Pierre Ramus - Antimilitarismus und Hochverrat

An das arme Dorfmädchen und an jenen Fürsten in Dostojeffkys grandiosem Werk "Der Idiot" ist man versucht zu denken. Wie das arme Mädchen von allen verfolgt wird, weil es zu lieben verstand ... Alte und junge Dorfrangen sind hinter der Schwachen her, bewerfen sie mit Steinen, mit Kot. Viele Male wird sie gedemütigt, überwältigt.- Bis er da kommt, als Retter, dieser angebliche "Idiot", sich dem Pöbel entgegenwirft, mit den lärmenden Kindern spricht, gutmütig, aber auch zornig auf sie einredet; und wie sehr bald die Stimmung umschlägt, gerade in ihr Gegenteil. Nur ihm war's zu verdanken, ihm, der es wagte, sich entgegen zu werfen und den bornierten Verfolgern die Hoheit seiner Persönlichkeit, seiner ernsten Bedenken entgegen zu schleudern ...

Noch sind wir nicht so weit mit dem Antimilitarismus, aber auch Fürst Myshkin musste sich derb herumschlagen, bevor er seinen Sieg verzeichnen konnte. Der Antimilitarismus ist heute noch immer jene arme, unglückliche Dorfmaid, gegen die alle Wogen der sittlichen Empörung sich sittsam und wenig zart, wie schon die Sitte nun einmal ist, rauschend erheben.

Aber wie stets die Natur gerade dann die höchsten Triumphe ihrer Tugend feiert, wenn die konventionelle Moral kläffend ihre Zunge bewegt, so ist es an sich mit dem Antimilitarismus. Allerdings: mit dem Antimilitarismus, nicht mit jenem der "Friedensfreunde", sondern jenem des Anarchismus und Sozialismus. Ja, der letzteren Geistesbewegungen! Es tut nichts zur Sache, dass Liebknecht den Empfindungen der alten Parteiklepper Tribut zollte und eine durchsichtig feine Unterscheidung machen wollte zwischen seinem und jenem des Anarchismus. Vielleicht richtig, dass seiner noch nicht ganz geklärt ... Hoffentlich wird er es werden. Und um seines Leidens willen sei ihm auch dieser Versuch nachgesehen, unser, der Anarchisten Verdienst um die Propaganda des Antimilitarismus schmälern zu wollen, wie er es tat.

Ist es ja doch schon allbekannt. Muss nicht G. Bruckere, den wir noch in Stuttgart fanden als Delegierten der Sozialdemokratie, es eingestehen, wenn er Liebknecht, in einer Besprechung dessen Buches tadelt, dass dieser manche seiner Ausfälle wider die Anarchisten richtete, die in Deutschland als die ersten für den Antimilitarismus Lanzen einlegten und brachen? So muss Bruckere im "Guerre Sociale" Frankreichs das historische Urteil korrigieren, das in Deutschland unbestimmt und schwankend ist, dank des Hasses der Parteien.

Der deutsche Antimilitarismus lebt heute im Schweigen derer, die für ihn hinter Kerker- und Festungsmauern begraben wurden, weil sie zu warm der Menschheit Schmach gefühlt und bebend vor edler Empöiung sich mannhaft auflehnten wider die Hyäne des Militarismus; er schreitet ungebrochen und unbeugsam in jenen einher, die da fühlen, dass sie das Vermächtnis der leidenden und gequälten Brüder verwahren und grösser wieder auferstehen lassen müssen. Die zeitweise Begrabenen, die uns entrissen wurden oder noch werden für den Antimilitarismus — und dessen konsequenter Ausdruck ist Anarchismus — sie können sich in einem trösten: niemals hat eine grosse, soziale Bewegung der Arbeiterklasse das Bewusstsein aller geistig regsamen Bevölkerungsschichten so aufgerüttelt, genauer: ist so sehr geeignet, es zu tun, wie der Antimilitarismus und der historische Märtyrerkampf derer, die für seine Verbreitung und Propaganda eintreten. Es gibt leider fast keine revolutionäre Taktik, die nicht darin zweischneidig wäre, dass die breiten Massen der Bevölkerung ihre edlen und hehren Absichten, die hochfliegenden Ziele der Propagandisten nicht verstehen, nur die rauhe, äussere Form der Gewalt wahrnehmen, den Kern, der da schlummert in dieser Manifestation empordrängender Menschen, Giganten dadurch, dass sie die Kraft besassen, vieltausendjährige Geistestradition mit einem Ruck abzuschütteln, diesen Kern des Heldenmutes überhaupt nicht erblicken.

Und dann kommt das Gleissnerische des Staates, diese infame Heucheleiphysiognomie, die da immer von "Schutz", von "Sicherheit", von "Wahrung des Friedens und der Ordnung" spricht; sie erwehrt sich mit einem einzigen Schlage ungeheurer Übermacht der Widersacher; und das Volksbewusstsein, statt das Entsetzliche des Geschehnisses zu begreifen, Einkehr zu halten über seine eigenen Verfehlungen, indem es ein für alle Mal sein Ich und seine Gesamtheit dem Staate entzöge — dieses Volksbewusstsein in seiner oftmals mit tiefstem Ingrimm erfüllenden, vergifteten Unwissenheit, jubelt oft dem Staat noch zu in seinen Missetaten wider die Apostel der Freiheit und Zukunft! Nicht weil es selbst Vorteile aus diesen Missetaten zieht, nur weil es unwissend ist und ihm die Gegenwartswelt die Gelegenheit zur Aufklärung benimmt. An dieser Unreife, Unwissenheit scheitert das Tempo aller taktischen Methoden, die wirklich vorzüglich und geeignet sind, uns rasch zur Verwirklichung unserer Ideale zu geleiten. Darum sind wir so weit entfernt von der sozialen Revolution, wie es der Fall.

Und nun haben wir plötzlich das Mittel (der Staat mag machen, was er will), das in geradezu hinreissend erhebender Weise Taktik und Demonstration der Weltanschauung in einem sein kann. Wir wollen eine Gesellschaft des Friedens, darum sind wir Antimilitaristen. Sonst behauptet man, wir seien Gewaltsmenschen und müssten deshalb bewacht und verfolgt werden wie wilde Tiere.

Aber kann es eine zweischneidigere Methode für den Staat geben, als diejenigen verfolgen zu müssen, die da laut protestieren und ihres Menschtums Gefühlen Ausdruck verleihen, weil sie Hasser des Krieges, Hasser des Mordes, Hasser jeder Mordtat sind? Sie wandern ins Gefängnis, die Antimilitaristen des direkten oder indirekten Anarchismus; aber glauben die, die mit Blut und Eisen dieses unwürdige System mit alt seinen Einrichtungen zu halten vermeinen, denn wirklich, dass das Volk niemals sehend werden wird? Dass die Schlachtfelder umsonst gedüngt sind von rauchendem Menschenblut und den Leichen der Millionen Väter, Brüder Verwandten; dass die Posaunenrufe jener, die da den Fluch herabgerufen auf alle Verüber dieses Menschenelends, glauben sie, dass all dies ungehört verstummen wird, wenn Menschen ins Gefängnis wanderten, weil sie riefen: "Wir wollen keinen Krieg mehr! Wir haben ihn nie gewollt, wie ihr, die ihr uns betört habt mit Wahnideen, ihr religiöse oder weltlich- staatliche Pfaffen, nur ihr habt uns zeitweise in menschliche Bestien verwandelt. Und nun seid eingedenk des einen: Wir haben euch durchschaut, euch, Priester der Gottesgewalt und Mammons; und ehret uns dafür, dass wir nur Antimilitaristen sein wollen, denn sonst ... Hütet euch, uns zu Militaristen zu machen! ...

Auch uns wird, nach tausendfacher Verfolgung und Schmach, des dunkelsten Kerkers der Morgen, dämmern, der uns einen Fürsten Myshkin bringt, auch er wird sich entgegenwerfen, als der letzte der vielen Versuche und Niederlagen, die dennoch Unvergängliches ins Buch der Geschichte eintragen — und dann wird es Tag, ein Tag in den Köpfen, Tag in der Welt. Der Antimilitarismus, dieses Mittel, das den Staat einmal dazu zwingt, sich selbst die Maske vom Antlitz zu reissen und durch seine Gewalttaten wider die Antimilitaristen deren Lehren selbst demonstrativ wirken zu lassen, wird die Waffe sein, die uns über den Tag der sozialen Revolution hinüber geleiten wird.

Hochverräter sind wir! So. Aber in Wahrheit nicht nur, weil der Staat es sagt, denn seine Worte sind ja hohler Schall, wenn er nicht das Johlen der noch patriotischen Masse als Stütze und Grundlage besitzt. Begreiflich ist es ja! Noch jede neue Idee wurde verfolgt; es ist eine banale Sache geworden. Wurde nicht die sozialdemokratische Bewegung durch Verfolgungen auszurotten versucht? Was hatten die Pioniere des deutschen Anarchismus in den Anfängen der 90er Jahre zu erdulden? Was die Pioniere der Gegenwart? Sehr möglich, dass der Staat alle diese Verfolgungen in der klar und deutlich erkannten Voraussicht unternimmt, nicht ausrotten zu können, aber nur prüfen will, ob er sich wirklich ins Unvermeidliche zu fügenhabe. Die Sozialdemokraten mauserten sich, die Anarchisten errangen sich durch unaufhörliche, stets vermehrte Widersetzlichkeiten das Recht, auch in Deutschland ihre Propaganda zu entfalten. Das war und ist ein Stück echtester sozialer Macht. Und es ist nicht unrichtig gedacht, wenn wir annehmen, dass der deutsche "Rechts"-staat nun wieder einmal sondiert ...

Vielleicht, — so mag er sehr mit Unrecht denken — gelingt es, den Antimilitarismus zu dämmen? Wenn ja, dann ist das Ziel der Verfolgungen erreicht; wenn aber, wie wir zuversichtlich meinen, es nicht gelingt, Märtyrerblut die Saat zu düngen beginnt, dann wird auch dieser Bann gebrochen werden und Deutschland, von dem Bakunin mit Recht und klarstem Bewusstsein sagte, dass es in Wahrheit der Hort der europäischen Reaktion, einen kämpfenden Antimilitarismus haben, der wenigstens das betreiben können wird, was absolut und vor allem notwendig, gegenwärtig aber noch fast unmöglich ist: die Revolutionierung der Köpfe, der Jugend, des Volkes.

Nicht für den Staat ist es eine Schmach, dass er ungestraft, den Hochverratsparagraphen anwenden darf. Schliesslich wäre hier eine doppelte Bejahung fast eine Verneinung, und das wollen wir nicht; was selbst Schmach, kann sich auch nicht mehr mit Schmach bedecken ... Nein, täuschen wir uns nicht. Nicht für den Staat ist es eine Schmach, dass er Liebknecht zu 18 Monaten Festungshaft verurteilte. Es ist eine Schmach für eine Dreimillionenpartei, dass der Staat dies tun konnte. In dieser Möglichkeit birgt die Urteilsfällung eine Situation, wie man sie sich trostloser wohl kaum vorstellen kann. Und Liebknecht, Oesterreich, Paar, Kielmeyer, alle sie, die vor ihnen gingen und fielen, nach ihnen kommen werden — glaubt man vielleicht, dass man es dem Staat in die Schuhe schieben darf, was er mit ihnen tat? Keineswegs. Verlangt man von der Hyäne Mitleid, wenn man selbst in vierzig langen Jahren nicht vermochte, ihrer Gefrässigkeit die Nahrung zu entziehen? Nicht vermochte, weil man seine elementarsten Aufklärungsaufgaben nicht erfüllte und die anarchistische Propaganda, die sie leiten wollte, überall dort unterband, wo sie aufzukommen versuchte. Die ins Gefängnis wandern für den Antimilitarismus werden eigentlich nicht vom Staate verurteilt; in Wahrheit ist es die deutsche Sozialdemokratie, die ihr Urteil über sie fällt, durch ihre totale historisch gewordene Aktionslosigkeit angesichts solch abscheulicher Verurteilungen.

"Noblesse oblige". Dreiundeineviertel Millionen Anhänger, solch eine Zahl von Mitarbeitern besass noch keine revolutionäre Gruppierung der Welt und historischen Vergangenheit, und eine solche Zahl verpflichtet zu etwas, wenigstens zu einem ganz kleinen Etwas ... Aber es geschah nichts, und wird nichts geschehen, wenn es vom Führertum abhängt, das materiell sattelfest in dieser bourgeoisen Gesellschaft sitzt und mit ihr den Antimilitarismus hasst. Für ein wertloses, preussisches Landtagswahlrecht opfert man das Leben demonstrierender Proletarier; gegen barbarische Justizurteile unternimmt man nichts ... O, sie irren sich, die Herren von Gottes Gnaden, wenn sie glauben, dass wir um ihrer Willkür und Ungerechtigkeit willen unseren Apostelgesang idealer Ideen einstellen werden!

Kann schwarz dem sehenden Auge je als weiss erscheinen? Nimmer. Und kann uns, die wir den heutigen Staat durchschauen bis auf den Grund seines Knochengerippes, kann uns der Militarismus als ideales System erscheinen, weil er uns quält und schlägt? Nimmer! Ja, wenn er wirklich diente als Kulturzweck, als epochales Mittel der Schutzwehr. Aber dies ist er nicht, kann er nicht sein; uns ist er nur die selbstgeschmiedete Fessel, die uns schmerzlich drückt, die quälend uns ins Fleisch schneidet. Und sie sollen wir jemals achten lernen? Die Achtung vor ihr lehren? Warum, wozu? Damit ihr uns noch mehr zu Sklaven macht? Darum sei es gesagt und verraten: Der Antimilitarismus in Deutschland wird sich nicht legen, nicht mausern; und je mehr seine Agitatoren ins Gefängnis wandern müssen, wider ihren Willen in die Armee eingereiht werden, er so selbst in die Kaserne gebracht wird, desto unvermeidlicher ist seine Propaganda und Verbreitung. Allerdings, eins sei eingestanden: die unrechtmässige Verfolgung, offenkundige Ungerechtigkeit führt nicht zur Vernichtung der Idee, nur von den offenen Bahnen auf jene der geheimen, die weit gefährlicher sind, als die von ehedem. Und die Tausende von Methoden und Werkzeugen finden, um das Eisen gerade dann zu bearbeiten, wenn es glühend, heiss ist, die günstigste Gelegenheit sich bietet. Indirekt dienen die Justizverfolgungen unseren Zwecken, die Propaganda wird vielseitiger und nachhaltiger.

Lebt wohl, ihr Vorkämpfer der Idee, die den Ehrentitel "Hochverräter" erhielten; ein Ehrentitel für uns. Und tausendfach bestätigen wir des Kaisers Wort, wenn er uns Vaterlandslose nennt. Wir fühlen uns nicht veranlasst, wie die Vollmars und Stadthagen es in Essen im schönsten Bunde taten, dagegen zu protestieren. Wir sind und wollen vaterlandslos sein in solchem Vaterlande, wo es Unterdrücker und Unterdrückte gibt Oder richtiger, wir rufen euch zu: Auf Wiedersehen, ihr Pioniere des Antimilitarismus, die die Gefängnisjacke zu Ehren bringen, um deren Schicksal sich kein "Friedensfreund", kein Regierungspazifist bekümmert, die ganz unserem treuen Gedenken und Nacheifern überlassen sind und bleiben. Eins müssen wir ihnen geben als heilige Versicherung, dass diese Idee, wo immer sie auch sein mögen, von uns gefördert, mit Auferbietung unseres ganzen Ichs verbreitet werden soll. Schon darum, weil der Antimilitarismus ein Geschoss der Revolution und des Friedens ist, das ebenso unbesiegbar, wie es das Schiesspulver vor den Rüstungen der ritterlichen Faust des Mittelalters war. Wir lassen ihn nicht fallen, denn er ist jene Brücke, die man über den gähnenden Abgrund der Klassenkämpfe legen kann, um nach der anderen Seite zu gelangen.

Nur durch ihn können wir die Küsten jener Zukunft erreichen, von denen uns der Dichter spricht:

"Ein Vogel ruft im Holz,
Ein anderer noch; aus allen Nestern
Wird froh der Tag begrüsst, der sich erneut.
Begehrend drängt das Leben sich zum Heut,
Fern liegt das Gestern!"

Wohl ist es opferreich, das Leben und Kämpfen des Antimilitarismus. Doch es scheint, dass diese taktisch schärfste Massenmethode des Anarchismus durch die Metamorphose des "Hochverrats" zu gehen hat, um wirklich das Friedensideal der Freiheit erreichen zu dürfen. So sei es denn! Begehen wir den "Hochverrat" an dem, was uns nicht wie ein Vaterland behandelt; und es wird die Zeit kommen, wo diese "Hochverräter" sich ein neues Vaterland erobert haben werden, eine neue Heimat und väterliche Erde - die Welt der Freiheit, die da mit allen ihren Schätzen gehört der Menschheit!

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 6-8, Februar 1908. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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