Anarcha-Feminismus (1982)

Hier liegt die Zusammenfassung des politisch-feministischen Programms vor, das auf dem dritten Kongress der ANORG (der anarchistischen Föderation Norwegens) vom 1. bis 7. Juni 1982 einstimmig beschlossen wurde.

Überall auf der Welt hat die Mehrheit der Frauen nicht das geringste Recht, über die wichtigen, ihr Leben betreffenden Fragen zu entscheiden.

Die Frauen unterliegen zwei Formen der Unterdrückung:

  1. die allgemeine soziale Unterdrückung, die besonders die Frauen betrifft,
  2. die sexuelle Unterdrückung und die Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts.


Es gibt fünf Hauptarten der Unterdrückung:

  • die ideologische Unterdrückung als Gehirnwäsche durch bestimmte kulturelle Traditionen, durch die Religion, die öffentliche Meinung und Propaganda; die Manipulation durch gewisse Wertvorstellungen und die Art und Weise, die Gefühle und Bedürfnisse der Frauen nicht ernst zu nehmen.
  • die staatliche Unterdrückung durch hierarchische Organisationsstrukturen, in denen von Oben Befehle erteilt werden; Strukturen, die häufig in zwischenmenschliche Beziehungen und auch in das sogenannte "Privatleben" eingedrungen sind.
  • die ökonomische Ausbeutung der Produzentinnen und Konsumentinnen, der unterbezahlten Arbeiterinnen und Hausfrauen.
  • die Gewalt in der Gesellschaft ebenso wie in der Privatsphäre, die indirekt wegen nicht vorhandener Alternativen notwendigerweise zustande kommt, oder direkt als physische Gewalt auftritt.
  • das Fehlen einer geeigneten Organisationsform und infolgedessen ein Despotismus, der Verantwortungsbewusstsein hemmt und Passivität und Gleichgültigkeit fördert.


Alle diese Faktoren wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig; es entsteht ein Teufelskreis. Dagegen gibt es kein Universalmittel, aber dieser Teufelskreis ist nicht unzerstörbar. Der Anarcha-Feminismus ist eine Sache des Bewusstseins; eines Bewusstseins, das jegliche Bevormundung bekämpft. Aus dieser Sicht erklären wir uns die Prinzipien einer zur Freiheit gerichteten Gesellschaft.

Der Anarcha-Feminismus will die Unabhängigkeit und die Freiheit der Frauen gleichbedeutend der der Männer erreichen; eine gesellschaftliche Struktur und ein gesellschaftliches Leben, in dem niemand einem anderen über- oder untergeordnet ist und alle die gleichen Rechte haben, die Frauen wie die Männer. Dieses Prinzip gilt in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und auch in der Privatsphäre.

Der Anarcha-Feminismus beinhaltet, dass die Frauen sich selbst mit ihren eigenen Angelegenheiten befassen und selbst darüber entscheiden, individuell und gemeinsam. Bei den konkreten Fragen, die beide Geschlechter betreffen, müssen Frauen und Männer gemeinsam die Entscheidungen treffen. Frauen müssen über ihren Körper verfügen können und alle Fragen, die Verhütung und Schwangerschaft betreffen, müssen von den Frauen selbst entschieden werden (ich nehme einmal an, dass damit nicht gemeint ist, dass Verhütung "Frauensache" ist und Männer sich aus ihrer Verantwortung stehlen können?? Anm. einer von anarchismus.at). Die männliche Vorherrschaft, die Auffassungen, die Frauen als Eigentum betrachten, die Machtausübung gegenüber Frauen und unterdrückerische Gesetze müssen bekämpft werden; insbesondere muss für Autonomie und ökonomische und soziale Unabhängigkeit der Frauen gekämpft werden.

Ebenso sollten Selbsthilfe-, Arbeits- und Diskussionsgruppen zu Frauenfragen und -kultur unter direkter Beteiligung von Frauen entstehen und funktionieren. Die traditionelle Familie patriarchalischer Struktur muss ersetzt werden durch freie Vereinigungen von Männern und Frauen, die die gleichen Möglichkeiten zu Entscheidungen besitzen und die Autonomie und Integrität des Individuums gegenseitig respektieren. Die herrschenden Sexualvorstellungen in Erziehung, Medien und in der Arbeitswelt müssen abgeschafft werden. Eine vollständige Arbeitsteilung unter den Geschlechtern bei jeglicher Arbeit in Haushalt und Erziehung ist der erste Schritt dazu.

Die Struktur des Arbeitslebens muss radikal geändert werden; für mehr Teilzeitarbeit und gleichberechtigte Zusammenarbeit zu Hause wie in der Gesellschaft. Der Unterschied zwischen Frauen- und Männerarbeit muss abgeschafft werden. Die Erziehung und die Beschäftigung mit den Kindern muss ebenso Aufgabe der Männer wie der Frauen sein. Die Abschaffung der Unterdrückung der Frauen als großes Ziel kann niemals durch Machtverleihung an Frauen oder Ernennung von weiblichen Ministern erlangt werden.

Unserer Meinung nach führen die marxistische und bürgerliche Theorie und Praxis zur Frauenbewegung den Kampf für die Befreiung der Frauen in eine Sackgasse. Wir sind der Ansicht, dass es keinen Feminismus ohne Anarchismus geben kann. Mit anderen Worten, der Anarcha-Feminismus strebt keinesfalls die Machtergreifung durch Frauen oder Einbeziehung von Frauen in Regierungspositionen an, sondern eine gesellschaftliche Ordnung, in der Macht und Regierungsgewalt überflüssig werden.

Wir meinen, die doppelte Unterdrückung der Frauen macht einen intensiveren Widerstand und Kampf erforderlich: einerseits in föderativen Zusammenschlüssen von Frauen, andererseits in anarchistischen Gruppen. Der Anarcha-Feminismus ermöglicht die Existenz dieser doppelten Organisationsform. Die Anarchisten müssen selbstverständlich den Widerstand der Frauen unterstützen; jede andere Haltung entspräche nicht den Prinzipien des Anarchismus. Gleichzeitig ist es die Aufgabe des Anarcha-Feminismus, die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Feminismus und Anarchismus zu zeigen, denn es wird keinen Anarchismus ohne Feminismus geben.

Ein wichtiger Bestandteil des Anarcha-Feminismus ist die Auffassung, dass gesellschaftliche Veränderung nicht "morgen" oder "nach der Revolution" beginnt, sondern heute und jetzt. Es muss ein ständiger radikaler Prozess der Veränderung sein. Wir müssen den Anfang heute machen, uns die Unterdrückung im alltäglichen Leben bewusst machen und gegen diese Wertvorstellungen kämpfen. Unser Handeln muss selbständig sein, ohne irgendeinen Führer, der für uns entscheidet: wir müssen unsere Entscheidungen über persönliche Fragen allein treffen; bei den Fragen, die nur uns Frauen betreffen, müssen wir Frauen zusammen entscheiden, bei allgemeinmenschlichen Problemen, die uns alle betreffen, müssen Frauen und Männer gemeinsam die Lösung finden.

Aus: "Trafik" Nr.11 (Januar 1984)

Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/a42.html


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