Von Massimo Perinelli. Der Autor lebt in Köln, ist Dozent für US- Geschichte an der Universität zu Köln und forscht im Bereich der Körper- und Sexualitätsgeschichte. Er ist Mitglied bei Kanak Attak und engagiert sich in der antirassistischen Initiative »Keupstraße ist überall«. Erschienen in Phase 2 Nr. 51, 2015
Der vorliegende Text fasst einige Ergebnisse zusammen, die sich während der letzten zwei Jahre in unterschiedlichen antirassistischen, migrantischen und weniger migrantischen Diskussionszusammenhängen zur komplexen Debatte um Critical Whiteness und die hiesigen Adaption herauskristallisiert und konkretisiert haben. Im Folgenden findet eine Reflexion um derzeitige linke Bewegungspolitiken und ihre historische Dimension statt, sowie eine Auseinandersetzung um die unmittelbaren Theoreme von Critical Whiteness. Ausgangspunkt dieses Textes ist ein Unbehagen sowohl mit der Praxis als auch mit der Theorie antirassistischer Zusammenhänge und Gruppen, die sich auf linke Politik beziehen.
Seit mehreren Jahren können wir einen Verfall der antirassistischen Bewegung in diesem Land beobachten. Im Gegensatz zu den 1990er und den frühen 2000er Jahren gelingt es mittlerweile nicht mehr, unter der Perspektive von Antirassismus eine umfassende Gesellschaftskritik zu formulieren oder auch nur einen Großteil der bewegungspolitischen Linken zu versammeln. Konnten unter dem Eindruck von Wiedervereinigung und rassistischen Pogromen neue Praktiken und Theorien weite Teile der verschiedenen radikalen Strömungen erfassen und mobilisieren, steht der Komplex Antirassismus seit der veränderten globalen Situation ab September 2001 und den sich in der Folge gewandelten Rassismen vor ungelösten Problemen. Er konnte vor allem keine Antworten auf die neuen rassistischen Spaltungen mehr finden, die sich durch den antimuslimischen Rassismus und die rassifizierte Sicherheitspolitik im Prozess der europäischen Integration auftaten. In dieser sowohl theoretischen, politischen wie bewegungspraktischen Leerstelle, so die These, konnten sich Theoreme entfalten, die aus akademischen Debatten um Postkolonialismus, Intersektionalismus und Gender-Studies stammen und sich vor allem auf Texte aus dem US-Kontext beziehen. Damit einhergehend beobachten wir Versuche, die Reste der ehemals breiten antirassistischen Bewegung der letzten 20 Jahre aus einer akademischen Perspektive zu ordnen und darin zu bestimmen. Viele erleben dies als eine autoritäre Formierung der vielschichtigen Ansätze und Praktiken, die an bekannte Muster aus vergangenen Bewegungszyklen erinnert.
Es geht also um die Frage von politischer Bewegung und Organisierung, sowie darin eingebettet um den Umgang mit dem Widerspruch von Dissens und Konsens. Zum anderen geht es um die Frage nach antirassistischen Strategien und Taktiken unter den aktuellen Bedingungen. Und schließlich gilt es zu bestimmen, ob die Argumente intersektionaler Theoreme und ihre politische Umsetzung in Critical Whiteness hilfreich für die Herausforderungen des heutigen Rassismus sind, oder ob nicht schon das Konzept, das sich in den 1970er Jahren im Hinblick auf die spezifische segregierte Situation in den USA entwickelt hatte, an den deutschen Verhältnissen vorbeizielt und lediglich von bestimmten Gruppen für ihre autoritären Ziele missbraucht wird.
Weiße Räume und die Politik des Silencing
Fritz Burschel hat in der Hinterland Nr. 20 einige Beispiele und Argumentationsmuster für Auseinandersetzungen im Kontext von »Critical-Whiteness-Ansprüchen« zusammengetragen. Er beschreibt darin einen sogenannten rassistischen Skandal auf einer antirassistischen Veranstaltung und die nachfolgenden Reaktionen auf diversen Internetforen. Beispiele wie diese dürften mittlerweile allen bekannt sein, die im Feld des Antirassismus aktiv sind. Workshops, Partys, Diskussionsveranstaltungen und ganze Großveranstaltungen wie Grenz- oder Refugee-Camps werden unterbrochen und mit dem Vorwurf beendet, dass dort die Positionen der von Rassismus Betroffenen mal wieder übergangen worden seien. Es würde ein Klima geschaffen, das es unmöglich mache, aus dieser Position heraus zu sprechen. Der konkrete Vorwurf artikuliert sich in dem abstrakten Bild, »Räume würden weiß gemacht«, Marginalisierte erneut zum Verstummen gebracht und damit rassistische Herrschaftsverhältnisse perpetuiert – unabhängig von den konkreten Inhalten der jeweiligen Beiträge. Dabei wiederholt sich der inquisitorische Mechanismus ein ums andere Mal: Jemand wird einer rassistischen Untat überführt – meist in Form von Ignoranz gegenüber marginalisierten Positionen oder weil er oder sie die Regeln einer Critical Whiteness-Gruppe hinterfragt, und allein dieses Hinterfragen entlarvt ihn oder sie gleichsam automatisch als unverbesserlichen Rassisten oder unverbesserliche Rassistin – er wird aus dem jeweiligen Zusammenhang entfernt. Oft wird gleich noch die gesamte Veranstaltung für beendet erklärt. Widerspruch bedeutet Schuldbeweis. Selbst wenn keine rassistische Handlung festgestellt werden kann, wird doch der Person an sich eine rassistische Identität unterstellt. Legitimität erhält diese scheinbar radikale Intervention im Namen der Subalternen stets durch einen – nicht selten mehrheitsdeutschen – Klatschmob, der dem Ausschluss zustimmt; eine passive Geste, die keinerlei Verantwortung für die Situation übernimmt, aber dennoch das Gefühl hinterlässt, einen Kampf geführt zu haben. Im besten Falle schweigen die beteiligten Unbeteiligten am durchaus wahrgenommenen Unrecht. Ein Unwohlsein bleibt zurück, aber niemand widerspricht. Erst im privaten Kontext wird die Verblüffung über die eigene Ohnmacht artikuliert; die Konsequenz ist indes eher der Rückzug aus den klassischen antirassistischen Bereichen, die darüber immer kleiner und homogener werden.
Man kann dieses Verhalten auch als einen Ausdruck von 50% Faulheit und 50% Feigheit bezeichnen. Eine Faulheit im Denken, sich nicht genau mit den Konzepten zu beschäftigen, die für diese machtvollen szeneinnenpolitischen Mechanismen der deutschen Version von Critical Whiteness Pate stehen. Man macht sich nicht die Mühe, zu denken und zu hinterfragen und schluckt willfährig die Setzungen, von denen behauptet wird, sie seien im Namen der Unterdrückten verfasst und als Konsens anzuerkennen. Die Feigheit ist die Angst vor dem Ausschluss, vor dem Stigma, selbst als Rassist_in benannt zu werden. Es ist eine Angst, die nicht unberechtigt ist, denn der Ausschluss aus jenen Kontexten, in denen man sich eingerichtet hat im Kampf für eine bessere Welt, bedeutet für viele nicht weniger als den sozialen Tod. Feigheit ist es deshalb, weil das eigene Denken im Kampf gegen Rassismus, Faschismus, herrschaftliche Gewalt und Armut im szeneeigenen Milieu um des lieben Friedens willen aufgegeben wird. Hier herrscht ein Bedürfnis nach Harmonie vor, das jedem Spießer an einem Sonntagmorgen in seinem Vorgarten Konkurrenz macht. Gleichsam leiden immer mehr »Linke« unter diesen Verhältnissen, denen sie anscheinend hilflos gegenüberstehen. Das konkrete Ziel dieses Textes ist es daher unter anderem Mut zu machen, die Behauptung eines Konsens in Frage zu stellen und in der nächsten Situation, die einer oder einem nicht gefällt, zu widersprechen. Der Text versteht sich als ein Plädoyer für den Konflikt und damit gegen die Politik des Verborgenen, des Schweigens, des Geheimen, der stillen Gesten, der diskreten Handzeichen, des wortlosen Abführens, des intendierten Skandals und des Entfernens unliebsamer Positionen aus dem Feld des Antirassismus. Die grundlegende Frage, die sich durch den Text zieht, ist die nach der Akzeptanz der radikalen Differenz, in der – trotz innerer Widersprüche und unzähliger Machtverhältnisse – etwas Neues und Besseres erreicht werden kann, in dem alle Beteiligten in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive vorkommen. Dies ist das Gegenteil einer Politik der Harmonie, die darauf fußt, sich einem an anderer Stelle und von anderen Leuten beschlossenen Konsens zu unterwerfen.
Säuberungsphantasien, die durch bloßen Dissens gegenüber der Einigkeit und Einheit hervorgerufen werden, hießen früher mal stalinistisch und sie haben eine lange und ungute Tradition. Daher lohnt es sich, die Geschichte emanzipatorischer Kämpfe zu kennen, taucht in ihr doch kontinuierlich das gemeinsame Merkmal autoritärer Formierungsversuche auf, von denen Critical Whiteness lediglich eine weitere Spielart darstellt.
Bewegungen und ihre autoritäre Formierung in der Geschichte
Wenn es im Folgenden um einige historische Beispiele geht, dann nicht, weil sie die historisch wichtigsten waren und auch nicht, um die darin agierenden Gruppen zu diffamieren. Vielmehr soll an den gewählten Beispielen ein bestimmtes Muster erkennbar werden, das hilft, Tendenzen der gegenwärtigen Auseinandersetzungskultur besser einordnen zu können. Konkret geht es um das wiederkehrende Element der autoritären Formierung von (revolutionären) Bewegungen im Moment ihres politischen Höhepunkts, der gleichsam immer Beginn ihres Niedergangs war. Das soll allerdings nicht bedeuten, dass Bewegungen schicksalshaft in hierarchischen Strukturen verenden. Im Gegenteil zeigen die historischen Beispiele, dass Bewegungsmomente, die tatsächlich in der Lage waren, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, sich an anderer Stelle fortsetzten, während die, die sich an deren Spitze stellen konnten, letztlich keine Rolle mehr im Prozess der Befreiung spielten. Der Blick in die Geschichte lohnt sich.
Als die Phase der revolutionären Erhebungen gegen Krieg, Kaiser und Kapitalismus von 1918 bis 1921 nach ihrer militärischen Niederschlagung an Kraft verlor, spalteten sich viele linksoppositionelle Teile von der KPD ab, von der sie zunehmend bekämpft wurden. Parallel zur KPdSU und in wachsender Abhängigkeit von ihr verbot sich innerhalb der KPD jegliche Kritik an einer nicht mehr hinterfragbaren Führungslinie. Der Involutionsprozess, d.h. die Konterrevolution oder Bolschewisierung der Kommunisten, ließe sich auf 1923 datieren. Der Demokratische Zentralismus säuberte im Namen der Einheitsfront die eigenen Reihen von Rätekommunist_innen, anderen sog. Linksabweichler_innen und grundsätzlich von interner Kritik. Solchermaßen versuchte die Kommunistische Partei Einheit, Konsens und Stärke zu erreichen. Wer sich nicht daran hielt, wurde entfernt, was für viele Linke auch ihre physische Vernichtung bedeutete.
Mitte bis Ende der 1960er Jahre ergriff ein fundamentaloppositioneller Impuls die Generation der Nachkriegskinder, die sich weltweit in Revolten gegen die bestehenden politischen, ökonomischen wie auch kulturellen Verhältnisse übertrugen. Darin vollzog sich eine Abkehr von den verschiedenen westlichen KPs und ihrer Orientierung auf die Sowjetunion. In Deutschland spielte außerdem die Auslöschung bzw. Vertreibung der linken Intelligenz im Nationalsozialismus sowie die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration als den NS-Täter_innen eine hervorgehobene Rolle; wie Fritz Teufel es ausdrückte, ging es um die Frage, »wie man auf einem riesigen Leichenberg das Leben neu erfinden könne«. In diesem historischen Momentum spielte es eine untergeordnete Rolle, aus welcher Position heraus man sprach; vielmehr wurde die Bewegung von einem revolutionären Begehren getragen, das die angestrebten, indes noch unbekannten Verhältnisse als erreichbar und unmittelbar als erlebbar antizipierte. Nicht »wer sind wir?«, sondern »wer wollen wir sein?« wurde zum visionären Impuls dieser kurzen, aber dennoch prägenden Zeit. Ende der 1960er Jahre und spätestens im Übergang zu den 1970er Jahren erschöpfte sich dieser Antrieb, durch blutige Gegenangriffe gleichsam gelähmt und ernüchtert. In Italien saßen tausende Genoss_innen im Knast oder waren im Exil; in den USA führte die staatliche Infiltrierung revolutionärer Gruppen zu deren Zerfall, während die Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen viele Aktivist_innen das Leben kostete; und auch in Deutschland wurde die Szene von einer Repressionswelle erfasst, die der Rebellion neue Kampfformen aufzwang und gleichzeitig sehr viele zum Rückzug ins Private oder in die Institutionen drängte. Die Stunde der Funktionäre diverser maoistischer K-Gruppen hatte geschlagen, die versuchten, die Bewegungen über deren Zenit hinaus zu stabilisieren und abzusichern. Es bildeten sich immer neue Gruppen, die sich im Kampf um die richtige Organisationslinie, um die richtigen Texte und die richtigen Begriffe zerlegten, und die statt auf Bewegung nun auf effiziente Straffung und Institutionalisierung setzten. In ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit verkehrten sie die Dynamik von Bewegung und Organisation und machten erstere von letzterer abhängig. Die Organisation selber wurde zunehmend zum Selbstzweck, man phantasierte sich als Elite eines schon entworfenen Staates.
Ende der 1970er Jahre war die Idee der Autonomia, wie sie die prekarisierten Massenarbeiter in den Industriezentren Norditaliens und Nordeuropas entwickelten, eine Antwort auf die autoritären K-Gruppen, Parteien und die bedingungslosen Supporter der politischen Gefangenen gewesen. In Deutschland formte sich die Bewegung der Autonomen, die sich von dem Gedanken der richtigen Linie, des richtigen Textes oder vom Bezug auf die Geknechteten dieser Erde verabschiedete und versuchte, sich mit der eigenen Person politisch ins Verhältnis zu setzen. Dazu gehörte das radikale Infragestellen erkämpfter Gewissheiten und sogenannter Errungenschaften. Zentral wurde, was revolutionäre Politik mit einem oder einer selbst zu tun habe. Heraus kam eine Bewegung ohne Repräsentant_innen, ohne parteiförmige Institutionalisierung und mit dem Versuch, die eigene Utopie in erkämpften Räumen unmittelbar umzusetzen. Dieser operaistische Impuls, der in den militanten Auseinandersetzungen migrantischer Massenarbeiter_innen geboren wurde, und der nicht die Organisation und die Repräsentation hervorhob, sondern auf die vielfältigen Kämpfe der Unzufriedenen setzte, war eine Fortsetzung der Bewegungen der späten 1910er und späten 1960er Jahre. Das Ende der Autonomen als Bewegung kam mit der Wiedervereinigung und den sich verschärfenden Angriffen, die im nationalen Taumel physisch, ideologisch und ökonomisch erfolgten.
Ein Zerfallsprodukt der autonomen Bewegung zu Beginn der 1990er Jahre, das in seinem Fokus stark an das Vorgehen von Critical Whiteness erinnert, waren die Antideutschen. Hervorgegangen aus der kritischen Debatte um linken Befreiungsnationalismus völkischer Provenienz, verkürzter internationaler Solidarität mit autoritären Gruppen oder gar Staaten sowie antisemitisch gefärbtem Antizionismus totalisierten einige antinationale Gruppen vermeintlich linken Antisemitismus und erklärten ausgehend von der rassistischen Welle nach der Wiedervereinigung alle Deutschen zu Nazis, zum Vernichtungskollektiv. Das Verhältnis zum Staat Israel wurde zur Gretchenfrage ganzer postautonomer und antifaschistischer Szenen in verschiedenen Städten, die sich in der Folge erst zerlegten und dann bitter bekämpften. Arbeitskämpfe, Geschlechterkämpfe oder soziale Kämpfe galten vor dem Hintergrund der Shoah als Movens dieser politischen Praxis als Nebenschauplätze; sie hätten vielmehr nur die Aufgabe, den antisemitischen Vernichtungswillen aller Deutschen – und damit auch der Linken – unsichtbar zu machen.
Bestimmte Strömungen des Antisexismus in den 1990ern verfuhren ähnlich mit der Reduzierung und Verallgemeinerung heterosexueller Praktiken als Gewalt. Das führte dazu, dass Sexualität im linken Milieu zur Sache des Privaten und damit der politischen Auseinandersetzung entzogen wurde. Niemand sprach mehr öffentlich über Sexualität – nur in den Begriffen des Verbrechens konnte über Sexismus geredet werden; Sexualität als politisches Feld utopischer Veränderungen durfte es nicht geben. Gerade in diesem Bereich wurden Mechanismen entwickelt, die strukturidentisch im Critical Whiteness wiederauftauchen. Auch hier wird der Gewaltbegriff totalisiert, das Definitionsrecht bis ins Diffuse erweitert und das Sanktionsrecht verallgemeinert.
Critical Whiteness stieß nun in die Leerstelle, die die antirassistische Bewegung der späten 1990er und der 2000er Jahre hinterlassen hat. Ende der 1990er Jahre war man bereits viel weiter in der Analyse von Rassismus und der Entwicklung antirassistischer Praktiken. Es gab Camps, Debatten, Interventionen und Wissensproduktionen, die eine ganze Linke versammeln konnten und – zumindest sehr oft – die antirassistische Arbeitsteilung von paternalistischer Betreuung, politischer Intervention, migrantischer Selbstorganisierung und handfestem Antifaschismus zu überwinden vermochten. Es gelang, im Feld des Antirassismus gesamtgesellschaftliche Verhältnisse zu thematisieren und ausgehend vom Kampf gegen rassistische Stratifizierung Klassenverhältnisse ebenso wie Geschlechterverhältnisse radikal in Frage zu stellen. Angesichts der neuen Weltlage mit ihren Dauerkriegen im Nahen Osten und im nördlichen Afrika hat sich der Rassismus weltweit jedoch verändert. Es geht nicht mehr primär um die soziale Subordinierung der Migrant_innen zur Sicherung der ökonomischen und identitären Stellung der Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr entstand seit 9/11 allmählich ein antimuslimischer Rassismus, der einen Riss durch die migrantischen Communities bewirkte, wo Spanier_innen, Griechen_innen, Italiener_innen, Portugies_innen plötzlich auf der einen, Türk_innen, Palästinenser_innen oder Araber_innen auf der anderen Seite standen. Aus den ehemaligen »Kanaken« wurden nun plötzlich einerseits Europäer_innen und andererseits Muslime und Muslimas. Vor dieser Herausforderung endete der bewegungspolitische Antirassismus der Generation Rostock, der sich mit Wiedervereinigung und Nationalismus auseinandergesetzt hatte. Es tat sich eine politische und theoretische Leerstelle auf, die bis heute nicht geschlossen werden konnte.
Der antirassistischen Bewegung entglitten die gesellschaftlichen Prozesse, ihr war der Drive genommen. Und genau in diesem Moment tauchten die autoritären Ordnungsrufe wieder auf. Über Ausschlüsse und Drohungen begannen ihre Wortführer_innen sich an die Spitze einer Bewegung zu stellen, die es gar nicht mehr gab, die aber imaginär gerettet und verstetigt werden sollte. Dies erleben wir zurzeit im deutschen Kontext mit dem Phänomen Critical Whiteness.
Konzepte und Praktiken von Critical Whiteness
Die aktuellen Auseinandersetzungen zu dem Thema Critical Whiteness sind indes unbefriedigend, denn entweder verfolgen sie eine Kritik an den politischen Formen, die die Konzepte des Antirassismus als Bezugsgröße auslässt, oder sie arbeiten sich an den theoretischen Konzepten ab, ohne sich für die realen Bewegungsmomente zu interessieren.
Die Beschäftigung mit den Theoremen von Critical Whiteness verdeutlicht auf den ersten Blick zunächst ihr Potenzial, Differenzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Positionen und Akteur_innen sichtbar werden zu lassen. So kann die normative Zugehörigkeit zu den Profiteur_innen von Rassismus nun selbst als ein Konstrukt analysiert werden. Dass die Feststellung von Ungleichheit nicht nur deskriptiv bleiben muss, sondern auch die Bedingung ihrer Aufhebung transportieren kann, zeigte sich in der historischen Situation der 1970er Jahre in den USA. Sich selbst so bezeichnende »Third World Women« wollten nicht nur ihren weißen »Schwestern« klarmachen, dass dem gemeinsamen Kampf gegen das Patriarchat noch ein veritables rassistisches Ausbeutungsverhältnis zwischen den Frauen selber vorgelagert sei. Sie machten auch darauf aufmerksam, dass die Begriffe von Schwarz und Weiß jene Frauen ausblenden, die entweder als US-amerikanische Latinas oder aber als Frauen aus der globalen Peripherie gegen ihre spezifischen Ausbeutungsverhältnisse kämpften. Der damals vorgeschlagene Begriff der »Third World Women« oder auch der sich durchsetzende Begriff »People Of Color« (POC) bedeutete eine Erweiterung antirassistischer Theorien und Praktiken, eine Ausweitung der politischen Subjekte im Kampf gegen Unterdrückung. Er globalisierte die noch junge Wahrnehmung eines bedeutenden Herrschaftsverhältnisses zu einer Zeit, als mit dem Begriff »Rassismus« erst sehr wenige Linke operierten und dynamisierte sowohl die Black Power Bewegung als auch die Frauenbewegung in den USA.
Die Bezugnahme auf diese Intervention, für die Gruppen wie das Combahee River Collective stehen, ist für die deutschen Verhältnisse indes nicht stimmig, weil sie die Kämpfe gegen Rassismus nicht ausweitet, wie in den USA, sondern im Gegenteil den Widerstand eine Mehrzahl von Nichtdeutschen unsichtbar werden lässt. Whiteness – so macht auch Noel Ignatiev deutlich – ist insbesondere für die spezifischen US-Verhältnisse der korrekte Begriff, wo aufgrund der Kolonialgeschichte und einer historisch auf Sklaverei beruhenden Ökonomie Schwarze seit mehr als 300 Jahren am unteren Ende der sozialen Stufenleiter stehen. Deutschland hat jedoch eine andere Geschichte des Rassismus. Ohne das an dieser Stelle in angemessener Komplexität ausformulieren zu können, bleibt festzuhalten, dass in Deutschland ein völkischer Nationalismus herrschte und herrscht, der gleichermaßen gegen den Erbfeind Frankreich in die Völkerschlacht zog, wie er Vernichtungsprojekte durchführte, sei es gegen die »slawische Rasse« oder die Bewohner_innen in den kurzlebigen Kolonien in Ostafrika und im heutigen Namibia am Anfang des 20. Jahrhunderts. Ihm ist ein eliminatorischer Antiziganismus zu eigen, ebenso wie ein eliminatorischer Antisemitismus, und er ist in jüngerer Zeit vor allem durch die rassistische Ausbeutung und Entrechtung von vornehmlich aus dem südlichen Europa eingewanderten Migrant_innen geprägt. Schwarze Deutsche leben teilweise seit 100 Jahren hier, haben aber eine ganz andere und widersprüchlichere Geschichte als Afro-Amerikaner_innen in den USA. Zwar machten sie auch hierzulande rassistische Erfahrungen, gerade weil sie in der rassistischen Aufteilung der Gesellschaft bestimmten ökonomischen Bereichen zugeordnet wurden. Dennoch wurden sie etwa im Nationalsozialismus im Gegensatz zu anderen rassifizierten Gruppen nicht systematisch verfolgt und »vernichtet«; oder wie der Schwarze Deutsche Theodor Wonja Michael die Situation von Schwarzen im Nationalsozialismus zusammenfasst: »Man tötete uns nicht, man ließ uns aber auch nicht leben.«
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen Schwarze Deutsche andere gesellschaftliche Positionen ein, als die im untersten Segment der Industrie, Dienstleistung und Landwirtschaft arbeitenden Schwarzen in den USA. Hierzulande wurde diese Arbeit von den die Fremd- und Zwangsarbeiter_innen ablösenden Gastarbeiter_ innen aus Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, Jugoslawien und der Türkei verrichtet. Sie sind es auch, die hier in den letzten vier Jahrzehnten am Fließband standen, den Müll entsorgten und die Klos putzten. Diese Jobs werden heute auch von Geflüchteten aus Afrika und anderen Ländern des Südens erledigt – aber nicht weil sie schwarz, sondern weil sie rechtlos sind. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu der Situation in den USA. Der dauernde Bezug der deutschen Critical Whiteness-Gemeinde auf Aktivist_innen aus den USA, z.B. Audre Lords Aufenthalt in Berlin 1984, die ihre deutschen Schwestern bezüglich deren Vorstellung einer universellen Sisterhood treffend kritisierte, oder der Bezug auf die Schriften von Toni Morrison oder bell hooks, macht unsichtbar, dass in den frühen 1970er Jahren hierzulande vor allem die Gastarbeiter_innen kämpften, sowohl in den Fabriken wie auch außerhalb. Darin formulierten sie bereits dieselbe Kritik, wie sie die Schwarzen Feministinnen an ihrem weißen Gegenüber formulierten: Es gilt, die rassistische Spaltung zu erkennen und zu überwinden! Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Poetinnen wurden die eingewanderten proletarischen Frauen und Männer allerdings von der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung wie auch von der Linken im Allgemeinen hinlänglich ignoriert.
Die aktuelle Fokussierung auf Afro-Amerikanerinnen durch hiesige Vertreter_innen von Critical Whiteness seit Ende der Nuller Jahre ist ein Fehlimport, der über die akademische Beschäftigung aus den Gender-Studies kommt und ungeachtet der Geschichte der Kämpfe hierzulande zum Handlungsimperativ wurde. Die daraus formulierte Trennung in und Hierarchisierung von Rassismus und »Migrantismus«, POCs und Migrant_innen, die Bezugnahme auf das Combahee River Collective von 1974 unter gleichzeitiger Ausblendung des Streiks der Migrantinnen in Pierburg/Neuss von 1973, ist akademisch elitär und im Effekt rassistisch.
POC war eine notwendige Kritik und eine wirksame Erweiterung der antirassistischen Kämpfe in den USA. In Deutschland bedeutet es hingegen eine Einengung, die die Kämpfe der kanakisierten Migrant_innen unsichtbar macht und ausschließt. Vielmehr wird die Rückkehr des rassifizierten Phänotyps bewirkt, der zwischen »Schwarzköpfen« und »schwarzer Haut« eine Spaltung evoziert. Auch wenn immer wieder beteuert wird, dass POC sei, wer von Rassismus betroffen ist und sich dazurechne, zeigen die konkreten Exklusionsmechanismen innerhalb dieser Szene, dass es um autoritäre Hierarchisierungen innerhalb der Nichtdeutschen geht. Elahe Haschemi Yekani erinnert in ihrer kritischen Diskussion zur deutschen Rezeption US-amerikanischer Theorien Schwarzer Feministinnen, dass Intersektionalismus eigentlich angetreten war, Identitätskategorien zu veruneindeutlichen, statt sie festzuschreiben und gegeneinander auszuspielen. Am deutlichsten zeigt sich die gefährliche Hierarchisierung und elitäre Ignoranz deutscher Provenienz gegenüber den kanakisierten Migrant_ innen im Schweigen von Critical Whiteness- Gruppen zur umfangreichsten rassistischen Mord- und Anschlagserie gegen die Söhne und Töchter der Gastarbeiter_innengeneration durch die Nazizelle NSU, unterstützt von Ermittlungsbehörden und legitimiert von der deutschen Öffentlichkeit. In der Logik von Critical Whiteness, nach der Antirassist_innen weiß und ebenso rassistisch wie Nazis seien, ist es indes folgerichtig, antirassistische Plena zu sprengen, rassistische Morde aber schweigend zu übergehen.
Sprache, Privilegien und Awareness
Möglich wird diese Politik – wie Ayşe K. Arslanoğlu mit Blick auf die Curricula an der Humboldt-Universität zu Berlin betont – durch einen Bezug auf einen akademischen Diskurs, der aus den Gender-Studies kommt und sich mit Diskurstheorie befasst. In ihm findet eine verkürzte Judith-Butler-Lesart statt, wonach Sprechakte die Gegenstände hervorbrächten, die sie benennen. Im Umkehrschluss ließen sich rassistische Verhältnisse – »weiße Räume« und konkrete Dominanzverhältnisse – durch eine kodifizierte Sprache, durch eine »institutionalisierte Benennungspraxis« ändern. Herrschaft erscheint in dieser Perspektive nur noch als individueller Kommunikationsakt. Dieser diskurstheoretische Reduktionismus blendet die gesellschaftlichen Mechanismen von Rassismus aus, vor allem die Tatsache, dass Rassismus eine strukturierende Funktion besitzt. Diese Funktion wird mit der Betonung individueller Verhaltenskodizes indes unsichtbar gemacht. Was bleibt ist eine überall zu beobachtende neoliberale Innerlichkeit, die von gesellschaftlicher Veränderung nichts mehr wissen will, weil sie das Individuum gar nicht mehr als gesellschaftlich, sondern nur noch als individuell denken kann. Die penetranten Fragen, »wo bin ich rassistisch, wo bin ich weiß, wo bin ich privilegiert, wie rede ich, wie bewege ich mich, wie wirke ich auf jemand anderes?«, bedeuten eine permanente Selbstoptimierung, die das Kollektive nicht mehr zu denken vermag. Dies drückt sich gegenwärtig auch in der um sich greifenden Einrichtung von übergeordneten autoritären Strukturen aus, die es auf der Grundlage irgendwelcher zu Regeln erstarrten Errungenschaften für den oder die Einzelne_n richten soll. Im Namen von Sensibilität und Achtsamkeit werden in den eigenen Strukturen protostaatliche Sicherheitsstrukturen errichtet und polizeiliche Maßnahmen im Namen von Konsens, Harmonie und Herrschaftsfreiheit etabliert.
Rassismus ist jedoch weniger ein verinnerlichtes falsches Denken, das von einer Sprachpolizei gemaßregelt werden muss, sondern hat die strukturierende Funktion, Menschen im sozialen Raum zu verteilen und auf spezifischen Positionen zu fixieren. D.h. Rassismus ist kein identitäres Projekt, auch wenn es Identitäten produziert, sondern eine Funktion zur ungerechten Distribution von Rechten und Reichtümern. Es geht weniger um Zugehörigkeiten und entsprechende Privilegien, sondern um ungleiche Rechte, die zu diesen Verhältnissen führen. Privilegien sind überdies oft bitter erkämpfte Rechte, die eigentlich für alle gelten sollen. Eine antirassistische Perspektive hat daher im besten Falle das Erkämpfen von Rechten für alle im Blick, und nicht die Durchsetzung von »Repression für alle« (Leo Fischer), wie es in den autoritären »Awareness«-Politiken von Critical Whiteness zu beobachten ist. Entmutigung oder »Discomfort« der Mehrheitsgesellschaft führt nicht zum Empowerment der Marginalisierten. Vielmehr braucht es einen politischen Kampf, eine Intervention, die nicht den Privilegierten das Privileg neidet, sondern es sich durch die Schaffung solidarischer Bündnisse selbst aneignet, auch gegen den Widerstand der Bevorzugten. Statt einerseits individualisierende Optimierung, verbunden mit dem Wunsch, ein immer präsentes Aufpasser-Team möge für die politische Emanzipation sorgen, könnte eine Orientierung aufs Kollektive stehen, die das Gemeinsame an eigenen Überlegungen misst. Dies wäre das genaue Gegenteil eines Awareness-Konzepts, in das die Regression und die Ohnmacht konstituierend eingeschrieben sind.
»Awareness« bedeutet nicht Achtsamkeit, obwohl es sich immer wieder hinter dieser freundlichen Figur versteckt, sondern Bewusstsein. Woher aber soll das Bewusstsein innerhalb von Critical Whiteness kommen, das den anderen erst mal abgesprochen wird? Aus einer politischen Debatte oder der Auseinandersetzung mit US-amerikanischer Geschichte? Diese Frage wird dann relevant, wenn eine andersartige Analyse von Rassismus vertreten und artikuliert wird. Wo also kann widersprochen werden? Wird die spezifische Rassismusanalyse einzelner Gruppen oder »Awareness-Teams« vorher zur Diskussion gestellt, von der schließlich abhängt, wie reagiert wird, was ein Übergriff ist und was eine Lappalie? Stärken diese jeweiligen Analysen die von Rassismus betroffenen Menschen oder schwächen sie diese, weil sie ihnen ein Trauma diagnostizieren? Aus einer migrantischen Perspektive ist es fast unerträglich, wie den potentiell Betroffenen von Rassismus ein Trauma regelrecht abverlangt wird, oftmals auf eine lüsterne Weise. Wer sich dem Trauma verweigert und sich nicht beklagt, ungenügend beachtet zu werden, wird automatisch als weiß eingeordnet. Im Umkehrschluss heißt das, Betroffene von Rassismus müssen traumatisiert sein, dürfen sich nicht trauen zu reden, um ihre Differenz, ihre eigene Erfahrung geltend machen zu können. Damit schafft diese Art von Antirassismus genau die rassistischen Effekte, die sie zu bekämpfen vorgibt. In der vorgeblichen Unterwerfung deutscher Antirassist_innen unter die Aussagen der von Rassismus Betroffenen liegt in Wirklichkeit eine Ermächtigung über diese Menschen. Denn man kann nur denen selbstlos seine Hilfe anbieten, die unter einem oder einer stehen. Diese Bedingung wird stillschweigend mittransportiert; sie ist im Effekt rassistisch.
Schulden aus der Vergangenheit und Wechsel auf die Zukunft
Dieser Text plädiert für eine migrantische Perspektive, die sowohl ein Interesse an praktischer Intervention als auch an theoretischer Reflexion hat und in der es mit Blick auf eine andere Zukunft um den Kampf für gesellschaftliche Rechte geht, statt um neoliberale postpolitische Psychospielchen. Dies betrifft auch das auf die Vergangenheit gerichtete, innerhalb der Critical Whiteness populäre Bild des »Rucksacks voller schöner Privilegien«, den Weiße mit sich herumtragen und der ihnen den Zugang zu allen möglichen Feldern, zu Ressourcen und Reichtumsströmen, zu Anerkennung, Glück und Gesundheit ermögliche. Gleichzeitig, wie Serhat Karakayalı es treffend formuliert, bedeutet dieser Rucksack voller Privilegien im Weltbild von Critical Whiteness ein Rucksack voller Schulden, die zurückzuzahlen seien. Daraus entstünde eine Politik der Schuld, in der Rechte zu einem privilegierten Erbe würden, das aus der Geschichte der Sklaverei resultiere. Jede politische Form der Veränderung wird in dieser Perspektive als unverdiente und ungerechte Ermächtigung verstanden, die das Unrecht, was ihr zugrunde liegt, verschleiern will. Die Geschichte der Migration zeigt aber, dass Rassismus immer wieder überwunden werden konnte, indem Menschen Verhältnisse in einer transzendierenden Weise vorweggenommen hatten, die es noch gar nicht gab. Die eigenen aufgezwungenen Identitätsgrenzen zu überschreiten wie auch die Grenzen des Gegenübers sind darin konstitutive Elemente, wenn es gilt, ein Terrain zu beschreiten, das es noch inexistent ist, aber in diesen Momenten hergestellt werden kann.
Aber wollen die Vertreter_innen von Critical Whiteness wirklich eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse? In den zentralen Texten findet man eine Antwort darauf. Kimberle Crenshaw, eine prominente Vertreterin dieser Theoreme, lehnt eine Überwindung der rassistischen Spaltung explizit ab, weil darin die Identitätspositionen wieder unsichtbar gemacht werden würden. Vielmehr geht es ihr lediglich um eine Vervielfältigung von Identitäten, nicht aber um ihre Aufhebung. Hier wird deutlich, warum der Angriff der mit Critical Whiteness-Ideen ausgestatteten Universitätsschüler_innen genau an jenen Stellen stattfindet, wo es um die Aufhebung von Herrschaftsverhältnissen geht, wo etwas anderes gelingen soll als die alte Scheiße. Stattdessen wird eine spiegelbildliche Verdopplung der Herrschaftsverhältnisse betrieben, die über schematische AbkreuzPositionierungen auf der Bourdieuschen Gesellschaftskarte festgeschrieben werden – weiße-cis-mittelklasse-Männer versus schwarze-trans-subalterne-Frauen und dazwischen alle fein säuber-lich sortierten Schubladen. Darin wird verleugnet, dass Menschen in ihren Identitäten nie identisch sind und genau aus diesen Widersprüchen heraus fähig werden, sich zu emanzipieren. Man kann versuchen diese Abweichungen zwischen den einzelnen Menschen und ihren gesellschaftlichen Verortungen zu negieren. Oder man kann die Momente, die Identitäten zu überschreiten vermögen, als mögliche Ansatzpunkte der Aufsprengung der schlechten Verhältnisse suchen; diese Entscheidung ist grundsätzlicher Natur. Wehe dem Mann, der nicht so richtig männlich ist, wehe dem Weißen, der keiner mehr sein will, wehe der Frau, die kein Bock hat immer auf diese Rolle festgeklopft zu werden, wehe dem gelungenen Bündnis von Deutschen und Nichtdeutschen – ihnen allen wird vorgeworfen, ihre Positionen zu verschleiern und darüber unsichtbare Herrschaftsverhältnisse zu ermöglichen. Es geht aber nicht immer nur um perfide Verschleierung von Machtverhältnissen, sondern eben auch um Veränderung dieser Verhältnisse, um die Schaffung von heterotopischen Orten, an denen bestimmte Regeln (vielleicht auch nur temporär) nicht gelten. Diese Orte brauchen wir, denn dort gewinnen wir ein Bild von etwas, für das es sich lohnt zu kämpfen. Dass es solche Orte nicht geben kann und nicht geben darf in der Meinung vieler Critical Whiteness-Aktivist_innen, dass im Gegenteil Räume von einer selbsternannten Avantgarde permanent kontrolliert werden müssen, ist dystopisch, traurig, hoffnungslos und vor allem bedrohlich – denn diese Konsequenz bedeutet: Harmonie durch Repression für alle. Das ist eine faschistische Fantasie.
Wir können uns nur über Glück und Befreiung vergesellschaften, und nicht über das Verbrechen. Das heißt, dass Begegnung, Kommunikation und gemeinsames Handeln den Raum für Veränderungen öffnen müssen, statt ihn in Vorwegnahme möglicher Verletzungen an den vermeintlichen oder realen Sicherheitsbedürfnissen verletzter oder verängstigter Menschen auszurichten und hermetisch abzudichten. Das ist nicht leicht und auch kein Plädoyer für Härte oder Ignoranz gegenüber realen Unterdrückungserfahrungen, sondern ein Vorschlag ihrer Transzendierung – die einzige Möglichkeit der Überwindung rassistischer Spaltungen in der Gesellschaft. Dieses »wir« soll dabei weder gegeben noch voluntaristisch erscheinen. Viele Abgrenzungslinien hatten historisch ihre Begründung und waren wichtig. Dieses »wir« kann sich nur in konkreten Kämpfen ausbilden, es ist ein solidarisches, kein identitäres Wir. Es geht um einen Prozess, Rassismus in seiner Widersprüchlichkeit zu überwinden: Denn einerseits behauptet er stets eine Differenz – »Ihr seid anders« –, die es zurückzuweisen gilt; andererseits verneint Rassismus diese Differenz – »was willst du? Wir sind doch alle gleich« – wenn sich Leute darauf beziehen, andere Erfahrung mit Rassismus gemacht zu haben und aus diesem situierten Wissen heraus zu sprechen. Antirassismus bedeutet also zum einen, Differenz aufzuheben, andererseits die Unterschiedlichkeiten anzuerkennen. Daraus lassen sich keine festen Regeln ableiten, vielmehr handelt es sich um einen immer wieder neu beginnenden Aushandlungsprozess. Wenn nur aus der schieren Beschreibung der Verhältnisse die politische Haltung entsteht, entwickelt sich kein Raum für Innovationen oder Widerstand. Was fehlt ist eine Vorstellung solidarischer Bündnisse, die auf gegenseitiger Kritik und gemeinsamen Erfahrungen begründet sind. Es ist dies eine Politik und eine Haltung, die auf ein besseres Leben in der Zukunft ausgerichtet sind. Das ist das Gegenteil einer auf Schulden aus der Vergangenheit abgesicherten politischen Moral. Vielmehr ist dieser Kampf ein Wechsel auf die Zukunft, der potentiell alle miteinschließt – selbst die traurigen Gestalten mit ihren schönen Privilegien.
Originaltext: https://linksunten.indymedia.org/de/node/160010