Anarchistische Soldatenagitation: An unsere Brüder in der Kaserne (1880)
Soldaten!
Nach den deutsch-preußischen Militärgesetzen seid Ihr selbst bei dem jetzigen hohen Friedenspräsenzstande der Armee nur 1 Prozent der Bevölkerung. Das heißt, auf neunundneunzig Zivilpersonen kommt ein Soldat. Dennoch bildet Ihr eine Macht, von welcher die Reichen und Mächtigen überzeugt sind, daß sie ausreiche, die gesamten Volksmassen "in Zucht und Ordnung" zu halten, nötigenfalls mit Flinten und Säbeln zu vertreiben.
Was die einen hoffen, das befürchten die anderen. Während die Herrschenden beim Anblick der Waffen, welche in Euren Händen blitzen, sich in stolzer Sicherheit wiegen, und Eure Cadres als uneinnehmbare Festungen betrachten, hinter denen sie in Lust und Freuden des Armen Schweiß und Blut verprassen können, fürchten die Sklaven der Arbeit, daß Ihr Euch verleiten laßt, Brudermord im Großen zu begehen.
An Euch liegt es nun, die Sicherheit der einen in panischen Schrecken zu verwandeln, an die Stelle der Furcht, von welcher die anderen beseelt sind, frohe Zuversicht und Siegesgewißheit zu setzen.
Der ganze Zauber der heutigen Tyrannei, die ganze Trostlosigkeit der geknechteten Massen liegt in Eurer Disziplin, in Eurem blinden Gehorsam gegen Euren sogenannten Vorgesetzten. Diese Disziplin weg, und die Knechtschaft der Völker ist nicht mehr!
Der sogenannte "alte Fritz" sagte einmal zu einem seiner Generäle, das Wunderbarste an den Soldaten sei, daß sie ihre Befehlshaber nicht totschlügen. Und das ist in der Tat wunderbar.
Millionen arbeitsamer Männer seufzen unter der schrecklichsten Last und wagen es nicht, ihr Joch zu zerbrechen, weil sie sich vor Euch fürchten. Das hat noch einigen Sinn. Denn Ihr seid zwar dem Volke gegenüber eine verschwindend kleine Minderheit, aber Ihr seid bis an die Zähne bewaffnet und das Volk steht ohne Wehr - ein Löwe ohne Klauen und ohne Zähne! Allein auch Ihr handelt nur unter dem Drucke der Furcht, unter dem Einfluß, den die Kriegsartikel auf Euch ausüben, unter dem Schrecken, den Euch ein blutiges Gesetz in die Knochen jagt.
Doch vor wem fürchtet Ihr Euch denn in Wirklichkeit? Vor den Offizieren. Nur diese können ja die Drohungen wahr machen, welche Euch für den Fall des Bruches Eurer vorgeschriebenen Subordination vorschweben. Mithin fürchtet Ihr Euch ebenfalls als Masse vor einer Handvoll Menschen. Und Eure Furcht ist weniger begreiflich wie die des Proletariats, weil ihr in Waffen starrt. Ein Schlag von Euch genügt, und die Kommandantenschaft, von der Generalität bis herab zuu Junkertroß, liegt zerschmettert am Boden.
Den meisten von Euch kocht hundertmal das Blut in allen Adern, wenn irgend ein Offizier voll Übermut Euch quält und plagt und Hunden gleich traktiert. Warum wird solch ein Schuft nicht auf der Stelle totgeschlagen?
Warum? Die Disziplin, sagt Ihr, verbietet das. Man würde solch' einen Akt der Gerechtigkeit furchtbar, exemplarisch ahnden. Gewiß - Einer, der seine malträtierten Brüder rächen wollte, würde schwer dafür zu büßen haben. Aber muß es denn nur Einer sein, der solchermaßen Menschenrecht und Menschenwürde wahrt! Gebt acht!
Fast täglich erschießt sich mindestens ein Soldat, der die Quälereien seiner Vorgesetzten nicht mehr ertragen kann. Wie wär's, wenn jeder, dem sein Leben ohnehin zur Last geworden, dasselbe bei einer kühnen Tat riskierte, statt mit bloßer Selbstvernichtung gegen eine barbarische Tyrannei zu protestieren? Solch' ein Vorgehen würde allein schon hinreichen, die militärische Disziplin auf einen sehr niedrigen Grad herabzumindern.
Im gleichen Maße aber, in welchem der Soldat seine Offiziere hassen lernt, im gleichen Maße muß er bemüht sein, in den Arbeitern seine Brüder zu erkennen und zu lieben. Soldaten! Man hat das zweifache Tuch, in welches Ihr gepreßt worden seid, zu einer Schranke gemacht, welche das bewaffnete Volk vom unbewaffneten trennt. Während Eure Offiziere Euch wie Sklaven mißhandeln, reden sie Euch ein, Ihr seid zu einem höheren Berufe da wie das "gemeine Pack im Zivilrock". Es wird ein dummer, nichtiger Stolz in Euch geweckt, der gar keinen Sinn hat.
Mitten aus dem Volke herausgegriffen, kehrt Ihr wieder zu demselben zurück, wenn Ihr als Blut- und Eisensklaven lang genug gedrillt worden. Muß es da nicht jedem von Euch einleuchten, daß Ihre nichts seid als ein Teil des Volkes?
Oh lernet denken und fühlen mit dem Volke und für das Volk - auch wenn Ihr in der Kaserne oder auf dem Exerzierplätze seid, entschiedener noch, wenn es Eure Offiziere wagen, Euch gegen das Volk zum Kampfe zu führen.
Der Tag wird kommen, wo die Massen des Proletariats sich in die Straßen der großen Städte ergießen, um anzustürmen gegen eine unerträgliche Despotie der Reichen wider die Armen. Die Machthaber werden lediglich bei Euch Rettung suchen. Verweigert das erste Regiment, welches gegen das Volk geführt wird, den Gehorsam, so ist's vorbei mit der ganzen Herrlichkeit der jetzigen Gesellschaft! - Soldaten, Ihr könnt den Kampf kurz und den Sieg leicht machen, wenn Ihr nie vergeßt, daß Ihr unsere Brüder seid, daß unsere Feinde auch die Euren sind.
Nieder mit der Disziplin! Hoch die Rebellion!
"Freiheit", (Expedient J.Neve) 22, Percy Street, Tottenham Court Road, London W. Preis per Couvert quartaliter 4 Mark.
Anmerkung: Dieses Flugblatt wurde in vielen Garnisonen, z.B. in Berlin, Magdeburg, Aachen, Düsseldorf, Trier, Köln, Darmstadt, Mannheim, Mülhausen i.E. an Soldaten verbreitet. Satzfehler aus dem Original des "Soldaten-Breviers" wurden korrigiert und die Rechtsschreibung und Zeichensetzung des "Breviers" sowie der beiden Flugschriften "An unsere Brüder in der Kaserne" und "Wie man's macht" heutigen Regeln angepaßt.
Aus: Ulrich Bröckling (Hg.), Nieder mit der Disziplin! Hoch die Rebellion! Anarchistische Soldaten-Agitation im Deutschen Kaiserreich, Harald Kater Verlag 1988. Digitalisiert von www.anarchismus.at