Der Eindruck besteht, dass allerorten kritische Einstellungen beim Bürger zu finden sind. Er ist gegen Atomkraft, gegen die Umweltzerstörung, gegen globale Erwärmung, er ist für den Frieden und gegen den Krieg, er bemerkt den mangelnden Tierschutz oder kämpft gegen Bauprojekte wie „Stuttgart 21“. Heißt das nicht Freiheit, stets seine Meinung sagen zu dürfen und Kritik zu äußern, so ungehindert, wie es einem gefällt? Kann man in einer Demokratie nicht demonstrieren, Petitionen schreiben und öffentlich gegen ein bestimmtes Thema sprechen?

Der Wunsch, diese oben genannten Themen kritisch anzugehen, ist nicht zu verurteilen. Das viel gefühlte Wohlbehagen über so viel angebliche Freiheit weckt trotzdem den Verdacht, nur vordergründig zu sein. Die Politik und die Medien setzen sich mit diesen Themen genauso auseinander, wie Aufforderungen zum Umweltschutz Teil des regulären Schulstoffs geworden sind. Das macht stutzig. Man fragt sich: Warum werden diese Themen von einem Staat dankbar aufgegriffen? Warum streiten Politiker in Talkshows darüber, warum berichten die Medien so viel, warum wird auf Anweisung der Lehrpläne in Schulen über sie diskutiert? Die gleichen Ministerpräsidenten, deren Bildungsminister einen Streitpunkt wie beispielsweise „Ausstieg aus der Kernkraft“ in den Klassenzimmern kräftig diskutieren lassen, hätten die Macht Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen.


Die eine Antwort auf die Frage lautet: Diese Themen werden gesellschaftlich sehr ernst genommen, weshalb sie ständig diskutiert werden. Man könnte aber auch eine zweite, skeptischere Behauptung aufstellen, nämlich die, dass diese von der Allgemeinheit diskutierten „heißen Eisen“ die Rolle spielen, die der Hofnarr in mittelalterlicher Zeit gegenüber dem König gespielt hat. Nichts - könnte man denken - war für das Ansehen eines Königs bedrohlicher als einen Hofnarren zu halten, der ihn. wo möglich. durch den Kakao zog. Trotzdem kam kein Hof, der etwas auf sich hielt, ohne einen solchen aus. Die Frage, warum ein König es willentlich zuließ, dass seine Autorität von jemandem vor aller Augen geschmälert wurde, ja diesen dafür noch gut bezahlte, ist einfach zu beantworten: Es war wichtig den Höflingen eine Möglichkeit zu geben, mental etwas Dampf abzulassen, immerhin lebten sie in einer Umgebung, die vom minutiösen Protokoll und einem engen Regelkorsett bestimmt war. Der Hofnarr konnte sagen, was anderen verboten war. Damit vervollständigte er die höfische Welt und repräsentierte indirekt die Macht des Königs. Denn dieser war offensichtlich so mächtig, dass er auch die Kritik an sich ertrug und sogar die Kosten dafür übernahm. Der Herrscher trug durchaus einen Gewinn davon. Die Scherze des Komödianten sowie das Gelächter der Zuhörer stifteten gewissermaßen erst die höfische Gemeinschaft. Besser man lachte zusammen über das Hofleben, als dass man geheim in dunklen Kammern darüber lästerte.
 
So ähnlich funktioniert die Kritik in der modernen Gesellschaft1. Der Staat lässt bestimmte Kritikpunkte zu, um die sich die Unzufriedenen scharen dürfen. Gleichzeitig verbindet die gemeinsame Sorge Menschen, die sonst womöglich ganz eigenen Ideen folgen würden. Damit demonstriert der Staat seine Macht und sichert seine eigene Existenz, indem er es so einrichtet, dass sich die Unzufriedenen an etwas abmühen dürfen und Kritik nur die Wege geht, die er vorzeichnet. Denn nicht alles soll bemängelt werden. Es geht darum, dass die Menschen nur die Teile der Wirklichkeit kritisch hinterfragen, die sie sollen. Wichtiger ist eben, sie darauf zu drillen, was sie nicht mit wachen Verstand attackieren dürfen. Darunter zu nennen wäre das Wirtschaftssystem, das politische System, das Verwaltungssystem, das schulische Leistungssystem usw.

Die Medienshow um die gesellschaftlich akzeptieren Kritik-Themen beschwört am liebsten den Weltuntergang. Vom dritten Weltkrieg bis zur globalen Erwärmung kann das apokalyptische Spektakel dabei gar nicht groß genug sein. In den 70ern hieß es, eine neue Eiszeit würde durch die Überindustrialisierung bevorstehen, seit 2000 heißt es, es würde aus gleichen Gründen zur globalen Erwärmung kommen, Afrika würde innerhalb von zehn Jahren eine große Wüste werden und Millionen von Menschen würden heimatlos umherziehen. 1973  war es die Ölkrise, während der prognostiziert wurde, dass innerhalb von zehn Jahren kein Öl mehr vorhanden sei und der Westen in ein Chaos stürzen würde. Zumindest das „Waldsterben“, das durch die Nachrichtenwelt der 80er Jahre getrieben wurde, stellte sich als bloßer Wissenschaftsirrtum heraus, der von den Medien aufgebläht wurde (2).

Das Risiko für die Gesellschaft, bestimmte kritische Themen im öffentlichen Diskurs zuzulassen, ist gering. Selbst wenn sich die Kritiker durchsetzten, dann würde von Atomstrom auf andere Arten von Kraftwerken umgeleitet werden, der Tierschutz würde erhöht werden, es würden weniger Wale oder Robben sterben, ein Tempolimit würde eingeführt und der Umweltschutz verbessert werden. Die kritischen Themen, die in der modernen Gesellschaft diskutiert werden, sind quasi risikolos für die bestehenden Verhältnisse.

Der kritische Bürger konzentriert seine ganze „negative“ Energie auf diese vordergründigen Themen. Solange die Menschen diese attackieren, wenden sie ihre Aufmerksamkeit weniger auf andere Verhältnisse, die viel eher der Kritik bedürfen. Diese anderen Dinge, die nicht überdacht werden sollen, sind viel riskanter für die Gesellschaft als ein Thema wie „globale Erwärmung“, das zu Filtern und Katalysatoren führt und einigen aufsteigenden (aber zu wenig Umwelttechnik besitzenden), wirtschaftlich prosperierenden Ländern wie Brasilien den Anschluss an die Industrienationen erschwert.

Was sind zum Beispiel die gesellschaftlich unangenehmeren Themen? Da gibt es viele: Das ganze Wirtschafts- und Verwaltungssystem beispielsweise. Denn für diese gilt, dass die Menschen jede Willkür im demokratischen Alltag akzeptieren und das Leben sehr verändernde Dinge mit unglaublichem Gleichmut hinnehmen sollen. Und das, obwohl es sie direkt betrifft. Das kann die Heraufsetzung des Rentenalters auf 67 sein, die ganze Macht, die der Wirtschaft über das Leben des Bürgers eingeräumt wird, wie viel Werbung ins Auge gepresst wird, wenn man den Fernseher einschaltet, was und wie in der Schule gelernt wird, welche Gebühren man zu zahlen hat, wie sich die medizinische Versorgung gestaltet usw.

Der Bürger soll seine eigene Lebenswelt nicht kritisch hinterfragen. Natürlich darf er darüber „meckern“, dass er 50 Euro zahlen muss, wenn er sich einen neuen Reisepass ausstellen lässt, aber es darf nicht zu der kritischen Einstellung gelangen, die in ihm den Wunsch weckt, die bestehende Realität zu ändern. Jeder Bürger darf eine Meinung haben, solange er spurt. Denn Meinungen ändern nichts. Die Menschen müssen regierbar bleiben. Personen aber, die ihre eigene Lebenswirklichkeit kontrollieren wollen, anstatt dass sie von der Politik, Verwaltung oder Wirtschaft gestaltet wird, sind für die Gesellschaft riskant; also Leute, die sagen: „Wer bist du ‚Staat’, dass du mir all diese Vorschriften machst?“

Das globale Wetter ändern zu wollen, mag eine Form der Überheblichkeit oder zumindest ein enormes Unterfangen sein. Die gleichen Personen, die den Wunsch verspüren, die Welt als Ganzes umzukrempeln, sind es, die an jeder anderen Stelle ihres Lebens sagen: „Da kann man nichts machen“ und „es ist halt so“ und „dumm gelaufen“. Die Passivität ist nicht dem Menschen angeboren, sondern anerzogen oder vorgelebt. Die bestehenden Verhältnisse kritisch zu hinterfragen, dafür braucht es wenige. Einer reicht nicht, aber zwei Personen, die unabhängig voneinander am selben Ort und zur selben Zeit mit einer Sache unzufrieden sind, können Sand in fast jedes Getriebe werfen oder dafür sorgen, dass unsinnige Vorgehensweisen oder Regelungen zur Diskussion gestellt werden.

Fußnoten:
1.) Unter Gesellschaft verstehe ich nicht eine bestimmte Personengruppe, sondern eine anonyme Machtstruktur, die sich unter anderem aus einer Handlungspraxis ergibt. Der „Staat“ dagegen ist durch „vorsätzlich“ geformte Strukturen gekennzeichnet. Der „Staat“ geht in der „Gesellschaft“ auf, insofern die bewusst geformten Machtstrukturen, von den anonymeren der Gesellschaft hervorgehen. Die genauere Darstellung dessen verlangt mehr Raum als in diesem Artikel Platz ist. Ich verweise dazu auf meinen Artikel: „Was ist eigentlich Neo-Anarchismus?“ In: espero 71 (2012). S.20-27.
2.) http://de.wikipedia.org/wiki/Waldsterben

Der Beitrag wurde www.anarchismus.at vom Autor zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.


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