wird zur französischen Armee einberufen. Der Nationalismus der Franzosen in der Armee, die in ihm einen „Deutschen“ sehen, macht ihm den Alltag an der Front zur Hölle. Nach einem Gefecht wird er von deutscher Wehrmacht aufgegriffen. Seine französischen Sprachkenntnisse retten ihm das Leben, er wird nicht als „Deutscher“ erkannt und in verschiedene deutsche Arbeitslager verschleppt. Die Beschreibung der Menschen dort, ihrer Misshandlungen, ihrer Leiden, ihrer oftmals zerstörten Hoffnungen, ihrer Ahnungen, diese Hölle nie wieder lebendig verlassen zu können, die vernichtende, schindende Zwangsarbeit, fasst Glaser mit solch bitteren Worten zusammen, die wohl nur jemand so treffend finden kann, der diese Höllen selber durchstehen musste und sich dabei seinen Herzenswunsch nach einer befreiten Menschheit bewahren konnte.
„Meine Augen waren bald darin geübt, die Gebrandmarkten zu erkennen. Sie gingen einher, frühzeitig gealtert, immer auf der Hut, sich stets verfolgt wissend, und retteten ihre Ehre mit der einzigen Tat, die sie ihrer Angst Tag für Tag abkämpften, und die allein ihnen möglich war: der Treue zu dem großen Traum ihres Lebens, des Lebens alter Gewerkschafter, ehemaliger Weltkriegssoldaten; dem Traum der weltumspannenden Verbrüderung aller Ausgebeuteten. Sie halfen den Gefangenen und Zwangsarbeitern mit heimlich zugesteckten Broten und Früchten, die sie sich vom Munde absparen mussten, flüsterten, wechselten vielsagende Zwinkerblicke und waren freundlich und hilfsbereit zu den Fremden, die ihnen meist wenig Dank dafür wussten, weil keiner, keiner das Wagnis schätzen konnte, das sich noch hinter der einfachsten dieser Gebärden verbarg.“
Und Glaser beschreibt seine Gedanken über den Nationalsozialismus, über die Mörder und die Begeisterung der Massen für die Nazis. „Und das Volk erhob sich und ging weiter auf dem Weg durch die Wüste, etliche freiwillig und begeistert, etliche, weil sie leichter auf einen Befehl hin starben als auf eigenen Entschluss…Abseits und zurück blieben die Geächteten mit ihren Beweisen, wie mit Schlüsseln, zu denen die Türen fehlen.“
„Die Neue Zeit kam schweigend und unsichtbar. Wahrzunehmen war nur die Leere, die jeder ihrer Schritte hinter sich ließ. Man fand Tote in den umgebenden Waldungen, von denen niemand etwas zu wissen wagte. Lautlos verschwanden Leute, und ihre besten Freunde hatten nicht den Mut, nach ihrem Verbleib zu fragen.“
„Aus den Mördern der nächtlichen Straßenecken waren die verbrämten Vollstrecker des öffentlichen Armes geworden, die durch ihr grausames Handwerk so an den Tod der anderen gewöhnt waren, daß sie mit versteinerten Zügen durch die Lebenden gingen…Vor ihren Gesichtern, die keine Blöße boten, ergriff mich ein Gefühl der Ohnmacht. Sie waren unerschütterliche, unverletzbare, bewaffnete Verkünder. Sie waren nur gegen wirkliche Kugeln nicht gefeit. Wie groß war die Versuchung zu glauben, daß nur ihre Ausrottung in unzähligen Schlachten sie aus der Welt schaffen konnte; so sehr fordert der Mord den Mord heraus.“ Alle in den Widerstand in Deutschland gesetzten Hoffnungen erfüllen sich nicht. Das deutsche Volk erhob sich nicht. Georg Glaser schreibt: „Da es unmöglich war, den gehassten Feind aus dem Hause zu verjagen, wollte ich es verlassen und mich auf die Seite derer schlagen, die sich anschickten, es zu umstellen und in Brand zu setzen. Es gab keinen anderen Weg, das Böse ganz sicher aus der Welt zu tilgen.“ Nach mehreren erfolglosen Versuchen gelingt ihm schließlich doch, verletzt und mit den Kräften nahezu am Ende, die Flucht aus dem Arbeitslager. Zuvor wurde er aber Zeuge einer „furchtbaren Wahrheit“. „In einem oder mehreren Schutzhaftlagern hatten die Genossen der Partei die Verwaltung übernommen und den so erworbenen Einfluß benutzt, um an Stelle ihrer Gesinnungsgenossen, die für die Gaskammern vorbestimmt worden waren, Juden oder Mitglieder anderer Parteien und Bewegungen in den Tod zu schicken. Sie verrichteten die furchtbare Arbeit der Mörder, nicht um ihre eigene Haut, sondern um die Sache, deren einzige Träger sie waren, in die Zukunft zu retten…Es gab jedoch eine Grenze, über die hinaus ein Mensch den Mut haben musste, jeden weiteren Handel abzulehnen, weil von da ab eine höhere Sache um einer minderen willen in Gefahr geriet.“
Auf seiner Flucht vor Nazis und Polizei gelangt er schließlich wieder in die Nähe von Worms. Er trifft dort auf alte Weggefährten und gemeinsam verstecken sie sich unter harten Entbehrungen „ein Jahr und einen Monat lang“ unter dem Schutt zusammengebombter Häuser bis endlich der Tag der Befreiung kommt. Glaser geht zurück nach Frankreich. Er bricht endgültig mit dem Parteikommunismus, als er in Paris, in der Autowerkstatt von Renault von einem französischen Arbeitskollegen, Mitglied der patriotischen KP, als „Drecksdeutscher“ beschimpft wird. Er schlägt ihn in der Fertigungshalle zusammen. Bei Renault kommt er auch wieder in Kontakt mit den organisierten Anarchosyndikalisten, den „Anars“, wie er sie nennt und die dort ein Gewerkschaftsbüro unterhalten. Er besucht Versammlungen verschiedener anarchistischer Gruppen in der französischen Hauptstadt und wird schließlich Mitglied der „Anarchistischen Föderation.“ Sein zweites umfassendes Werk „Jenseits der Grenzen“ gibt darüber weitere Auskunft.
In Paris wird Georg Glaser Sesshaft. Er trifft Anne und die beiden verlieben sich. Bis zu seinem Tod im Januar 1995 arbeiten sie gemeinsam in einer kleinen Silber und Kupfer-Werkstatt.
Georg Glaser war ein zu tiefst empfindender Mensch, der das in den bürgerlichen und auch in linken Kreisen gepflegte Vorurteil widerlegt, dass Kämpfer keinen Tiefgang haben. Ganz im Gegenteil offenbart er uns durch das Zusammenspiel seiner Erfahrungen und Einsichten das Ganze des Menschen.
Er beschönigt nichts an der Lebensrealität der arbeitenden Klasse, er romantisiert nicht. Und er geht, sich selbst und seine Umwelt fragend, voran.
In der Grabrede seiner Pariser GenossInnen fasst Gérard Laballe dies in den folgenden Worten zusammen: „Ein wirklicher Anarchist auf der Suche nach einer Definition des Menschen, des verantwortungsvollen, freien Menschen“.
Leider ist Georg Glaser heute in der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung Deutschlands nahezu unbekannt. Vielleicht hilft dieser kurze Artikel dabei, das Interesse an ihm zu wecken. Seine Bücher sind wahre Fundgruben an Geist und Motivation für alle Menschen, die in Zwangsmaßnahmen stehen, für Mädchen und Jungen, die unter der Gewalt von Eltern leiden, für Gefangene in den Knästen. Es sind Bücher für Arbeiterinnen und Arbeiter, Frauen und Männer, Bücher für die Revolution und die Liebe zum selbstbestimmten, freien Menschen.
Martin Veith
Originaltext: http://syndikalismus.wordpress.com/2009/10/20/georg-glaser-ein-vergessener-genosse-und-sein-buch-%E2%80%9Egeheimnis-und-gewalt%E2%80%9C/