Neue Gemeinplätze. Bewegung, Organisierung und linke Intervention
Von breiten Bündnissen getragene Großmobilisierungen sind immer ein Anlass, perspektivische Fragen nach dem Stand der sozialen Bewegungen und ihrer politischen Linken aufzuwerfen und die Antworten auf diese Fragen neu zu diskutieren. (1) Die Mobilisierung nach Heiligendamm ist die Gelegenheit für einen Rückblick auf den letzten G8-Gipfel in Deutschland, der 1999 in Köln stattfand. Und sie gibt Raum für eine Zwischenbilanz der Bewegungen, die sich seitdem als "globalisierungskritische Bewegungen" bezeichnen.
Nur wenige Monate nach der enttäuschenden Kölner Mobilisierung kam es zu den Demonstrationen von Seattle, die in Prag (2000), in Göteborg und Genua (2001), in Florenz (2002), in Evian (2003), im Prozess der Europäischen Sozialforen (Paris 2003, London 2004, Athen 2006) und der von mehreren Millionen getragenen globalen Antikriegstage (2003, 2004) ein anhaltendes, wenn auch nicht gleichmäßig starkes Echo hatten. Die mit den Sozialforen verbundene "Internationale von Porto Alegre" artikulierte sich als weltumspannende politische Akteurin. In Deutschland fanden am 1. November 2003 sowie am 3. April und am 2. Oktober 2004 Großdemonstrationen und im Sommer 2004 wochenlange Hartz-IV-Proteste statt. Unvollständig wäre diese Liste allerdings, fehlte das Datum, das verbietet, hier in einer geraden Linie zu denken: der 11. September 2001, der offizielle Beginn des "Kriegs gegen den Terror".
Von Köln nach Seattle und ...
Am Anfang der Mobilisierungen zum Kölner G8-Gipfel 1999 glaubten viele an einen Neuanfang sozialer Bewegung. Die Abwahl der Kohl-Regierung (1998) schien nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus das Ende des "alternativlosen Jahrzehnts" zu markieren. Natürlich machte sich damals kaum jemand Illusionen über die rot-grüne Koalition: Längst war klar, dass sie die postfordistische Transformation des Kapitalismus nicht einmal im Ansatz in Frage stellen würde. Dennoch schien das Ende der "Ära Kohl", der Regierungswechsel von Thatcher zu Blair in Großbritannien und der Wechsel von der bürgerlich zur sozialistisch dominierten Cohabitation in Paris (beide 1997) einen Umbruch anzuzeigen.
Das Scheitern der Kölner Mobilisierung hatte dann auch verschiedene Gründe: Zum einen kam Köln schlicht zu früh. Was manche damals erhofften, wurde erst in Seattle zum weltweiten Ereignis. Zum anderen steht Köln für ein Problem, das für die globalisierungskritischen Bewegungen und ihre Linke auch heute noch existiert. Der damalige Knick in der Mobilisierung folgte der Beteiligung der rot-grünen Koalition am imperial(istisch)en Kosovokrieg (März-Juni 1999). Insofern nahm Köln vorweg, was auch in Florenz, diesmal nach dem 11. September, nach dem Angriff auf Afghanistan (Oktober 2001) und in Erwartung des Angriffs auf den Irak (März 2003) offensichtlich wurde: dass die Herausbildung einer sozialen Opposition gegen die kapitalistische Globalisierung mit der Herausbildung einer Opposition zum globalen imperial(istisch)en Krieg zusammenfallen muss.
Die Bewegung der Bewegungen
Markiert Seattle das Ende des "alternativlosen Jahrzehnts", wurde dort auch sichtbar, dass Gegenwehr vorher schon geleistet worden war: "In diesem Jahrzehnt gab es die Arbeiterkämpfe, die die großen Automobilfabriken in Korea in Brand gesetzt haben, den Widerstand gegen die multinationalen Konzerne in Nigeria, die Kämpfe der Landlosenbewegung in Brasilien, den Widerstand in Los Angeles oder den im zapatistischen Chiapas. Zum Verständnis der Alchimie, die die großen proletarischen Revolten kennzeichnet, lohnt es sich, in Erinnerung zu rufen, dass das Jahr 1994 sowohl das Jahr des zapatistischen Aufstandes als auch das Jahr mit der weltweit höchsten Anzahl von Generalstreiks im 20. Jahrhundert war." (2)
Die Eigenart der globalisierungskritischen Bewegungen lässt sich seither an drei konstitutiven Momenten ausweisen: ihrem Internationalismus, ihrem Pluralismus und daraus folgend dem Umstand, dass sie von der sozialistischen, kommunistischen wie der antikolonial-antiimperialistischen Tradition des 20. Jahrhunderts durch einen Bruch getrennt waren und sind. Alternativlos waren die 1990er Jahre, weil mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus jede antikapitalistische Alternative gescheitert schien. Das lag nicht nur am neoliberalen Trommelfeuer.
Zentrale Annahmen der marxistisch-leninistischen wie der sozialdemokratischen Traditionen waren definitiv nicht mehr zu halten: die Vorstellung einer stufenförmig aufsteigenden, notwendigen Entwicklung der Geschichte, eines einheitlichen revolutionären Subjekts und seiner Verkörperung in der einen Partei und ihrer "Wissenschaft"; die Vorstellung von Reform und/oder Revolution als gebunden an die "Eroberung der Staatsmacht" und von der Internationalisierung von Reform wie Revolution auf dem Weg "nachholender Entwicklung".
Klar wurde aber auch, dass die sich von der Arbeiterbewegung emanzipierenden Neuen Sozialen Bewegungen und ihre "alternativen" bzw. "autonomen" Linken der 1960er bis 1980er Jahre erst die Abkehr von Marxismus-Leninismus und Sozialdemokratie, nicht aber schon die Lösung ihrer Aporien erreicht hatten. Dieser Ent-Täuschung setzten die "altermondialistischen" Bewegungen einen Pluralismus, dessen gemeinsamer Nenner die Wiedereroberung der Möglichkeit überhaupt einer "anderen Welt" war, und einen Internationalismus, dessen Koordinaten nicht mehr die West-Ost-Konfrontation, sondern der Nord-Süd-Zusammenhang, die Globalisierung selbst sind, entgegen.
Der "Krieg gegen den Terror" als vorauseilende Konterrevolution der imperialen governance stellte die "Bewegung der Bewegungen" dann allerdings auf eine erst noch zu bestehende Probe: Wie verhält sich ihr Internationalismus zur Globalität des Empire, vorausgesetzt dass dessen innere Widersprüche auch solche der Bewegungen sind oder werden können? Sind die globalen, kontinentalen, nationalen, regionalen und lokalen Sozialforen wirklich schon die Modelle einer freien Kommunikation und Koordination pluraler Kämpfe und ihrer Subjektivitäten? Genügt es, fragend voran zu schreiten, um eine (welt-)gesellschaftliche Alternative zum globalen Kapitalismus zu entwickeln, die kein eines Subjekt, keine eine Partei und eben deshalb auch keinen "Hauptwiderspruch" und keine Hauptstraße mehr kennen wird?
Die dunkle Seite der Multituden
Der Erfolg von Hardt/Negris Empire (2000 im englischen Original und 2002 auf deutsch erschienen) liegt auch darin, in solcher Lage begriffliche Haltepunkte gesetzt zu haben, die zwar unbestreitbar vage und schillernd, zugleich aber von bleibender Evidenz sind. Die Globalisierung? Das globale Imperium trotz des Anspruchs auf Weltordnung von Konkurrenzen durchzogen: zwischen der "cäsarischen" Gewalt der USA und seinen nur in letzter Instanz "willigen" Aristokratien, also der EU, Russlands, Chinas, Indiens und, nicht zu vergessen, der großen transnationalen Kapitale.
Die Multitude? Nach ihrer "generativen", kreativen Seite: die Bewegung der Bewegungen selbst als Menge aller Mengen ohne Subjekt und Partei. Dazu gehören nicht nur explizit politische, sondern auch originär soziale Bewegungen, voran die der Migration. Nach ihrer "korruptiven", von der Spontaneität der Menge zumindest tendenziell, oft schon vollends abgespaltenen Seite: die "plebejischen" Mächte des Empire, voran die NGOs, Parteien, Gewerkschaften und Parteien der traditionellen Linken, ein Teil der internationalen Organisationen des UNO-Komplexes, die subalternen Staaten. Ein Antagonismus (Empire versus Multitude), der trotz aller Unterschiede an den "alten" Antagonismus (Imperialismen versus Weltproletariat und antiimperialistische Befreiungsbewegungen) anschließt, mit einer institutionellen Grauzone, die zugleich dem Empire und den Multituden angehört und sich augenblicklich vor allem in den "linken" Staaten Lateinamerikas verdichtet. (3)
Aber stimmt das Bild überhaupt, selbst wenn man es nur als grobe Skizze nimmt? Nicht ganz. Denn es fehlt, was als dunkle Seite der Multituden, aber auch als verwilderte Mächte des Empire bezeichnet werden kann. Dazu gehören der irakische und afghanische "Widerstand" und die mit ihm unmittelbar und mittelbar verbundenen sozialen, ökonomischen und politischen Kräfte (zum Beispiel der Iran mitsamt den freundlichen Beziehungen zu Venezuela). Dazu gehören die untereinander allerdings nicht umstandslos vergleichbaren "Aufständischen" und "Rebellen" vieler bewaffneter Konflikte vor allem in Afrika und Asien und die zahllosen Akteure der Gewalt, die den Alltag der peripheren Elendsmetropolen und -territorien längst zum sozialen Krieg haben werden lassen. Es sind diese mehr als beunruhigenden Mächte, die dem Empire und seiner - ich nehme den Teil fürs Ganze - Operation Enduring Freedom tagtäglich neu Grenzen setzen: de facto wirksamere Grenzen als die, die ihm in den globalen Antikriegstagen gezogen wurden.
Dazu gehören allerdings auch die nördlichen Entsprechungen des nihilistisch-"postpolitischen" Syndroms des Südens, nicht weniger dunkel und kaum weniger verwildert: die Nationalismen und Rassismen der europäischen und nordamerikanischen Rechten und deren nicht immer nur stilles Reservoir in der alle subalternen und mittleren Klassen durchziehenden "Politikverdrossenheit". (4) Setzt man diese eher düsteren Perspektiven - die sich übrigens zwanglos ins Kalkül der imperialen governance fügen und dort längst in Rechnung gestellt sind - mit dem ins Verhältnis, was sich als "ökologische Katastrophe" nicht mehr nur andeutet, drängen sich apokalyptische Überlegungen auf. Doch tut, wer an die Apokalypse rührt, gut daran, an die nächsten Schritte zu denken, um bleibende Handlungsoptionen abzuschätzen.
Bewegung und - ja doch: Partei und Staat
So wenig der radikale Bruch zwischen den sozialen Bewegungen und politischen Kämpfen des 20. und des 21. Jahrhunderts geleugnet werden kann, so wenig darf er verabsolutiert werden. Das gilt selbst für den Kern der Differenz, die Frage nach Subjekt, Partei und Staat. Neben den aktuellen lateinamerikanischen Staatsregierungen wäre hier noch von den postsozialistischen oder -kommunistischen Parteien, die allesamt auf Staatsmacht zielen, zu reden.
Ihre wachsende Bedeutung zeigt sich auch und gerade in Europa, wo es in fast jedem Land eine Rifondazione-Partei gibt. In Genua und Florenz nahm sich das harmonisch aus. Bewegung und Partei zogen an einem Strang, die Massen jubelten Fausto Bertinotti zu. Und das zu recht: Fand er doch deutlichere und klarere Worte als die "Bewegungsprominenten".
Die Florentiner Festtagsstimmung ist vorbei, Altes und Neues treten wieder scharf auseinander. Daraus folgt zweierlei. Ad 1: Es wird weiterhin linke Parteien und deshalb auch linke Regierungen und "linke" Nationalstaaten geben. Es ist erfreulich, ja sogar wünschenswert, dass es so etwas gibt. Ad 2: Es gibt kein Zurück hinter den Pluralismus der Bewegungen und Subjektivitäten, kein Zurück zur Unterordnung der Bewegungen unter Staat und Partei. Letztere sind besondere Medien der sozialen und politischen Kämpfe, doch nur ein Medium unter anderen und definitiv nicht das wichtigste. Hinfällig wird damit die prinzipielle Ablehnung beider: Eine jede Ablehnung wird konkret, d.h. im Einzelfall zu begründen, oder sie wird Anarchismus, d.h. eine ideologische Position im negativen Sinn des Worts, sein. Am ferneren Ziel eines "Absterben des Staats" wird deshalb weiter zu arbeiten sein, und zwar nirgendwo anders als im Hier und Jetzt der Kämpfe. Nur war das, Hand aufs Herz, im Prinzip immer schon Konsens. Der Ton macht die Musik.
Und Action: Heiligendamm und weiter
Um mit den deutschen Zuständen und speziell mit denen der radikalen, also parteifernen Linken abzuschließen: Hier müssen Debatten nicht mehr geführt werden, die noch vor kurzem einige Mühe kosteten. Die Antideutschtümelei ist zum Kuriosum geworden, das kaum der Kritik mehr bedarf, selbst wenn es in Antifa-Kreisen wirkungsmächtig bleibt: eine auslaufende Serie.
Dafür gibt es eine Interventionistische Linke, die ihre Position in mehrfacher Hinsicht noch verdeutlichen wird. (5) Einmal natürlich hinsichtlich der Sache selbst: der Wiedergewinnung einer aktivistischen und, traditionell gesprochen, "massenpolitisch" ausgerichteten strategischen Konzeption linken Handelns. Hier bleibt noch einiges zu klären: im Hinblick auf den Verlust einer solchen Konzeption (spätestens) seit den 1990er Jahren und auf das, was "postautonome Organisationsfrage" genannt werden kann. Dabei wird es um das Verhältnis zu den Bewegungen gehen (die als solche nicht notwendig links und schon gar nicht linksradikal sind), um das zur Partei (die hier wohl Die Linke heißen und kaum weniger problematisch sein wird als das, was aus der italienischen Rifondazione geworden ist) und um das Verhältnis zu sich selbst.
Denn was wird eine radikale Linke werden, die unter der Zukunft der Kämpfe nicht mehr die Verallgemeinerung ihrer eigenen Linksradikalität versteht, weil sie weiß, dass der Pluralismus der Kämpfe und Subjektivitäten jeder Vereinheitlichung widersteht, auch einer "linksradikalen"? Und was aus einer radikalen Linken, die auf die globalen Multituden setzt und eben deshalb ein Verhältnis zu deren dunkler Seite gewinnen muss, das nicht mehr "antiimperialistisch" sein kann und doch nie "weiß" werden darf, in welcher Fassung des "Kampfs der Kulturen" auch immer?
Auch darum geht es in Heiligendamm, und darum wird es erst recht nach Heiligendamm gehen, wenn die Alltagstauglichkeit linker Interventionen (wieder) zum Brennpunkt wird, global und lokal. Ein Beispiel nur, zum Abschluss und zum Weiterdenken: So vielversprechend "Agenturschluss" und "Euromayday" sein mögen, so unverbunden blieben beide mit den Protesten der Studierenden - und mit den seit Jahrzehnten ersten politischen Streiks in der BRD, an denen sich im Januar diesen Jahres bis zu 250.000 Leute beteiligten. Wie gesagt: ein Beispiel nur.
Von Thomas Seibert
Fußnoten:
(1) Vgl. Kein Gipfelsturm, Graswurzelrevolution 241/1999; Thomas Seibert: The People of Genova. Plädoyer für eine post-avantgardistische Linke. In: BUKO (Hg.): radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke. Berlin 2003 sowie zusammen mit Werner Rätz: Fünfzehn Thesen zur vorläufigen Beantwortung der Frage, wie man in nahezu aussichtsloser Lage wenigstens eine andere Richtung einschlägt. In: Andreas Exner/Judith Sauer u.a.: Losarbeiten - Arbeitslos, Globalisierungskritik und die Krise der Arbeitsgesellschaft. Münster 2005.
(2) Gemeinsame Orte. Bewegung, Organisierung, Untersuchung: ein Vorschlag von DeriveApprodi. In: ak - analyse und kritik, Nr. 481. Der italienische Titel des Texts lautet luoghi comuni und meint nicht "Gemeinsame Orte", sondern "Gemeinplätze"!
(3) Zu "Korruption" und "Generation" als den Grenzmarken im Antagonismus von Multitude und imperialer governance vgl. Antonio Negri/Michael Hardt: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/New York 2002, S. 377ff.
(4) Die Nord-Süd-Differenz ist hier wie anderswo nur provisorisch und löst sich in dem Maß auf, wie sich "Norden" im Süden und "Süden" im Norden ausbreiten.
(5) Bis auf weiteres zu erreichen unter: www.g8-2007.de
Aus: Arranca 36
Originaltext: http://arranca.org/ausgabe/36/neue-gemeinplaetze