Eine von fünf

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist heute die weltweit häufigste Verletzung der Menschenrechte. Sie ist subtil oder brutal, kulturell tief verankert und dennoch weder zwangsläufig noch naturgegeben.

"Die sexuelle Unterordnung der Frauen wurde in den frühesten Rechtsordnungen institutionalisiert und mit allen dem Staat zur Verfügung stehenden Mitteln durchgesetzt. Die Kooperation der Frauen in diesem System wurde auf verschiedene Art sichergestellt: durch Anwenden von Gewalt, durch ökonomische Abhängigkeit vom männlichen Familienoberhaupt, durch das Gewähren von klassenspezifischen Privilegien für sich anpassende und abhängige Frauen der Oberschichten und durch die künstlich-willkürliche Unterteilung der Frauen in respektable und nichtrespektable Frauen." Gerda Lerner (Die Entstehung des Patriarchats, 1991)

Gewalt gegen Frauen umfasst allgemein jede Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität, die mit dem Geschlecht des Opfers wie des Täters zusammenhängt. Dabei gilt es, die Überschneidungen der scheinbar so unterschiedlichen Gewaltformen aufzuzeigen und die Alltäglichkeit männlicher Gewalt gegen Frauen sichtbar zu machen. Vor allem durch die Frauenbewegung, in der Folge auch die Gewaltforschung, werden heute alle – körperliche, psychische, sexuelle und ökonomische – Erscheinungsformen dieser Gewalt als zusammenhängendes und sich gegenseitig bedingendes Ganzes gesehen, das der Erhaltung der Macht und des Status quo dient, Frauen massiv in ihrer Entwicklung hemmt und sie systematisch an gesellschaftlicher Teilhabe hindert (Exkurs: Die häufigsten Formen von Gewalt). Wer sich also mit dem Thema Gewalt an Frauen auseinandersetzt, findet ein riesiges Netz aus individuellen Handlungen, die sich strukturell und institutionell auf solide Rückendeckung verlassen können. So sehr sich gewalttätige Männer auf individueller Ebene also der institutionellen und strukturellen Kooperation sicher sein können, so sehr baut die systemimmanente und institutionelle Unterdrückung der Frauen auf die Mithilfe der Männer auf persönlicher Ebene.

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Die häufigsten Formen von Gewalt:

  • Physische Gewalt sind alle Formen von Misshandlungen: Stoßen, Treten, Schlagen, An-den-Haaren-ziehen, Verbrennen, Prügeln mit Gegenständen bis hin zum Mord.
  • Angst machen als zusätzliches Mittel und Teil der Dynamik von Gewalt gegen Frauen; Angst vor weiterer Gewalt entwickelt sich oft zum stärksten Instrument der Unterdrückung.
  • Belästigung und Terror wie ständige Anrufe, Anrufe mitten in der Nacht, Drohbriefe, Bespitzelung und Verfolgung, verbale Drohungen. Drohungen werden aber auch mit Waffen verstärkt und gegen Dritte (Kinder, Verwandte, Haustiere) gerichtet.
  • Psychische Gewalt beinhaltet emotionale und verbale Misshandlungen zur Zerstörung des Selbstwertgefühls und der psychischen Gesundheit der Betroffenen wie zum Beispiel: Lächerlichmachen in der Öffentlichkeit, beleidigende Äußerungen über das Aussehen oder den Charakter, Schimpfen und Toben, aber auch Behauptungen wie die Frau sei verrückt oder psychisch krank, bilde sich etwas ein, sei selbstmordgefährdet usw.
  • Soziale Gewalt ist ein Verhalten, das darauf abzielt, die Frau zu isolieren, wie zum Beispiel: Verbot von Kontakten mit Familie oder FreundInnen, einsperren zu Hause, absperren des Telefons usw.
  • Sexuelle Gewalt sind alle sexuellen Handlungen, die der Frau aufgedrängt oder aufgezwungen werden. Beispiele dafür sind: erzwungene vaginale, orale oder anale Penetration, Zwang zu anderen sexuellen Handlungen, erzwungenes Anschauen von Pornographie usw. Sexuelle Gewalt ist Aggression und Machtmissbrauch und nicht das Resultat unkontrollierbarer sexueller Triebe.

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Gewalt ist international

Jede Art von Brutalität gegen Frauen findet weltweit in kulturellen Überlieferungen, pseudoreligiösen Vorstellungen und Traditionen ihre Begründung: 2 Millionen Mädchen – 6000 jeden Tag – werden jährlich an ihren Genitalien verstümmelt – das weibliche Gegenstück zu dem, was die vollständige oder teilweise Amputation des Penis bedeuten würde. In Indien werden jährlich mehr als 5000 Frauen getötet, weil ihre Schwiegereltern die Mitgift für zu niedrig erachten. Weltweit fehlen annähernd 60 Millionen Frauen, da weibliche Embryos hauptsächlich in Südostasien, China und Nordafrika gezielt abgetrieben werden. Vergewaltigung wird in allen Kriegen als Waffe eingesetzt. Der internationale Handel mit Frauen vor allem aus Ländern der sogenannten dritten Welt und Osteuropas und ihre Zwangsprostitution blüht. Alle neun Sekunden wird in den USA eine Frau von ihrem Intimpartner körperlich missbraucht.

Tatort Beziehung

Für Abermillionen Frauen ist der gefährlichste Ort die eigene Familie. Nicht vor Angriffen von Fremden in dunklen Straßen müssen Frauen erfahrungsgemäß am meisten Angst haben, sondern vor der alltäglichen Brutalität von Freunden, Verwandten und Geliebten. Gewalt im eigenen Heim ist international und alltäglich, unabhängig von Erziehung und Einkommen. Auch zeigen (bisher nur) Statistiken über Vergewaltigungen in sogenannten Industrie- und Entwicklungsländern bemerkenswert ähnliche Muster.

In Deutschland wurde jede 7. Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung. In Frankreich gehen Schätzungen von jährlich ca. vier Millionen vergewaltigten und geschlagenen Frauen aus. In Schweden wird ungefähr alle 20 Minuten eine Frau geschlagen, jeden 10. Tag stirbt eine Frau durch einen Mann, der ihr nahe stand. Eine 1997 in Finnland durchgeführte Studie ergab, dass 40% der befragten erwachsenen Frauen nach ihrem 15. Geburtstag und 29% vor ihrem 15. Lebensjahr Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt durch Männer waren. Laut einer repräsentativen Untersuchung in der Schweiz 1996 hatte mehr als eine von fünf Frauen während ihres Lebens unter der physischen oder sexuellen Gewalt durch ihren Intimpartner zu leiden. Nach einer kanadischen Schätzung werden ein Viertel bis ein Drittel aller Mädchen und Frauen Opfer von Männergewalt. Auf Europa übertragen, würde dies 42-56 Millionen Betroffene bedeuten.

Eine von fünf Frauen ist laut Schätzungen in Österreich von Gewalt durch einen männlichen Verwandten, Freund oder Bekannten betroffen. Im Gesundheitsbericht 1996 der Stadt Wien, wird von mindestens 6000 sexuellen Gewaltdelikten ausgegangen, die pro Jahr gegen Frauen in Wien verübt werden. 1999 lag die Zahl der geschätzten Vergewaltigungen pro Jahr in Österreich bei ca. 5.000. Das wiederum bedeutet, dass in Österreich mindestens alle zwei Stunden eine Frau vergewaltigt wird.

Nicht übersehen oder unterschätzt werden darf auch die sogenannte "beobachtete" Gewalt. Nicht nur, dass Kinder in 70% der Fälle, in denen Frauen misshandelt werden, auch direkt von Gewalt betroffen sind, werden sie durch beobachtete Gewalt nachweislich massiv in ihren Entwicklungschancen gehemmt und besteht gerade bei Buben ein hohes Risiko, später selbst gewalttätig zu werden.

Als in den siebziger Jahren die Aufklärungsarbeit über Gewalt gegen Frauen durch die Frauenbewegung begann, musste zuallererst überhaupt der Opferstatus vergewaltigter Frauen erkämpft werden. Nur die Opferrolle ließ es zu, das Ausmaß des Leids, die politische Relevanz und die juristische Bedeutung aufzuzeigen. Bis dahin (und immer noch) wurden vergewaltigte Frauen nur dann als Opfer behandelt, wenn sie sich mit allen Mitteln körperlich gewehrt haben und nicht der leiseste Zweifel an ihrer moralischen Unschuld bestand. Die Opferrolle unterstellt betroffenen Frauen jedoch bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen, wie Schwäche, Hilflosigkeit und Passivität. Außerdem entsteht dadurch das Bild, es gäbe eine individuelle Kontrollierbarkeit und damit Verhinderung von Gewalt. Hier ist vom verschreckten, schüchternen Mädchen die Rede, dem das passiert, aber mir nicht. Diese Mythen bewirken zwar Mitleid, aber kein politisches Handeln.

"Nicht selten gewinnen wir also den Eindruck, dass wir Täter lieben, wenn eine Identifikation mit ihnen unser Selbstwertgefühl erhöht und unsere Ängste mindert, und Opfer hassen, die uns an unsere eigenen Schwächen und Erlebnisse der Hilflosigkeiten erinnern oder Schuldgefühle in uns erwecken. Mehr oder weniger unbewusst versuchen wir deswegen, den Opfern selber die Schuld an ihrem Leiden zuzuschieben oder deren Existenz möglichst zu verdrängen." (Mitscherlich 1991, S.197)

Also ging es in weiteren Schritten darum, die passive Auslegung des Opferbegriffs zu brechen. Dafür ist besonders wichtig, den temporären Zustand des Opferseins hervorzuheben. Das heißt, Frauen sind in der Situation der Gewalterfahrung Opfer, aber nicht in allen anderen Lebensbereichen. Diese Einsicht erleichtert einerseits den Umgang mit Schuldgefühlen, sich nicht genug (körperlich) gewehrt zu haben und bewirkt andererseits die Subjektwerdung des Opfers.

Die Auseinandersetzung mit Gewalt an Frauen wurde in der Folge durch die bedeutende Erkenntnis aus der feministischen Diskussion erweitert, dass Frauen nicht die besseren Menschen sind und also (nur) aus "sittlichen" Gründen Rechte haben, sondern dass Frauen Rechte haben aufgrund ihres Menschseins. Menschenrechte. Somit wurde also immer weniger der Verletzung der "Unschuld" irgendeiner Unschuldigen Gewicht beigemessen, sondern zunehmend der Rechtsverletzung durch die Täter. Sobald also "private" Gewalt gegen Frauen als Rechtsverletzung anerkannt wird, muss sich der Staat für deren Beendigung verantwortlich fühlen. Sollte die Verhinderung einer Menschenrechtsverletzung nicht gelingen, muss sich ein Staat zumindest um optimale Unterstützung und Wiedergutmachung kümmern.

Ursachen

Wir leben in einer Gesellschaft, die von gleichen Rechten, Pflichten, Besitz, Einkommen, Arbeitsteilung usw. zwischen Frauen und Männern weit entfernt ist. 90% des in Geld gemessenen Einkommens und 99% des Vermögens werden weltweit von Männern, also nicht ganz der Hälfte der Weltbevölkerung kontrolliert. In Österreich verdienen Arbeiterinnen bei gleicher Arbeit durchschnittlich um 35% und weibliche Angestellte um 40% weniger als ihre männlichen Kollegen. Das Machtungleichgewicht zwischen Frauen und Männern gilt als Hauptursache für Gewalt an Frauen. (Dies wurde 1993 auch von derGeneralversammlung der Vereinten Nationen erklärt.) Kein Ende dieser Entwicklung naht. Ganz im Gegenteil: Sozialabbau, Erwerbslosigkeit und Flexibilitätsanforderungen schaffen zusätzliche Abhängigkeiten, statt sie zu bekämpfen. Weltweit fordert neoliberales Wirtschaften Unabhängigkeit und Flexibilität ein. Diese Ideologien bauen massiv auf Frauen, die selber keinem anspruchsvollen Beruf nachgehen und zu Hause genug Zeit haben, dem gut ausgebildeten, gesunden Mann den Rücken freizuhalten. "Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau."

Ein ursächlicher Zusammenhang besteht ebenso zwischen psychischer Gewalt und den gesellschaftlichen Rollenanforderungen an Frauen, die es häufig Frauen sehr schwer machen unterdrückendes, gewalttätiges und grenzüberschreitendes Verhalten in einer Beziehung überhaupt zu erkennen. Gewaltmuster finden sich in jeder Gewaltbeziehung, der Übergang zur sogenannten Normalität für Frauen ist aber fließend. Dass körperliche Gewalt nie das einzige ist, soll der Exkurs: "Gewalt Verstehen" noch ausführlicher aufzeigen.

Durch systematische Bedrohungen, Einschüchterungen und Isolation fühlen sich Frauen häufig in ihren Beziehungen gefangen. Frauen, die in Gewaltbeziehungen leben, versuchen sich nicht selten dem Mächtigeren anzupassen um die Situation nicht noch schlimmer werden zu lassen, da sie nicht wissen, wie der Bedroher auf Reaktionen von außen reagieren würde. Dies führt dazu, dass die Außenwelt mit Unverständnis reagiert, weil die Betroffene eben nicht so eindeutig und konsequent handeln kann, wie sich das Außenstehende erwarten würden. Häufig dauern Entscheidungen in solchen Fällen länger, als die Unterstützung von Außenstehenden angeboten wurde. Die Erfahrung von unzureichender sozialer Unterstützung, trägt natürlich nicht dazu bei, an die eigene Sicherheit und Unverletzlichkeit zu glauben, sondern hat Rückzugstendenzen, Wahrnehmungsstörungen bis hin zu schweren psychischen Störungen, Amnesien usw. zur Folge, die die Gewalt erträglicher machen sollen.

Als zentraler Schritt um von Gewalt betroffenen Frauen zu helfen muss ihre Isolation durchbrochen werden, das Private politisiert werden und endlich Schluss sein mit der Solidarisierung oder Bemitleidung gewalttätiger Männer, die noch immer so sehr auf verlogenes Schweigen zählen können.

"Die Versuchung, sich auf die Seite des Täters zu schlagen, ist groß. Der Täter erwartet vom Zuschauer lediglich Untätigkeit. Er appelliert an den allgemein verbreiteten Wunsch, das Böse nicht zu sehen, nicht zu hören und nicht darüber zu sprechen. Das Opfer hingegen erwartet vom Zuschauer, dass er die Last der Schmerzen mitträgt. Das Opfer verlangt Handeln, Engagement und Erinnerungsfähigkeit." Judith L. Herman (Die Narben der Gewalt, 1994)

Von Martina Wurzer

Quellen:

  • Heiliger, Hoffmann (HgInnen), Aktiv gegen Männergewalt, 1998
  • Anita Heiliger, Männergewalt gegen Frauen beenden, 2000
  • Skriptum zur Ringvorlesung "Gewalt im sozialen Nahraum", Uni Wien 02
  • Statistik Austria 2002
  • www.aoef.at - Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser
  • www.wave-network.org - Women Against Violence Europe


Aus: "Suspect" Nr. 6 (2004)

Originaltext: www.gajwien.at


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