Ulrich Bröckling - Kriege gibt es nur, weil es Staaten gibt. Facetten anarchistischer Militärkritik 1849-1934
I.
Walter Benjamins Wort, seit Bakunin habe es »in Europa keinen radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben«, (1) benennt den Kerngedanken anarchistischer Theorie und Praxis: Anarchismus ist Freiheitsbewegung; sein Ziel soziale Ordnung ohne Herrschaft von Menschen über Menschen.
Wie die übrigen revolutionären Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts knüpfte auch der Anarchismus an die bürgerliche Emanzipation und das Denken der Aufklärung an, um sie radikalisierend zu überschreiten. Während der sozialdemokratische wie der parteikommunistische Teil der Arbeiterbewegung allerdings die Eroberung der politischen Macht auf ihre Fahnen schrieben, bekämpften die Anarchisten den Staat als mächtigste Zusammenballung organisierter Gewalt. An seine Stelle sollte die freie Assoziation treten, den sozialen Zusammenhang ein Netzwerk freiwilliger, stets kündbarer Vereinbarungen zwischen souveränen Individuen und Gruppen stiften. Der Anarchismus verallgemeinerte das Vertragsdenken des Liberalismus, der uneingeschränkte Freiheit nur für die Sphäre der Ökonomie gelten lassen, auf rechtliche Reglementierung und staatliches Gewaltmonopol zum Schutze des Privateigentums aber nicht gänzlich verzichten wollte.
Dem Ziel der Herrschaftslosigkeit korrespondierte ein anthropologischer Optimismus: Wenn nur die Organe der Unterdrückung und die Ideologien der Autorität abgeschafft wären, so die Überzeugung der Anarchisten, würden die Menschen in spontaner Solidarität ihre Beziehungen regeln. Nicht von Appellen und Petitionen, nicht von Beteiligung an Parlamenten erhofften sie die Befreiung der Gesellschaft, sondern von direkter Aktion und egalitärer Selbstorganisation. Sie propagierten daher Dienstverweigerung, Boykott, Sabotage, Streik bis hin zur allgemeinen Volkserhebung.
Ergänzt werden sollten die Aktionen der Nichtzusammenarbeit und Obstruktion durch den Aufbau autonomer, rätedemokratisch organisierter Institutionen: selbstverwalteter Betriebe und Konsumgenossenschaften, freier Schulen oder Siedlungsprojekte. Dem ausgeprägten Voluntarismus der Anarchisten entsprach das moralische Pathos ihrer Schriften: Letztlich sollte alles von der Entscheidung des Einzelnen abhängen, sich in revolutionärer Assoziation mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen und die Zersetzung der Macht zu organisieren.
Aus der Kritik des staatlichen Gewaltmonopols folgte zwangsläufig die radikale Opposition gegen seine Exekutoren, insbesondere gegen die Institution des Militärs. Anti-Staatlichkeit war ohne Antimilitarismus nicht zu haben; umgekehrt mussten alle Anstrengungen scheitern, Krieg und Bürgerkrieg aus der Welt zu schaffen, wenn sie nicht zugleich auf die Abschaffung aller staatlichen Macht zielten. Wie für die Anarchisten die Differenzen zwischen Monarchie und Republik gegenüber dem allen Staatsformationen gemeinsamen Prinzip zentralisierter Herrschaft in den Hintergrund traten, so richtete sich ihre Militärkritik gegen jede Form von Heeresorganisation. Es mochte aggressive und weniger aggressive Staaten und Armeen geben, die Durchdringung der Gesellschaft mit soldatischen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen mochte ausgeprägter oder weniger ausgeprägt sein - militaristisch war letztlich jedes Militär.
Wenn von einem spezifisch anarchistischen Antimilitarismus zu sprechen ist, so kennzeichnet diesen nicht eine originäre Kritik bestimmter Militarismen oder militaristischer Phänomene, sondern die Konzentration auf den konstitutiven Zusammenhang von Staat und Krieg.
Hier liegt auch der wesentliche Unterschied zum Antimilitarismus der marxistisch geprägten Arbeiterbewegung, die zwar das Heer des bürgerlichen Staates als Instrument imperialistischer Expansionspolitik und repressiver Klassenorganisation attackierten, deren Miliz-Konzepte für den kommenden sozialistischen Volksstaat aber trotz aller defensiven Orientierung auf eine Durchmilitarisierung der Gesellschaft hinausliefen - man denke nur an Bebels Vorschläge zur obligatorischen Wehrertüchtigung schon in der Schule. (2)
Die Staatsozialisten kritisierten nicht das Prinzip der Subordination unter ein Gesamtinteresse, sondern vielmehr dass die bürgerlichen Staaten eben dieses Gesamtinteresse zugunsten einer privilegierten Minderheit verrieten.
Für die Anarchisten dagegen bedeutete schon die militärische Disziplin (wie die der Partei) den Tod individueller Freiheit; gegen die Zumutungen des Gehorsams proklamierten sie die allgemeine Insubordination. Die strikt antiautoritäre Ausrichtung schärfte ihren Blick sowohl für die sozialpsychologischen Mechanismen der Soldatenfabrikation wie für die Verstaatsbürgerlichung und Militarisierung der sozialdemokratischen und parteikommunistischen Opposition.
Auf diese beiden Aspekte konzentriert sich auch der folgende Überblick. Er erhebt nicht den Anspruch einer systematischen Darstellung, so bleibt die Praxis des libertären Antimilitarismus vollständig ausgeblendet (3), sondern skizziert anhand exemplarischer Fundstücke aus der anarchistischen Publizistik zwei Kernthemen antistaatlicher Militärkritik.
II.
Den Auftakt bildet eine weithin unbekannte Kritik der Revolution von 1848/49, insbesondere des badischen Aufstands vom Frühjahr 1849, die lange vor Bakunin, Kropotkin, Landauer oder den Anarchosyndikalisten bereits in nuce alle Argumente des anarchistischen Antimilitarismus versammelt. (4) Ihr Verfasser, Christian Gottlieb Abt, ein radikaldemokratischer Publizist, veröffentlichte sie im Schweizer Exil wenige Monate nach der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstands, der mit einer Meuterei nahezu der gesamten badischen Truppen begonnen hatte. Abt feierte diese Meuterei überschwänglich »als revolutionärsten Akt unseres Jahrhunderts ..., vor dem alle Pariser Straßenkämpfe zu kindischen Versuchen herabsinken«: »Tausende von Menschen, zusammengetrieben zu einem abstrakten Kollektivum, lösten sich, bestimmt durch die Rücksicht auf ihre individuellen Interessen, aufgeklärt über ihren wahren Vorteil, lösten sich auf in ihre natürlichen Bestandteile, in ihre menschlichen Wesenheiten, Soldaten machten sich zu Menschen.« (5)
In diesem Zusammenhang stellte Abt grundsätzliche Überlegungen über die Quellen des militärischen Gehorsams an. Dieser beruhe, so sein Fazit, gleichermaßen auf Gewalt wie auf Moral: »Auf der Gewalt insofern, als der Einzelne stets die Organisation der Übrigen als höhere Gewalt sich gegenüber hat, die den geringsten Versuch von seiner Seite, sein Interesse geltend zu machen, schonungslos niederschmettert. Auf der Moral insofern, als dem Einzelnen, eben die freiwillige Unterwerfung unter das Kommando, die freiwillige Subordination unter ein ihm fremdes Interesse als sein höchstes solidarisches Interesse erscheint, als das einzige Motiv seiner Tätigkeit gilt. Wie die Untertanenmoral die wichtigste Stütze der staatlichen, so ist die Soldatenmoral, jene Gesinnung des Einzelnen, welche in der Insubordination das größte Verbrechen, in der Zufriedenheit der Vorgesetzten die größte Befriedigung findet, die Grundlage der militärischen Organisation.« (6)
Gegen eine repressionsfixierte Perspektive, die den gehorsamen Soldaten ausschließlich als Opfer militärischer Zwangspraktiken sah, setzte Abt die Erkenntnis, dass keine Herrschaft sich dauerhaft allein auf gewaltsame Unterwerfung stützen kann, sondern der wie auch immer motivierten Loyalität der Befehlsempfänger bedarf.
Bewegte er sich damit noch ganz in den Bahnen traditioneller Kritik an der »freiwilligen Knechtschaft«, wie sie seit dem gleichnamigen Essay des Montaigne-Freunds Etienne de La Boetie (7) als subversive Unterströmung die politische Philosophie der Neuzeit begleitet hatte, so gelangte er im Weiteren zu grundlegenden Einsichten in die fatale Dialektik von Revolution und Krieg: Die badische Revolutionsregierung hatte angesichts der Intervention preußischer Truppen vor der Alternative gestanden, entweder kampflos aufzugeben oder das »Fest des Ungehorsams« zu beenden und eine disziplinierte Streitmacht aufzustellen. Mit meuternden Soldaten, die es leid waren, sich gleich von wem herumkommandieren zu lassen, ließ sich weder ein Staat machen noch ein feindliches Invasionsheer Zurückschlagen. Trotz angeordneter allgemeiner Mobilmachung und verzweifelter Abwehrkämpfe hatten die Aufständischen schon nach wenigen Wochen vor der preußischen Übermacht kapitulieren müssen.
Die militärischen Anführer der Volkswehren und Freikorps gaben nicht zuletzt der mangelnden revolutionären Disziplin die Schuld an der Niederlage. Der Kommandant der badischen Truppen, der polnische General Mieroslawski, forderte gar in jakobinischer Manier, man hätte bei den Revolutionstruppen nicht nur jeder Aufreißerei »durch die furchtbarsten Strafen und ein unnachsichtiges Überwachungssystem« entgegenarbeiten, sondern auch das gesamte »öffentliche Leben in die Feldlager verlegen und daselbst die ganze wehrfähige Nation zur Pünktlichkeit, zur Uniform, zu der heroischen Unempfindlichkeit der regelmäßigen Truppen nötigen müssen«. (8)
Abt zog die entgegengesetzte Konsequenz und weigerte sich, die durch Aufkündigung des Gehorsams gewonnene Freiheit den militärischen Notwendigkeiten zu opfern: »Wie, ich soll gezwungen werden«, schrieb er, bezogen auf die Ausrufung der allgemeinen Wehrpflicht durch die Revolutionsregierung, »mein Leben aufs Spiel zu setzen, für die Erhaltung von Zuständen, die mich gar nicht interessieren, für die Erhaltung einer Regierung, die meiner Ansicht nach alles verpfuschen muss! Ist das Freiheit, ist das die Errungenschaft der Revolution, das die Frucht meiner langjährigen Opposition gegen die Herrschaft? >Wenn keine Zwangspflicht zu Militärdiensten existiert< erwidert man mir, >dann kann die Revolution nicht behauptet werden.< In diesem Falle, sage ich, hat die Mehrzahl der Bevölkerung kein Interesse für die Revolution und braucht keine Freiheit, und wird sie auch nicht behaupten; wenn aber ihre Interessen an die Revolution geknüpft sind, dann stehen die Kämpfer freiwillig auf, um den Feind ihrer Freiheit zurückzuschlagen. Jede Revolution ist verloren, welche sich nicht auf das Prinzip der Freiwilligkeit stützt, und welche dieses Prinzip nicht zum leitenden Gedanken aller ihrer Maßregeln macht.« (9)
Abts Antimilitarismus avant la lettre speiste sich nicht aus einem Gewaltlosigkeitsimperativ, sondern aus seinem radikalen Individualismus. Militärische Organisation und persönliche Freiheit, so seine Überzeugung, schlossen einander aus, und eine Revolution, die diesen Namen verdiente, war nicht mit kriegerischen Mitteln zu verteidigen, ohne ihre Grundlagen zu verraten. Während andere geschlagene Demokraten aus dem Exil das hohe Lied der re-volutionären Disziplin sangen, die sie doch nicht hatten organisieren können, (10) blieb Abts Urteil aporetisch: »So erfreulich und wünschenswert auch die Meuterei der badischen Soldaten als politisches Ereignis erscheinen musste, als ebenso beklagenswert und unzweckmäßig musste sie vom militärischen Standpunkt aus betrachtet werden.« (11)
III.
Als Abt seine Abrechnung mit der badischen Revolution publizierte, konnte von einer anarchistischen Bewegung noch keine Rede sein. In Frankreich übten zwar Proudhons Schriften - der erste, der das Attribut »Anarchist« zur Selbstbezeichnung wählte - schon seit den frühen vierziger Jahren großen Einfluss auf die junge Arbeiterbewegung aus, doch erst nach 1860 entwickelte sich insbesondere im schweizerischen Jura wie in den romanischen Ländern der Anarchismus unter dem Einfluss Bakunins zu einer Sozialrevolutionären Bewegung. In Deutschland wiederum waren es vor allem abtrünnige oder von der Partei ausgeschlossene Sozialdemokraten, die in der Zeit des Sozialistengesetzes die ersten anarchistischen Zirkel bildeten. (12)
Die Kritik an der im Vergleich zu den marginalen libertären Keimen übermächtigen Arbeiterpartei nahm deshalb in der anarchistischen Presse großen Raum ein. Anarchistischer Antimilitarismus, das war im Deutschen Kaiserreich zunächst eine publizistische Auseinandersetzung mit dem »proletarischen Patriotismus« und der ausschließlich parlamentarischen Kriegsgegnerschaft der SPD. Zu dieser Engführung trug die staatliche Repression nicht unwesentlich bei, die sich mit besonderer Härte gegen die anarchistischen Organe richtete und eine unzensierte Agitation und erst recht direkte Aktionen massiv behinderte. Solange es nicht offen gegen den Kaiser und sein Militär, sondern gegen die von staatlicher Seite ebenfalls als Vaterlandsverräter diffamierten Sozialdemokraten ging, war die Zensur weniger streng.
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ragten, zumindest in Sachen Antimilitarismus, zwei Zeitschriften und ihre beiden Redakteure aus der radikalen Publizistik in Deutschland heraus: der »Sozialist«, den Gustav Landauer redigierte (13), und Franz Pfemferts Wochenzeitschrift »Die Aktion« (14). Beide sahen sich nicht allein als politische bzw. antipolitische Publizisten. Landauer schrieb selbst literarische Texte und verfasste zahlreiche literaturkritische und -historische Beiträge; Pfemfert bot mit seiner Zeitschrift den »jungen Wilden« des literarischen Expressionismus ein Forum.
Anarchist auch dem eigenen Verständnis nach war von den beiden nur Landauer, der mit dem »Sozialistischen Bund« ein auf kommunitäre Siedlungsprojekte gegründetes Programm der Entstaatlichung verfolgte. (15) Pfemfert dagegen ordnete sich - zumindest vor dem Weltkrieg - keiner politischen Organisation zu, sondern wollte mit seiner Zeitschrift, wie er in der ersten Nummer erklärte, »den imposanten Gedanken einer Organisierung der Intelligenz fördern« und sie zum »Organ des ehrlichen Radikalismus« machen. 1918 schloss er sich zunächst dem Spartakusbund an, fand sich dann bald in der rätekommunistischen Opposition zur KPD wieder und näherte sich in den zwanziger Jahren der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter-Union an. (16)
So unterschiedlich der feingeistige Landauer, der Meister Eckart übersetzte, und der Polemiker Pfemfert, der ähnlich Karl Kraus seiner Zeit das Urteil anhand ihrer Zeitungen sprach, im Übrigen auch waren, sie trafen sich in ihrer kompromisslosen Ablehnung nationaler Kriegsmobilisierung und des vorauseilenden Gehorsams der Sozialdemokratie. Pfemfert brachte das Programm 1912 auf eine Formel: »In einer Zeit, in der Berufssozialdemokraten es fertig bringen, >ein Volksheer, groß und stark an Zahl< zu wünschen, das >bereit dem fremden Eroberer...<, in dieser Zeit ist es heilige Pflicht, die Ehre der Vaterlandslosigkeit zu verteidigen.« (17)
Landauer erinnerte an die Erkenntnis des »Kommunistischen Manifests«, dass der Proletarier kein Vaterland hat. Der »sozialistisch fühlende Arbeiter«, schrieb er, will keinen Krieg, »weil der Krieg ihm Blut und Tod und Schrecken und Not bedeutet, dabei aber die sämtlichen Interessen der Eroberung- und Staatenpolitik ihn nicht interessieren. Man mag ihm noch so oft sagen, dass die Interessen seiner Unternehmer, solange er im kapitalistischen Staat ein beraubter und entwurzelter Prolet ist, seine eigenen sind und sein müssen, dass es ihm nicht gleichgültig sein kann, wie der Erdball unter den Mächten verteilt wird, er wird immer mit einer Hartnäckigkeit, die dem Staatspatrioten wie Verstocktheit klingen muss, antworten: Mir egal.« (18)
Dass nur eine Minderzahl der Arbeiter, von den Repräsentanten der Arbeiterpartei ganz zu schweigen, in diesem Sinne »sozialistisch fühlte«, das war Landauer wie Pfemfert durchaus bewusst. »Unsere Wirkung beschränkt sich auf einen kleinen Kreis«, konstatierte Pfemfert, »die Parteipapiere beherrschen das Land.« (19)
Landauer wiederum entwarf eine politische Psychologie der Deutschen, in der er ihre Kriegs- und Gehorsamsbereitschaft realistisch einschätzte: »Die Deutschen sind in ihrer großen Mehrheit politisch völlige Kinder; die Franzosen übrigens auch. Chauvinisten, die einen >frischen fröhlichen Krieg< wünschen. Malthusianer, die einen Aderlass für nötig erklären, Oberlehrer, die den Krieg gegen den >Erbfeind< predigen, gibt es nicht ganz wenige, und sie haben auch einiges Gefolge, besonders unter den Studierten, Beamten, Handwerken und Bauern. Die allermeisten sind aber für starke und immer vermehrte Rüstungen, bei uns wie in allen Ländern, aus ängstlicher Friedensliebe und dem Wunsche, dass Deutschland, dessen Industrie und Handel seit 1870 einen mächtigen Aufschwung genommen haben, so stark bleiben möge, wie es jetzt ist; Eroberungsgedanken liegen den meisten ganz fern; Elsass und Lothringen wollen sie behalten, erstens, weil sie von der Schule her gar nichts anderes wissen, als dass das alte deutsche Länder wären, die Frankreich in früheren Jahrhunderten geraubt hätte; zweitens, weil man ihnen gesagt hat, dass diese Länder um der militärischen Verteidigung willen durchaus deutsch bleiben müssten; und drittens, weil sie denken, es sei eine Schande, etwas wieder herzugeben, was man hat. Wenn es nun in der nächsten Zeit aufgrund des Treibens der Regierungen zum Krieg kommen sollte, werden die deutschen Sozialdemokraten kaum eine größere Rolle spielen als 1870, trotz ihren vielen Wählern; darüber sollte sich niemand einem Zweifel hingeben. Das liebe deutsche Volk wird in seiner Gesamtheit tun, und zwar mit Begeisterung und Pflichttreue tun, was die Beamten befehlen.« (20)
So realistisch eine solche Prognose auch war, ein antimilitaristisches Aktionsprogramm ließ sich schwerlich darauf gründen. Solange die Menschen im Bann der Staatlichkeitsideologie standen, blieb dem konsequenten Kriegsgegner nur das individuelle Bekenntnis seiner Überzeugung ohne die Hoffnung, damit den Lauf der Geschichte aufhalten zu können. Landauer steigerte denn auch Pfemferts Einschätzung vom beschränkten Wirkungskreis zu einem geradezu lutherischen »Ich stehe hier und kann nicht anders«: »Kriege gibt es nur, weil es Staaten gibt; und solange wird es Kriege geben, als es Staaten gibt. Die armen betörten Menschen glauben, es sei umgekehrt, und die Staaten mit ihrer Militärmacht seien nötig, weil sonst der Feind käme und das Volk unterjochte; jedes Volk hält sich für friedlich, weil es weiß, dass es friedlich ist; und hält den Nachbarn für kriegerisch, weil es die Regierung des Nachbarn für den Vertreter des Volksgeistes nimmt. Alle Regierungen sind am letzten Ende kriegerisch, weil ihre Aufgabe und ihr Beruf die Gewalt ist. Wer also den Frieden wahrhaft will, muss wissen, dass er vorerst in jedem Lande nur der Sprecher einer ganz kleinen Minderheit ist, und darf seine Entschließungen nicht von irgendwelchen politischen Parteien abhängig machen. Mag doch die törichte Welt sein wie sie will - wenn nur ich vor meinem Gewissen meine Pflicht tue.« (21)
Geschrieben im März 1913. Zwei Jahre zuvor hatte Landauer noch für einen Generalstreik im Falle akuter Kriegsgefahr agitiert, genauer gesagt: zu agitieren versucht: Eine aus seiner Feder stammende, aber nicht namentlich gezeichnete Flugschrift »Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes« war zwar in einer Auflage von 100.000 Exemplaren gedruckt, aber noch vor ihrer Verbreitung polizeilich beschlagnahmt und vernichtet worden. Heraus gegeben hatte sie ein »Ausschuss für den freien Arbeitertag in Deutschland«, den Landauers »Sozialistischer Bund« ins Leben gerufen hatte, um internationale antimilitaristische Aktionen zu beraten. (22)
Landauer erklärte in der Broschüre einem imaginären Dialogpartner nicht nur die zwingende Kraft einer allgemeinen Arbeitsniederlegung, sondern setzte sich auch mit den Argumenten auseinander, die seitens der sozialdemokratischen Mehrheit gegen die General- bzw. Massenstreikforderungen ins Feld geführt worden waren. Dem Einwand Kautskys etwa, ein Streik bei Kriegsbeginn komme zu spät und müsse angesichts der zu erwartenden nationalen Hysterie und staatlichen Ausnahmegesetze für die Arbeiterbewegung fatale Folgen haben, stimmte Landauer zwar im Grundsatz zu und forderte deshalb, den Streik schon auszurufen, wenn »feststeht, dass eine oder mehrere Regierungen den Krieg wollen«. (23)
Umso schärfer jedoch war seine Kritik am Attentismus der SPD, den er als eigentlichen Antrieb der konsequenten Obstruktionspolitik ausmachte, mit der die sozialdemokratische Mehrheit jede Festlegung der Zweiten Internationale auf direkte Aktionen gegen den Krieg sabotierte. Deren »ganze schlaue Beweisführung«, schrieb er, »geht ja von den Furchtsamen aus, deren Prinzip es ist, dass das Heil aus der unheilvollen Tätigkeit der Herrschenden und Bevorzugten und aus dem Abwarten der Arbeiter kommen muss. Diese ungehinderte Tätigkeit der Regierenden in Verbindung mit dem überzeugungstreuen Nichtstun der Gedrückten nennen sie Entwicklung.« (24)
Gegen den ebenso fortschrittsgewissen wie lähmenden Geschichtsdeterminismus setzte Landauer den Vorrang des Wollens: »Das ist das Verderben, das über die Menschen unserer Zeit gekommen ist, dass sie äußere, bewiesene, verbriefte Sicherheiten haben wollen. Gerade dadurch werden die äußeren Unsicherheiten ihrer Lage und das innere Schwanken ihres Gemüts und ihrer Gesinnung nur immer ärger. Wo es um das letzte Mittel zur Abwendung grässlicher Gefahr geht, da kann uns kein Gott und kein Marx bare Sicherheit auf den Tisch zählen. Innen müssen wir die Sicherheit haben, die noch immer den Weg zum Sieg gewiesen hat, und diese Sicherheit hat den Namen Tapferkeit. Wir müssen den Willen haben, und wir müssen`s versuchen.« (25)
Wo Landauer das Pathos des Beginnens beschwor, schüttete Pfemfert seinen Spott über die sozialdemokratische »Revolutions G.M.B.H« aus - »G.M.B.H.« stand für »Gesellschaft mit besonnener Haltung« zu deren Charakterisierung ihm ein abgedroschener Kalauer gerade gut genug erschien: »>Ick möchte mal wieder nach Norderney.< - >Wieder?< - >Ich habe schon mal gemocht.<... Sie hat immer nur gemocht, diese deutsche Sozialdemokratie, dabei blieb sie. Nie hat sie versucht, ein revolutionäres Vorhaben kühn zu beginnen, nein, so unvernünftig war sie nie. Sie hat nur immer gemocht.« (26)
Dass die Parteimehrheit regelmäßig alle Massenstreikanträge niederstimmte, gleich, ob sie von den Linken in den eigenen Reihen stammten oder von Schwesterparteien aus anderen Ländern eingebracht wurden, das erschien Pfemfert nicht als Verrat, sondern als überfälliger Abschied von einem bloß verbalen Radikalismus: die Sozialdemokratie hörte auf »vorzutäuschen, was sie nicht ist«. Aus seiner Sympathie mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, den »einzige (n) ernsthafte (n) sozialdemokratisch (en) Antimilitarist (en)«, machte er keinen Hehl, für ihre trotz aller Niederlagen - zumindest vorerst noch - unverbrüchliche Treue zur Partei brachte er jedoch kein Verständnis auf: »Rosa Luxemburg ist klug, geistreich, temperamentvoll, ehrlich. Aber sie hat in der netten Sozialdemokratie, wie sie heute ist, nichts mehr zu suchen. Alles, was sie über den Generalstreik sagt, ist unwiderlegbar. Aber es muss als Unsinn wirken, da sie es innerhalb der Sozialdemokratie sagt.« (27)
Kultursozialistische Gegenentwürfe wie Landauers »Bund«, dessen Mitglieder sich genossenschaftlich organisieren und so gemeinschaftlich ihren Austritt aus Staat und Kapitalismus ins Werk setzen sollten - Landauer nannte das »aktiven Generalstreik« (28) -, waren Pfemferts Sache nicht. War Landauer Antimilitarist, weil er Anarchist war, so verhielt es sich bei Pfemfert umgekehrt: Seine Invektiven gegen den wilhelminischen Staat und dessen staatsfromme Opposition speisten sich aus einem kompromisslosen Antimilitarismus, der die Ideologie der Nation als Treibmittel militärischer Mobilmachung durchschaute: »Die Sozialdemokratie ist stolz auf ihren Internationalismus. In Wahrheit handelt es sich nicht darum, international zu sein, sondern antinational. In Wahrheit ist der >Internationalismus< Humbug, Schwindel, Phrase. Und es sind nur feige Ausflüchte, wenn man zwischen Nationalismus und Chauvinismus einen Unterschied feststellen möchte. Es gibt hier keinen Unterschied; es ist keine Frage der Vernunft, es ist lediglich eine Angelegenheit des Zufalls, wann die Krankheit Nationalismus chauvinistische Fieberzustände bringt.« (29)
Als die »chauvinistischen Fieberzustände« dann im August 1914 epidemisch wurden, gehörten Landauer und Pfemfert zu den mehr als raren publizistischen Stimmen in Deutschland, die sich nicht von der Kriegseuphorie anstecken ließen. Klarer als andere hatten sie das Unheil kommen sehen, aufhalten konnten sie es nicht.
IV.
Hatte vor dem Weltkrieg die Abgrenzung von der Sozialdemokratie die anarcho-antimilitaristischen Debatten dominiert, so rückten in den zwanziger Jahren zwei andere Probleme ins Zentrum der Auseinandersetzung: Zum einen stellten die Industrialisierung und Totalisierung der Kriegführung die traditionellen Kampfmittel des Antimilitarismus in Frage, zum anderen nötigten die Ereignisse in Russland die Anarchisten dazu, ihr Verhältnis zur revolutionären Gewalt und zur militärischen Verteidigung der Revolution zu klären.
Anarchismus in den zwanziger Jahren bedeutete Anarcho-Syndikalismus, revolutionäre Gewerkschaftsbewegung, die politische Organisation strikt ablehnte und sich ganz auf den ökonomischen Kampf konzentrierte. Während der unruhigen Jahre nach dem Kriegsende konnten die syndikalistischen Gruppen in Deutschland in einigen Branchen und Regionen zeitweise erheblichen Einfluss gewinnen, in der Stabilisierungsphase der Republik nach 1923 schrumpften sie jedoch wieder auf das Vorkriegsniveau von einigen tausend Mitgliedern. (30)
Antimilitarismus war für die Anarchosyndikalisten elementarer Bestandteil einer gleichermaßen antistaatlichen wie antikapitalistischen Strategie, welche »die Befreiung der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst« mittels direkter Aktionen gipfelnd im Generalstreik zu erreichen hoffte. Klassenkampf und Kampf gegen Krieg und Militär mussten dabei schon deshalb zusammenfallen, weil die im Weltkrieg deutlich gewordene Tendenz zur gesamtgesellschaftlichen Kriegführung Aktionsformen zur Wirkungslosigkeit verdammte, die sich allein gegen die Institution Militär richteten: Die Kriegsvorbereitung, schrieb 1929 Arthur Müller-Lehning, Sekretär des anarchosyndikalistischen »Internationalen Antimilitaristischen Büros«, ist »heute ganz auf maschinelle und wissenschaftliche Kriegsmittel konzentriert: auf Tanks, U-Boote, Flugzeuge und Giftgas. Weil Verkehrsflugzeuge im Kriegsfall zum militärischen Bereich zu zählen sind, weil die chemischen Industrien ohne weiteres auf die Produktion von Giftgas umgestellt werden können und andere wichtige Industriezweige - so die Petroleum-Industrie - unentbehrliche Kriegsprodukte herstellen, ist eine Unterscheidung zwischen friedlicher Produktion und Kriegsproduktion unter kapitalistischen Bedingungen nicht mehr möglich. Das ganze gesellschaftliche Leben im Kapitalismus, das durch seine ökonomischen Grundlagen den Krieg notwendigerweise immer wieder verursacht, ist zugleich zu einer einzigen Kriegsproduktionsstätte und zu einem einzigen Kriegslieferanten geworden. Kriegsursache, Kriegsvorbereitung und Kriegsinteressen sind einfach nicht mehr zu unterscheiden. Die Richtigkeit der Auffassung des revolutionären Antimilitarismus, dass Krieg und Kapitalismus unverbrüchlich zusammengehören und nur gemeinsam zu bekämpfen sind, war niemals deutlicher als jetzt. (...) Die Entwicklung der modernen Kriegstechnik hat dazu geführt, dass eigentlich kein anderes Mittel übrig bleibt als der Kampf gegen den Kapitalismus selbst.« (31)
Die antimilitaristischen Analysen nahmen die zeitgenössischen Diagnosen einer Totalisierung der Kriegführung auf, die führende Militärs und Protagonisten der politischen Rechten verbreiteten, und wie diese sahen auch sie im Krieg die raison d'être staatlicher Existenz. Doch während Ludendorffs, Soldans oder Jüngers (32) Lehren vom »totalen Krieg« selbst Teil jener »totalen Mobilmachung« waren, die sie beschworen, zogen die linksradikalen Kriegsgegner die entgegengesetzte Konsequenz und propagierten eine alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende totale Kriegsdienstverweigerung - wohl wissend, dass zwischen der Einsicht in das Notwendige und den eigenen organisatorischen Möglichkeiten eine große Lücke klaffte.
Ihren deutlichsten Niederschlag fand diese Gegen-Totalisierung und Gegen-Mobilisierung in einem geradezu enzyklopädischen »Streitplan gegen Krieg und Kriegsvorbereitung«, den der niederländische Anarchist und Antimilitarist Bart de Ligt 1934 auf einer Konferenz der Internationale der Kriegsdienstgegner vorlegte. (33)
De Ligt listete darin für sämtliche Berufsgruppen spezifische Möglichkeiten der antimilitaristischen Propaganda, der Verweigerung, des Boykotts und der Sabotage in Friedenszeiten wie im Fall von Mobilmachung und Krieg auf und nahm damit vieles von dem vorweg, was - gekappt um den Sozialrevolutionären Impetus - seit den sechziger Jahren von pazifistischer Seite unter dem Schlagwort der Sozialen Verteidigung propagiert wird. (34) Dass er alle Maßnahmen strikt auf das Prinzip der Freiwilligkeit gründete, verstand sich für einen Anarchisten von selbst; dass die vorgeschlagenen Aktionen auch die Aufforderung zur Zerstörung und Unbrauchbarmachung von Kriegsgerät sowie der kriegswichtigen Transport- und Kommunikationsmittel einschlossen, stand durchaus in Übereinstimmung mit dem Gewaltlosigkeitspostulat de Ligts, der allein menschenverletzende oder tötende Handlungen konsequent ablehnte und im Übrigen betonte, wenn man die Wahl habe, »sollte man es immer vorziehen, Kriegsmittel - in Zeiten der Mobilisierung und Krieg ist sozusagen alles ein Kriegsmittel - in Mittel des Friedens umzuwandeln als sie zu zerstören«. (35)
Über die Gewaltfrage herrschte innerhalb der anarcho-syndikalistischen Gruppen keineswegs Konsens: Verfechter prinzipieller Gewaltlosigkeit, die sich auf Tolstoi oder Gandhi beriefen, standen neben Vertretern einer taktisch begründeten Kritik der revolutionären Gewalt, wie sie Müller-Lehning und sein Kollege im Internationalen Antimilitaristischen Büro Albert de Jong formulierten; diesen standen wiederum Positionen gegenüber, die den Aufbau bewaffneter Milizorganisationen forderten.
Eine erste Auseinandersetzung mit dem »roten Militarismus« hatte bereits 1921 der unter dem Pseudonym Pierre Ramus publizierende österreichische Anarchist Rudolf Grossmann verfasst. Für ihn war es keine Frage, »dass der Antimilitarismus auch den rein defensiven Krieg einer volkstümlichen, revolutionären Regierung oder einer sowjetistischen (sic!) Diktaturminorität oder des so genannten kommunistischem Proletarierstaats nicht anerkennen kann.... Die Ähnlichkeit zwischen bürgerlichem Staat und sowjetdiktatorischem Proletarierstaat wächst und wird zur Identität, wenn wir ihre beiderseitigen Methoden in der Kriegführung vergleichen. Beide besitzen einen Militarismus, der auf zwangsweiser Unterwerfung des Individuums und seiner Individualität beruht, auf der allgemeinen Wehrdienstsklaverei; beide bedienen sich des Volkes und insbesondere des Proletariats gegen die Klassenbrüder des anderen Volkes zur Durchsetzung von vor allen Dingen dem Staate und seinen Machtkoterien förderlichen Interessen; beide geleiten somit zu einem internationalen Völkergemetzel, dessen Wesensgehalt eine gegenseitige Hinschlachtung von Bauern und Arbeitern bildet, gerade aber die das Staats- und Kriegsprinzip verkörpernden und organisierenden Persönlichkeiten in völliger, oftmals feiger Sicherheit belässt, dies umso mehr, je höher diese in ihrer staatlich geschützten Machtposition stehen.« (36)
Der marxistischen Losung von der »Bewaffnung des Proletariats« hielt er entgegen, sie übersehe zum einen, »dass in allen modernen Kriegen, besonders im Weltkrieg, das Proletariat das von allen Staaten meist bewaffnete Soldatenkontingent war und sich in seiner überwiegenden Mehrheit als gefügiges Instrument der Kriegsmordbestialität erwiesen hat«, zum anderen belasse sie »dasjenige innerhalb der Gesellschaft unangetastet ..., was für die ausbeuterischen und machtgierigen Elemente der Bourgeoisie und Gegenrevolution das Allerwichtigste ist: Die Waffen, die Munition und die Fortführung wie Steigerung ihrer Produktion.« (37)
Einer Invasion fremder Truppen werde eine anarchistischkommunistische Gemeinschaft daher keinerlei militärischen Widerstand entgegensetzen, sondern »ein wohl föderativ miteinander verbundenes, sonst aber über das ganze Land verstreutes Widerstandselement des passiven Ungehorsams ..., welches die sozialwirtschaftlichen Mittel der Obstruktion, der Sabotage und des passiven Widerstandes vereint zur Anwendung bringt«. (38)
Anders als de Ligt und Grossmann/Ramus wandten sich Lehning und de Jong gegen militärische Methoden in der sozialen Revolution nicht aufgrund einer Doktrin der Gewaltlosigkeit, sondern »einfach aufgrund revolutionärer Nützlichkeitsüberlegungen« (39): In ihrer publizistischen Debatte mit dem französischen Syndikalisten Lucien Huart (40) kritisierten sie dessen Milizkonzepte als hoffnungslos antiquiert. »Wir werden uns von der revolutionären Romantik einer gewalttätigen revolutionären Tradition befreien müssen, sei es auch, dass in dieser Tradition der heroischste Kampf der Arbeiterklasse seit einem Jahrhundert verkörpert ist.« (41)
Das technische Niveau der Kriegführung diktiere auch einer revolutionären Militärorganisation die Mittel des Kampfes; in einer Zeit der »guerre totale« müsse daher der militärisch geführte Klassenkampf zur »guerre sociale totale« eskalieren. Das bringe nicht nur die Gefahr einer politisch-militärischen Diktatur mit sich, sondern laufe in der Konsequenz auch auf die »Vernichtung der eigenen Massen oder der des Gegners« hinaus, was nichts mehr mit »Organisation der Revolutionsverteidigung«, um so mehr aber mit organisiertem Wahnsinn zu tun habe. (42)
Achtzig Jahre zuvor war Christian Gottlieb Abt in seiner Kritik der badischen Revolution auf das gleiche Dilemma gestoßen, doch während er es nur hatte benennen können, glaubten die Anarchosyndikalisten der Zwischenkriegszeit einen Ausweg aus der fatalen Alternative von Militarisierung oder kampfloser Niederlage der Revolution aufzeigen zu können - nicht militärische, sondern »ökonomische Wehrhaftigkeit«: »Die Macht des Staates basiert hauptsächlich auf der Passivität des Volkes, auf seiner passiven Mitwirkung. Bei einem wohlorganisierten passiven Widerstand fällt der Staat in sich zusammen. Das zweckmäßigste Mittel, den Staat zu vernichten, ist seine Ausschaltung aus dem gesellschaftlichen Leben. Gegenüber dem passiven Widerstand auf ökonomischem Gebiet, gegen Steuerverweigerung, Boykott und Non-Cooperation ist die militärische Gewalt des Staates machtlos, wie der Kampf in Britisch-Indien bewiesen hat.« (43)
Die Kritik der revolutionären Gewalt hinderte Arthur Müller-Lehning und andere anarchosyndikalistische Antimilitaristen nicht daran, sich wenige Jahre später im spanischen Bürgerkrieg auf die Seite der Confederación Nacional de Trabajo (CNT) zu stellen. Nicht ohne Kritik an den Militarisierungsprozessen innerhalb der anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsorganisation, aber doch überzeugt, dass der Putsch der faschistischen Franco-Truppen und die Verteidigung der in einigen Regionen kurzzeitig verwirklichten Ansätze freiheitlich-kommunistischer Gesellschaftsorganisation auch bewaffneten Widerstand verlangten.
Man mag darin einen Bruch mit den theoretischen Positionen sehen - und Bart de Ligt etwa hielt ihnen genau das vor (44) -, aber in der politischen Konfrontation zumal angesichts der faschistischen Gewalt ließ sich der Gegensatz zwischen Krieg und Revolution nicht zu einer Seite hin auflösen. Die Geschichte sperrte sich gegen allzu eindeutige Antworten. Vielleicht macht gerade das die Radikalität des anarchiststischen und anarchosyndikalistischen Antimilitarismus. Immer wieder rückte er von der Gewalt ab, aber niemals um jeden Preis.
Fußnoten:
1.) Walter Benjamin: Der Sürrealismus (1929). In: ders.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt / M. 1988, S. 200 — S. 215, hier: S. 212. Benjamin fährt fort: »Die Sürrealisten haben ihn.«
2.) »Die Ausbildung der Mannschaften muss dahin gehen, die männliche Jugend so früh als möglich für den Dienst als künftige Vaterlandsverteidiger vorzubereiten. Die Art und Dauer dieser Übungen fänden aufgrund von Vereinbarungen
zwischen der obersten Schul- und Militärverwaltung statt und würden schließlich gesetzlich sanktioniert. Alle diese Übungen hätten etwa mit dem vollendeten zehnten Lebensjahr zu beginnen und währten bis zum Abgang von der Schule. Vom vollendeten elften oder zwölften Lebensjahr könnten Übungen mit zweckentsprechend nachgebildeten Waffen vorgenommen werden; verbunden mit Rekognoszierungsmärsichen und Felddienstübungen. Die jugend würde sich allen diesen Übungen zweifellos mit großem Feuereifer widmen.« (August Bebel: Nicht stehendes Heer sondern Volkswehr! Stuttgart 1898, S. 50 f.)
3.) Diese habe ich bereits an anderer Stelle untersucht: Nieder mit der Disziplin! Hoch die Rebellion! Anarchistische Soldaten-Agitation im Deutschen Kaiserreich. Berlin 1988; Zwischen »Krieg dem Krieg« und »Widerstrebt dem Übel nicht mit Gewalt!«. Anarchistischer Antimilitarismus im Deutschen Kaiserreich vor 1914. In: Andreas Gestrich, Gottfried Niethart, Bernd Ulrich (Hrsg.): Gewaltfreiheit. Pazifistische Konzepte im 19. und 20. Jahrhundert (Jahrbuch für historische Friedensforschung 5), Münster 1996, S. 39-59; Hervéisten und Tolstoianer. Radikaler Antimilitarismus am Vorabend des Ersten Weltkriegs. In: Praxis Geschichte (Braunschweig), 11. jg., H. 3, Mai 1997, S. 20-25.
4.) [Christian Gottlieb] Abt: Die Revolution in Baden und die Demokraten. Vom revolutionären Standpunkt aus beleuchtet, Herisau 1849. Zu Abts Biographie vgl. Otto Borst: Die heimlichen Rebellen. Schwabenköpfe aus fünf Jahrhunderten. Stuttgart 1980, S. 265-284.
5.) Abt: Die Revolution in Baden (Anm. 4), S. 131.
6.) Ebenda., 125.
7.) Etienne de La Boétie: Discours de la servitude volontaire (1574), dt. Von der freiwilligen Knechtschaft. Frankfurt / M. 1980.
8.) [Ludwig Mieroslawski]: Berichte des Generals Mieroslawski über den Feldzug in Baden. Bern 1849, S. 52.
9.) Abt: Die Revolution in Baden (Anm. 4), S. 162.
10.) Vgl. neben Mieroslawskis »Berichten« Johannes Philipp Becker, Chr. Essellen: Geschichte der süddeutschen Mai-Revolution des Jahres 1849. Genf 1849, S. 162-165; August Brass: Der Freiheitskampf in Baden und in der Pfalz im Jahre 1849. St. Gallen 1849, S. 28 f.; Friedrich Engels: Die deutsche Reichsverfassungskampagne (1850). In: Marx, Engels: Werke. Bd. 7, S. 109-197; A. Zurkowski: Kurze Darstellung des Feldzuges in Baden und der Pfalz. Bern 1849.
11.) Abt: Die Revolution in Baden (Anm. 4), S. 142.
12.) Zur anarchistischen Bewegung in Deutschland bis 1914 vgl. Ulrich Linse: Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871. Berlin 1969; Andrew R. Carlson: Anarchism in Germany Bd. 1: The Early Movement. Metuchen, N. 1972; Dirk H. Müller: Idealismus und Revolution. Zur Opposition der jungen gegen den sozialdemokratischen Parteivorstand 1890-1894. Berlin 1975; Hans Manfred Bock: Geschichte des »linken Radikalismus« in Deutschland. Ein Versuch. Frankfurt/M. 1976, S. 38-73; Peter Wienand: Revoluzzer und Revisionisten. Die »Jungen« in der Sozialdemokratie vor der Jahrhundertwende. In: Politische Vierteljahresschrift, 17. Jg., 1976, S. 208-241.
13.) Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes, Bern, Berlin 1909-1915 (Reprint: 3. Bde. Hrsg. von Andreas Seiverth. Vaduz 1980).
14.) Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, Berlin 1911-1932 (Reprint: 4. Bde. Hrsg. von Paul Raabe, Stuttgart 1961).
15.) Zur Biographie vgl. Siegbert Wolf: Gustav Landauer zur Einführung. Hamburg 1988.
16.) Zur Biographie vgl. Wolfgang Haug: Das »Phänomen« Franz Pfemfert. In: Franz Pfemfert: Ich setze diese Zeitschrift wider diese Zeit. Sozialpolitische und literaturkritische Aufsätze. Hrsg. von Wolfgang Haug. Darmstadt, Neuwied 1985, S. 7-62.
17.) Pfemfert: Die Presse (10.4.1912). Zit. nach Ich setze diese
Zeitschrift (Anm. 16), S. 78.
18.) Gustav Landauer: Rede von der Reichstagsgalerie (1.12.1911). Zit. nach ders.: Rechenschaft. Berlin 1919, S. 66 f.
19.) Pfemfert: Die Presse (Anm. 17), S. 78.
20.) Landauer: Deutschland, Frankreich und der Krieg (1.3.1913). Zit. nach ders.: Rechenschaft (Anm. 18), S. 134 f.
21.) Ebenda., S.135 f.
22.) [Gustav Landauer]: Die Abschaffung des Kriegs durch die Selbstbestimmung des Volks. Fragen an die deutschen Arbeiter. Hrsg. vom Ausschuß für den freien Arbeitertag in Deutschland zu Berlin. Berlin 1911 (Reprint: Tübingen 1980). Zum Verbot der Schrift vgl. Augustin Souchy: Vorsicht Anarchist! Ein Leben für die Freiheit. Politische Erinnerungen. Darmstadt, Neuwied
1977, S. 15 f.
23.) [Landauer]: Die Abschaffung des Krieges (Anm. 22), S. 5. i
24.) Ebenda, S. 6.
25.) Ebenda.
26.) Pfemfert: Die Revolutions G.M.B.H. (19.7.1913). Zit. nach ders.: Die Revolutions G.M.B.H. Agitation und politische Satire in der »Aktion«. Hrsg. von Knut Hickethier, Wilhelm Heinrich Pott, Kristina Zerges. Wißmar, Steinbach 1973, S. 70 f.
27.) Ders.: Der Massenstreik-Unsinn (4.10.1913). Zit. nach Die Revolutions G.M.B.H. (Anm. 26), S. 72 f.
28.) Vgl. das Flugblatt »Was will der Sozialistische Bund?« (1908). In: Gustav Landauer: Beginnen. Aufsätze über Sozialismus. Hrsg. von Martin Buber. Köln 1924 (Reprint: Wetzlar 1977), S. 91-95.
29.) Pfemfert: Die nationale Sozialdemokratie (21.5.1913). Zit. nach Die Revolutions G.M.B.H. (Anm. 26), S. 66.
30.) Zur Geschichte des Anarchosyndikalismus in Deutschland vgl. Hans Manfred Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. 2. Aufl., Darmstadt 1993; ders.: Anarchosyndikalismus in Deutschland. Eine Zwischenbilanz. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 25. Jg., 1989, S. 293-358; Angela Vogel: Der deutsche Anarcho-Syndikalismus. Genese und Theorie einer vergessenen Bewegung. Berlin 1977; Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Berlin, Köln 1994.
31.) Arthur Müller-Lehning: Industriéle Dienstweigering. In: Bevrijding. Maandblad gewijd aan de Vernieuwing van het Socialisme, Juni 1929. Zit. nach der deutschen Übersetzung in: graswurzelrevolution, 15. Jg., 1987, Nr. 117/18 (Sonderheft »Sozialgeschichte des Antimilitarismus«), S. 37.
32.) Vgl. Erich Ludendorff: Kriegführung und Politik. Berlin 1922; ders.: Der totale Krieg. München 1935; George Soldan:Der Mensch und die Schlacht der Zukunft. Oldenburg 1925; Ernst Jünger: Die totale Mobilmachung. In: ders. (Hrsg.): Krieg und Krieger. Berlin 1930; zu den »Totalitätslehren der Zwischenkriegszeit« vgl. auch das entsprechende Kapitel in meiner Studie: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion. München 1997, S. 243-255.
33.) Bart de Ligt: Streitplan gegen Krieg und Kriegsvorbereitung, deutsche Fassung in: IAK-Pressedienst, Nr. 152 (15. 2. 1935), S. 1-5, Neudruck: Plan einer Kampagne gegen jede Art von Krieg & jede Art von Kriegsvorbereitung, In: INFOrmationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, Nr 45, März 1979 (Sonderheft: »Anarchopazifistischer Antimilitarismus vor 50 Jahren - und heute?«), S. 39-52. In englischer Sprache ist der Kampagnenplan enthalten in Bart de Ligt: The Conquest of Violence. An Essay on War and Revolution. With an Introduction of Aldous Huxley London 1937, welche die Wichtigsten Beiträge des niederländischen Anarchisten zum Thema versammelt. Zum Entstehungshintergrund vgl. die materialreiche Studie von Gernot Jochheimz, Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und Soziale Verteidigung. Frankfurt / M. 1977, Zitat S. 306-317.
34.) Vgl. Theodor Ebert: Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg 1968; ders.: Soziale Verteidigung. 2 Bde., Waldkirch 1981.
35.) De Ligt: Plan einer Kampagne gegen jede Art von Krieg (Anm. 33), S. 46.
36.) Pierre Ramus [d.i. Rudolf Grossmann]: Militarismus, Kommunismus und Antimilitarismus. Thesen zu einem Referat für den Internationalen Antimilitaristen-Kongress im Haag, im März 1921. Uerdingen 1921, S. 10 f. Zu Biographie und Werk vgl. Ilse Schepperle: Pierre Ramus. Marxismuskritik und Sozialismuskonzeption. München. 1988, zu Grossmanns Antimilitarismus insbesondere S. 219-228.
37.) Ramus: Militarismus, Kommunismus (Anm. 36), S. 14 f.
38.) Ebenda, S. 20.
39.) Albert de Jong, Arthur Müller—Lehning: Die soziale Revolution und die antimilitaristische Taktik. In: Pressedienst, hrsg. von der Internationalen Antimilitaristischen Kommission, Nr,. 61, 12.12.1930, zit. nach dem Neudruck in: graswurzelrevolution, 15. Jg., 1987, Nr. 117/18 (Sonderheft »Sozialgeschichte des Antimilitarismus«), S. 50.
40.) Vgl; die Zusammenfassung der Beiträge in Jochheimz Antimilitaristische Aktionstheorie (Anm. 33), S. 318-332, sowie ders.: Arthur Lehnings Beitrag zur Theorie einer gewaltlosen Verteidigung von revolutionären Gesellschaftsprozessen. In: Heribert Baumann, Francis Bulhof, Gottfried Mergner (Hrsg.): Anarchismus in Kunst und Politik. Zum 85. Geburtstag von Arthur Lehning. Oldenburg 1985, S. 29-44.
41.) De Jong/Müller-Lehning, Die soziale Revolution und die antimilitaristische Taktik (Anm. 39), S. 54.
42.) Ebenda, S. 53.
43.) Ebenda.
44.) Vgl. Jochheim, Antimilitaristische Aktionstheorie (Anm. 33), S. 410-420.
Aus: Wette, Wolfram (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871-1945. Aufbau Taschenbuchverlag 2005. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Autors.