Terror der Ökonomie und Transformation des Staates
- Viviane Forrester: Der Terror der Ökonomie. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997, 216 S.
- Joachim Hirsch: Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat. Edition ID-Verlag, Berlin 1998, 172 S.
In Frankreich gibt es bereits seit Monaten Aktionen von Arbeitslosen, die sich weigern ihr Schicksal als gottgegeben hinzunehmen oder bei sich selbst die Schuld zu suchen, und die anfangen aufzubegehren. Auch in Deutschland haben bereits erste Kampagnen von Arbeitslosen begonnen, die jedoch bisher weit weniger stark wie in Frankreich sind (vgl. GWR 226). Es kann daher nützlich sein, Begründungen und Erfahrungen der französischen Arbeitslosenbewegung hier stärker bekannt zu machen. Das Buch der Schriftstellerin, Essayistin und Literaturkritikerin Viviane Forrester "Der Terror der Ökonomie" wurde in Frankreich binnen kurzem zum Bestseller, verkaufte sich parallel zur entstehenden Arbeitslosenbewegung mehr als 300.000 mal und gilt seither als zorniges Pamphlet einer Intellektuellen, die der Wut der Arbeitslosen eine Stimme gegeben hat.
Forrester kümmert sich weniger um allenthalben wohlfeil angebotene kurzfristige Lösungsansätze des Problems, sondern vielmehr um seine schonungslose Darstellung. Sie zeigt die trostlose Lebensperspektive der Arbeitslosen und den Zynismus auf, mit dem Wirtschaft und Politik darauf reagieren. Gerade weil sie diese Perspektivlosigkeit in den Mittelpunkt ihrer Anklage stellt, wurde das Buch von den Arbeitslosen in Frankreich als sozusagen authentisches, richtig wiedergegebenes Abbild ihrer Lebenssituation gewürdigt. Die Situation von Arbeitslosen ist heute nach Forrester im Gegensatz zu früher nicht mehr von einer vorübergehenden Ausgliederung aus dem Wirtschaftsprozess geprägt, sondern von einer permanenten. Die Wiedereingliederung der Arbeitslosen in den Arbeitsprozess ist von Politik und Wirtschaft nicht wirklich beabsichtigt. Das auch hierzulande von PolitikerInnen bemühte Gerede von "Vollbeschäftigung als Ziel", von "Halbierung" oder "Drittelung" der Arbeitslosenzahlen bis zu einem bestimmten Datum denunziert Forrester als dreiste Lüge, die keiner Realität entspricht. Und obwohl das alle wissen, wird an dieser Lüge festgehalten.
Den Arbeitslosen wird nicht nur eingeredet, sie seien selbst an ihrer Lage schuld, ihnen wird auch ständig die Suche nach neuer Arbeit abverlangt, obwohl allen klar ist, dass der industriellen Arbeitsgesellschaft im Zeitalter des globalisierten Liberalismus die traditionelle Form der Arbeit eher ausgeht. Was aber passiert mit den Menschen, die aus diesem Prozess herausfallen? Forrester zeigt, dass sich die Börsenmakler, PolitikerInnen und die Reichen, die in der virtuellen Welt neuer Kommunikationstechnologien leben, nicht wirklich für diese Menschen interessieren. Sie gelten als überflüssig, werden in Vorstädte und sogenannte No-go-zones (die Banlieues von Paris zum Beispiel) abgeschoben - wenn sie als Jugendliche randalieren, werden sie zum Problem der Polizei und neuer Sicherheitsmodelle.
Ausschluss der Arbeitslosen als Vorstufe zur Barbarei?
"Die 'Ausgeschlossenen' sind nun einmal da, verwurzelt wie kaum andere. Man muss sich irgendwie mit ihnen arrangieren, muss unaufhörlich die frommen Wünsche, Refrains, Leitmotive und alten Leiern wiederholen, die auf diese Weise schon an Tricks erinnern. Da ist die Rede von der Arbeitslosigkeit als 'unserer größten Sorge', von der Rückkehr zur Vollbeschäftigung als 'unserem wichtigsten Ziel'. Nachdem das einmal gesagt, wiederholt und eingehämmert worden ist, darf nun nur noch nach Maßgabe der Finanzströme, unter der Ägide ihrer Hohenpriester, nachgedacht, beraten und verordnet werden. Vor allem aber, ohne die anderen Zeitgenossen (das heißt den Großteil der Menschheit) im geringsten zu berücksichtigen - außer als derzeit nicht zu umgehende Faktoren, als leichtgläubige Mengen, die so nachlässig wie möglich zu behandeln sind, wobei man das niedrige Qualifikationsprofil dieser Gruppen hervorhebt. Deren Existenzberechtigung zu leugnen würde man jedoch nicht wagen, man wagt auch nicht, sie nur noch als Last zu sehen, als wachsende Menge von Parasiten, die keine andere Empfehlung vorweisen können als die Tatsache, dass es schon immer Massen von Menschen auf der Erde gegeben hat - eine Tatsache, die man als Beweis für Rückständigkeit anzusehen scheint. Soweit sind wir angeblich noch nicht? Betrachten Sie nur einmal eine so luxuriöse, moderne, komplexe Stadt wie Paris, wo so viele Menschen, alte und neue Arme, unter freiem Himmel schlafen, an Geist und Körper zerrüttet vom Mangel an Nahrung, Pflege, Wärme, Gesellschaft und Respekt. Fragen Sie sich einmal, in welchem Maß die Brutalität einer solchen Lebensweise die Lebensdauer verkürzt und ob man da noch Mauern und Wachtürme braucht, um diese Menschen einzukerkern. Oder Waffen, um ihr Leben zu bedrohen. Richten Sie Ihr Augenmerk einmal auf die brutale Gleichgültigkeit ihrer Umgebung oder die Ablehnung, der sie ausgesetzt sind. Und das ist nur ein Beispiel unter einer Vielzahl barbarischer Verirrungen, die uns geographisch ganz nah sind, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft liegen, inmitten unserer Gesellschaft entstanden sind. So etwas heißt dann 'soziale Verwerfung'. Nicht soziale Ungerechtigkeit, auch nicht sozialer Skandal. Auch nicht soziale Hölle. Nein. Soziale Verwerfung - sozial, genau wie die gleichnamigen Pläne." (S.45ff.)
Man/frau ahnt, dass es die moralische Empörung ist, die nicht die Ökonomin, sondern die Schriftstellerin hier zum Ausdruckt bringt. Forrester leistet dadurch eine vorzügliche Ideologiekritik."Schon lange wird versucht, einen Teil des Landes gegen den anderen auszuspielen. Die einen werden in schamloser Weise zu Bevorzugten erklärt (die Angestellten des öffentlichen Dienstes, die einfachen Beamten), während die wirklich Bevorzugten ungeschoren bleiben und ehrfurchtsvoll als die 'Wirtschaftselite', als die 'dynamischen Kräfte' bezeichnet werden. Und wenn man doch von den Direktoren der multinationalen Unternehmen (und im selben Zusammenhang auch von denen der kleinen und mittelständischen Unternehmen) spricht, dann erscheinen sie als die einzigen, die hohe Risiken eingehen, als ruhelose Abenteurer, die sich unentwegt in Gefahr begeben und ständig für alles mögliche Sorge tragen, während die stinkreichen Metrofahrer und die groß Karriere machenden Briefträger es sich auf skandalöse Weise in aller Ruhe wohl sein lassen. Man spricht auch deshalb von den 'dynamischen Kräften', weil man glaubt, dass sie Arbeitsplätze schaffen und sie erhalten. In Wahrheit schaffen sie trotz aller zu diesem Zweck gewährten Subventionen, Steuervergünstigungen und anderer Hätscheleien keine oder bestenfalls einige wenige zusätzliche Arbeitsplätze (die Arbeitslosigkeit nimmt weiter zu), sondern entlassen ungeachtet der erwirtschafteten Gewinne (die sie zum Teil den oben erwähnten Vergünstigungen verdanken) massenweise Arbeitskräfte." (S.70)
Forrester warnt gegen Ende ihres Buches eindringlich davor, dass die Ausgrenzungsstrategien gegen die Arbeitslosen die Vorstufe zu einer neuen Barbarei sein könnten, deren Möglichkeit heute noch beständig verdrängt wird: "Unser Jahrhundert hat uns gelehrt, dass nichts andauert, auch nicht das starrste Regime. Es hat uns aber auch gelehrt, dass an Grausamkeit alles möglich ist. Die Grausamkeit kann sich heute schneller verbreiten als je zuvor. (...) Übertrieben? Wer von uns schreit auf, wenn er erfährt, dass es beispielsweise in Indien Arme gibt, die ihre Organe (Nieren, Augenhornhaut usw.) verkaufen, um eine Zeitlang ihren Lebensunterhalt zu sichern? Das ist bekannt. Und es gibt Abnehmer, das ist auch bekannt. Das findet heute statt. Dieser Handel existiert, und aus den reichsten, 'zivilisiertesten' Regionen kommt man her und macht seine Besorgungen - zu niedrigen Preisen. Es ist bekannt, dass es auch andere Länder gibt, in denen Organe gestohlen werden - durch Entführung und Mord - und dass es eine Kundschaft gibt. Das ist bekannt. Wer außer den Opfern schreit hier auf? Wo bleibt der Widerstand gegen den Sextourismus? Nur die Verbraucher reagieren: Sie stürzen sich darauf. Auch das ist bekannt. Weniger die Begleiterscheinungen, etwa der Handel mit menschlichen Organen oder der Sextourismus, sollten bekämpft werden als das eigentliche Phänomen, das deren Ursache darstellt: die Armut, von der wir (wiederholen wir es noch einmal) wissen, dass sie die Armen dazu bringt, sich zugunsten der Besitzenden verstümmeln zu lassen, nur um noch eine Weile zu überleben. Das wird stillschweigend hingenommen. Und wir befinden uns in einer Demokratie, wir sind frei und zahlreich. Wer rührt sich, außer um die Zeitung beiseite zu legen, den Fernseher abzuschalten - gefügig dem Befehl gehorchend, vertrauensvoll, heiter, verspielt und einfältig zu bleiben (wenn man nicht bereits zu den Versteckten, Besiegten und Beschämten gehört), während der ökonomische Terror im Zuge einer allgemeinen Umwandlung zugleich immer größer wird, unterbrochen nur von dem Geplapper, das zu heilen verspricht, was bereits tot ist?" (S.202ff)
Der Furor des ökonomischen Terrors geht mit Viviane Forrester jedoch manchmal durch, wenn sie sich - so sympathisch und auch angemessen das ist - in Rage schreibt. Dann wird, wie schon beim Sextourismus, bei dem sie das Patriarchat vergisst, ihre Ursachenanalyse monokausal. In ihren Augen wirkt der Neoliberalismus durch die unsichtbare Macht des Marktes: "Denn Staatsgewalt und Macht ist nicht dasselbe. Die Macht hat niemals das Lager gewechselt. Sie pfeift auf die Staatsgewalt, die sie - um sie besser steuern zu können - häufig selbst anderen aufgezwungen und übertragen hat. Die privatwirtschaftlichen Führungsklassen haben zuweilen die Staatsgewalt verloren, die Macht jedoch nie." (S.64)
Nationaler Wettbewerbsstaat
Das ist - nicht nur wenn die Sowjetunion und China, die Weltwirtschaft also, miteinbezogen wird - falsch, sondern auch zu einfach. Es kann deshalb nützlich sein, nach der schockierenden moralischen Anklage Forresters das neue Buch Joachim Hirschs zur Hand zu nehmen, das die Funktion des Staates im Rahmen der neoliberalistischen Globalisierung und weltweiten Deregulierung mehr trocken theoretisch analysiert. Das Buch des Frankfurter unabhängigen Sozialisten ist zwar nicht so systematisch angelegt wie der Vorgänger "Der nationale Wettbewerbsstaat" (vgl. Besprechung in GWR 204). Die Beiträge sind auch eher eine überarbeitete Zusammenstellung von Vorträgen und Artikeln des Autors, sie sind aber gut lesbar und stellen neben Genese und Kritik der Diskussion um "Zivilgesellschaft" die Funktion des Staates im Rahmen der Herausbildung einer neuen Regulationsweise des Kapitalismus in den Mittelpunkt.
Im Gegensatz zu Forrester ist der Staat bei Hirsch nicht einfach machtlos, sondern er hat sich gewandelt, transformiert. Und der von Forrester empörend angeprangerte "Neoliberalismus" ist für Hirsch keine besonders perfide Abweichung von der Normalität des Kapitalismus, sondern eine neue Realität des sich nie gleichbleibenden, sondern seine Regulierungsweisen ständig ändernden Kapitalismus. Denn Sinn und Zweck des Kapitalismus ist der Profit, und um den zu erzeugen, organisiert er bestimmte Regulationsmechanismen wie zum Beispiel den sogenannten Fordismus nach dem Zweiten Weltkrieg, der durch Fließbandtechnologien, hohe Produktionszahlen, vergleichsweise hohe Löhne in den Industriestaaten, die dortige Integration der ArbeiterInnen, relative Vollbeschäftigung und eine sich steigernde Konsumnachfrage gekennzeichnet war. Gegen Ende der 70er Jahre konnte aus dieser Regulationsweise Fordismus nach Hirsch sozusagen kein Profit mehr ausgepreßt werden, der Fordismus war am Ende. Also suchte der Kapitalismus eine neue Regulationsweise: den Postfordismus, Neoliberalismus oder wie sie auch genannt werden mag. Kennzeichen dieser Regulationsweise sind die neuen Computer- und Informationstechnologien, die eine weltumspannende Produktion in Billiglohnstandorten möglich machen, der Abbau sozialstaatlicher Abfederungen, Massenentlassungen, Gleichgültigkeit gegenüber den Beschäftigten, brutaler Kampf der Kapitale (Wirtschaftskriege) um eine geringer werdende weltweite Massennachfrage.
Hatte sich nun der Staat in der fordistischen Regulationsweise als "ideeller Gesamtkapitalist" manchmal auch gegen die Unternehmen im eigenen Lande richten müssen, um im Sinne des gesamten Funktionierens die sozialstaatlichen Leistungen durchzusetzen, so muss der Staat heute als "nationaler Wettbewerbsstaat" auftreten, um durch nationalistische Standortpolitik genau diese Leistungen abzubauen und ideale Investitionsbedingungen herzustellen. War der Staat früher nach Hirsch ein "Sicherheitsstaat" und hochsensibel gegen die kleinste Störung der bürokratischen Abläufe durch Protest, so rechnet er heute durch die bewusste Ausgrenzung vieler gerade mit diesem Protest und vertraut seinem Repressionspotential. Gerade durch die sich zuspitzende nationale Standortkonkurrenz bleibt der Nationalstaat nicht nur eine militärische, sondern auch eine ökonomische Größe der Weltwirtschaft, der Wirtschaftskrieg der Kapitale um die kleiner werdende Nachfrage wird mittels nationalistischer Standortpolitik, die nur die Nationalstaaten überhaupt betreiben können, entscheidend geführt. Das ist zwar immer noch eine marxistische Staatsableitung, die Hirsch da vorlegt, doch immerhin eine, die die relative Eigenständigkeit staatlicher Politik überhaupt wahrnimmt und vor allem auch die Renaissance von Nationalismus und Rassismus in vielen Ländern zu erklären vermag.
Red. Süd
Originaltext: www.graswurzel.net, erschienen in der Graswurzelrevolution Nr. 229 Mai 1998 (Original in alter Rechtschreibung)