Wer in den letzten Jahren gelegentlich Texte zur kurdischen Guerillagruppe PKK las, stieß dabei immer wieder auf Berichte zu inhaltlichen und ideologischen Aktualisierungen in der Bewegung. Eine Annäherung der (ehemals?) marxistisch-leninistischen Befreiungsbewegung an den Anarchismus war da zu vernehmen. Doch wie ist der antiautoritäre Schwenk ausgerechnet von Abdullah Öcalan zu bewerten? Der folgende Beitrag der "Karakök Autonomen" (einer türkisch-schweizerischen AnarchistInnengruppe) beschäftigt sich ebenso mit dem Thema wie ein Text von Marcus Munzlinger in der "Direkten Aktion". Er wurde der 14. Ausgabe der Gǎi Dào entnommen, der Zeitung des Forums deutschsprachiger Anarchisten und Anarchistinnen. Dort findet sich auch noch ein Interview mit türkischen AnarchistInnen, die ebenfalls auf die Thematik eingehen.
Am 11.4.2012 erschien zudem auf anarkismo.net ein spannendes Interview von Janet Biehl zu den Formen des Kommunalismus, die mit dieser Strategieänderung einhergehen. Und am 7.5. veröffentlichte die Direkte Aktion den Beitrag "Vom Zentralismus zum Kommunalismus?"
Auch das amerikanische Roarmag widmete dem Thema am 17. August 2014 einen umfangreichen Artikel. Und im Zuge der Auseinandersetzungen mit der islamistischen ISIS in Syrien erschien auch eine kritische Betrachtung aus anarcho-syndikalistischer Perspektive bei anarkismo.net.
Wie beurteilen AnarchistInnen Öcalans anarchistische Äusserungen? Einige Anmerkungen zu seinen “Verteidigungsschriften”
Im September 2010 erschien eine deutsche Übersetzung des Buchs „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ von Abdulllah Öcalan, dem Anführer der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Seitdem machen sich auch im deutschsprachigen Raum Diskussionen zum plötzlichen Sinneswandel Öcalans breit. An deutschsprachige Informationen zu gelangen, gestaltet sich hierbei nicht gerade als einfach. Gerne möchten wir daher als auch in der Türkei aktive AnarchistInnen über die Rahmenbedingungen sowie den Nachhall von Öcalans Stellungnahme berichten.
Das Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ erschien bereits im Jahre 2004 in türkischer Sprache, als Verteidigungsschrift des seit 1999 inhaftierten Abdullah Öcalan. Damals wurde das Manuskript vereinzelt unter der Hand verteilt und erzeugte vorerst keine starke Resonanz. Im Jahre 2009 schliesslich, publizierte Öcalan eine offizielle Pressemitteilung aus dem Gefängnis. In der Mitteilung bezeichnete er die Lehren von Marx und Hegel, an denen sich die PKK bis in die 90er orientiert hatte, als fehlerhaft. Ihnen stellte er die Richtigkeit der Lehren von Bakunin und Kropotkin entgegen. Früher sei er davon ausgegangen, alle Probleme der kurdischen Bevölkerung würden sich mit der Gründung eines kurdischen Nationalstaates lösen. Nun habe er begriffen, dass der Staat nicht die Lösung, sondern die Quelle aller Probleme sei.
Abwendung vom Guerillakampf
Erst damit begann eine öffentliche Resonanz sowie ein Aufgreifen der Verteidigungsschrift, welche eine ähnliche thematische Grundlage aufweist. Im Buch lehnt Öcalan eine Orientierung an marxistisch-leninistischen Theorien ab. Diese würden wesentliche Denkfehler in Form von Autorität, Staat und Gewalt enthalten. Gemäss Öcalan habe die anarchistische Theorie diese Fehler erkannt und liefere einen korrekteren Ansatz. Allerdings beschreibt er auch die Mängel des Anarchismus. Dieser habe zwar Recht, wenn er ein politisches System negiere; allerdings scheitere er selbst am Fehlen eines solchen. Er weist also nicht auf die Realisierung der anarchistischen Idee als erstrebenswertes Ziel hin. Als zu realisierende Praxen nennt er vielmehr zivile Widerstandsstrukturen. Insbesondere nennt er hierbei ökologische, feministische und antimilitaristische Aktionsbereiche, die aus der kurdischen Bevölkerung heraus entstehen sollten. Hierbei äussert er sich auch zum Guerillakampf und lehnt diesen – wie auch jegliche andere Form von Gewalt- ab. Gleichzeitig verwirft er mit dem Konstrukt von Nationalstaaten auch die Errichtung eines kurdischen Staates. Stattdessen plädiert er für die Errichtung einer autonomen Region Kurdistan, welche in sich föderalistisch verwaltet werden soll. Öcalan lehnt also zwei wichtige Pfeiler der bisherigen Befreiungsbewegung ab: einerseits den Guerillakampf; andererseits die Forderung eines kurdischen Nationalstaates. Bemerkenswert ist, dass das Buch kurz nach Beginn der Dialoge Öcalans mit staatlichen Behörden veröffentlicht wurde.
Anarchistische Unterstützung der kurdischen Befreiung
Öcalans Sinneswandel löste auch bei AnarchistInnen in der Türkei Diskussionen aus. Zur besseren Darstellung der Situation muss man festhalten, dass türkische AnarchistInnen nahezu ohne Ausnahme die kurdische Befreiungsbewegung anerkennen und unterstützen. Vor Beginn der anarchistischen Bewegung in den 80er Jahren, war dies in revolutionären Kreisen keinesfalls selbstverständlich, waren doch marxistisch-leninistische Gruppierungen nationalistisch geprägt und wandten sich vehement von der kurdischen Befreiungsbewegung ab, was bis heute so geblieben ist. Die anarchistische Bewegung sah zwar ein, dass der kurdische Befreiungskampf in der Errichtung eines kurdischen Nationalstaates münden würde, es herrschte aber in breiten Kreisen die Übereinstimmung, die kurdische Bevölkerung sollte das Recht haben, nicht mehr länger fremdbestimmt und unterdrückt zu werden, sondern ihr gesellschaftliches Zusammenleben selber zu gestalten. Ob dies die Form eines Nationalstaats oder einer kollektivistischen Gesellschaft annehmen würde – darüber sollte einzig und allein die betroffene Bevölkerung entscheiden und nicht etwa Aussenstehende. Es ist daher gang und gäbe, dass anarchistische Gruppen und Individuen den Widerstand der kurdischen Bevölkerung aktiv unterstützten und sich an verschiedenen Aktivitäten der PKK aktiv beteiligten – so beispielsweise innerhalb der Kampagne „Yeter artik!“ („Es reicht!“), die sich gegen staatliche Repression wandte oder bei Protestkundgebungen in kurdischen Gebieten.
Aufschwung durch anarchistische Inhalte
Was Öcalans Aussagen über den Anarchismus betrifft, zeigten sich hingegen viele AnarchistInnen skeptisch. Dies aus mehreren Gründen: einerseits zeigt sich ein Widerspruch zwischen Öcalans Schriften und seiner Praxis. So äusserte er zwar, jegliche Autoritäten und Führungsstrukturen abzulehnen, gab dabei aber weder seine eigene Führungsposition oder den Kult um seine Person innerhalb der PKK auf, noch verlor er ein Wort über die alles andere als anarchistische Organisationsstruktur der PKK oder über die parteiinterne Hinrichtung von RivalInnen oder vermeintlichen „VerräterInnen“. Eine Reflektion der parteiinternen Praxis hätte vielleicht den Weg für eine neue Ausrichtung ebnen können, dazu kam es aber nicht. Auch erschien seine Position im direkten Anschluss an Annäherungen mit staatlichen Behörden. In diesem Kontext scheinen die Äusserungen Öcalans vielmehr strategischer Natur. Einerseits eröffneten die von Öcalan angesprochenen Bereiche wie Frauenrechte, Ökologie oder Antimilitarismus der PKK neue Perspektiven der politischen Aktivität. Es entstanden Kampagnen zur Befreiung der Frau in Van, Proteste gegen die Errichtung eines Staudamms in Munzur und Hasankeyf und Organisationen von kurdischen Militärdienstverweigerern, insbesondere in Van und Diyarbakir. Diese Bereiche verhalfen der kurdischen Befreiungsbewegung zu neuem Aufschwung. Andererseits signalisierte Öcalan den türkischen Behörden sein Entgegenkommen, indem er die Forderung eines kurdischen Staates aufgab. Tatsächlich kam es nach dem Erscheinen Öcalans Pressemitteilung zu intensivierten Verhandlungen zwischen staatlichen Behörden und dem inhaftierten PKK-Anführer. Dies führte gar dazu, dass staatliche Repräsentanten begannen, sich kritisch zur Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung und teilweise sogar ganz nach Öcalans Wunsch über eine autonome Region Kurdistan innerhalb der Türkei zu äussern.
Vereinnahmung von AnarchistInnen
Der grösste Teil der anarchistischen Bewegung unterstützt daher nach wie vor den Widerstand der kurdischen Bevölkerung, distanziert sich jedoch gleichzeitig von Öcalans Mitteilung, welche als strategische Natur und kaum als aufrichtig verstanden wird. Auch die PKK bezeichnet sich selbst nach wie vor nicht als anarchistisch; oftmals stellen wir jedoch Sympathien gegenüber anarchistischer Theorie und Praxis fest. So erfolgte eine verstärkte Annäherung der PKK, aber auch anderer kurdischer Organisationen, an anarchistische Gruppierungen und Aktivitäten, was die Zusammenarbeit intensiviert hat. Dies führte gar zum Versuch, anarchistische Gruppen und Individuen in eigene Projekte einzubinden. So kam es vor einigen Monaten zur Errichtung einer linken, parlamentarischen Dachorganisation. Zu dieser hatte die kurdische Partei BDP aufgerufen, um gemeinsam mit weiteren Kräften stärker im Parlament agieren zu können. Auch anarchistische Gruppen wurden eingeladen, innerhalb der neuen, noch unbenannten, Partei teilzunehmen. Aus Solidarität mit der kurdischen Bevölkerung entschieden sich manche AnarchistInnen dafür, sich am Projekt zu beteiligen, was für viel Kritik und Furore innerhalb der anarchistischen Bewegung sorgte.