Madeleine Vernet - Die freie Liebe (1906)

Klassische politische Texte lesen sich manchmal... naja eigenartig ;-). Madeleine Vernet (1878 - 1949) war militante Pazifistin, Kritikerin staatlicher Sozialpädagogik, Erzieherin und Gründerin eines „Orphelinats“, eines (privaten) Waisenhauses. Sie setzte sich, pädagogisch und politisch handelnd, für eine weltliche und koedukative (=gemeinsamer Unterricht von Jungen und Mädchen) Schule ein und musste sich entsprechend gegen ihr feindlich gesinnte Klerikale und die Schulbehörden durchsetzen. Der pädagogische Aspekt der Arbeit Vernets ist in Zusammenhang mit Louise Michels, Paul Robins, Francisco Ferrers und S. Faures Werk zu sehen. Vernet gehörte zur libertär-pädagogischen Bewegung einer „rationalen Schule“. Der folgende Text erschien im Original 1906, diese deutschsprachige Übersetzung ist von 1920.

I.

Ist es denn überhaupt noch notwendig, nach Beweisen zu suchen, daß die Liebe nur existieren kann, wenn sie frei ist? Die Maler stellen sie uns als schönes beflügeltes Kind dar. In ihren heiteren schwärmerischen oder auch traurigen Gesängen zeigen die Dichter sie uns als launenhaft, flatterhaft, unbeständig, immer auf der Suche nach neuen Gesichtskreisen, neuen Erlebnissen.

»Die Liebe von Zigeunern stammet... « (»Carmen.«) Und das ist wahr. Niemand von uns kann die Beständigkeit der Liebe bejahen. Sie ist, mehr als alle anderen Empfindungen des menschlichen Wesens, unbeständig und untreu, weil sie nicht nur eine bloße Herzensneigung, sondern auch ein sinnlicher Wunsch und ein physisches Bedürfnis ist.

Daß man die Liebe nur nicht mit der Ehe verwechsle! Die Ehe ist ein sozialer Vertrag, die Liebe ist ein Naturgesetz. Die Ehe ist ein Kontrakt, die Liebe ein Kuß. Die Ehe ist ein Gefängnis, die Liebe ein Aufblühen, eine Herzensergießung. Die Ehe ist die Prostitution der Liebe. Damit die Liebe ihre Schönheit und Würde bewahre, muß sie frei sein; sie kann nur frei sein, wenn sie von ihrem einzigen Gesetze geleitet wird, und es kann in diesem Falle weder moralische, noch materielle Bestimmungen geben: Zwei Menschen, welche sich lieben und den Wunsch haben, sich gegenseitig zu besitzen, sagen es einander; sie müssen das Recht haben, sich einer dem anderen hinzugeben, ohne daß ein dritter mit irgend einer fremden Ursache dazwischen tritt.

Ebenso muß ihnen die absolute Freiheit gelassen werden, sich mit dem Tage zu trennen, wo sie nicht mehr das Bedürfnis haben, sich zu besitzen. Ich sage nicht mit dem Tage, wo sie sich nicht mehr lieben, aber mit dem Tage, wo sie aufhören, sich zu begehren. Man kann aufgehört haben, eine Frau zu begehren, kann sie aber immer noch lieben. Man kann nichts mehr wissen wollen von der Geliebten, aberimmer noch der Freundin treu bleiben.

Dieses ist ein psychologischer Fall, so gut bekannt, daß ich nicht darauf einzugehen brauche. Ich will ihn nur insoweit behandeln, als er das Weib betrifft. Es ist eine bekannte Tatsache, daß das sexuelle Leben des Weibes gleich null ist oder es ist dem des Mannes — legal oder illegal — untergeordnet, welchen sie gewählt hat. Sie muß leben und empfinden durch ihn: sie muß aufgelegt sein, wenn er es ist, und neutral bleiben, wenn er kein sexuelles Bedürfnis empfindet. Bis zum heutigen Tage glaubte der Mann, daß er nur allein über das sinnliche Empfinden zu bestimmen habe, und weigerte sich stets, im Weibe ein Wesen zu sehen, welches physisch und moralisch genau so organisiert ist, wie er selber. Es ist die Frage, welche ich zuerst in dieser Studie über die freie Liebe näher behandeln will.

Um die großen Naturgesetze genau zu studieren, ist es notwendig, wieder auf die primitivsten Formen zurückzukommen, und man muß sich das Tierleben in der Natur genauer besehen. Nun gut, in der Natur hat das weibliche Geschlecht sein eigenes sexuelles Leben. Es hat seine eigenen sexuellen Bedürfnisse und Wünsche, welche es mit derselben Freiheit und Regelmäßigkeit befriedigt wie das männliche Geschlecht. Also niemand wird bestreiten, daß die physiologischen Gesetze für den Menschen nicht die gleichen wären, weiche die Tiere regieren. Warum also will man in diesem Falle nicht die gleiche physiologische Ähnlichkeit zwischen dem Weibe und dem Tiere anerkennen, wie man es doch schon getan hat zwischen dem Manne und dem Tiere? Warum verweigert man dem Weibe sein eigenes sexuelles Leben? Warum macht man die Liebe zum ausschließlichen Bedürfnisse des Mannes? Da sich der Mann Aber diese Frage sowie über alle anderen zum Herrn aufgeworfen hat, so hat er stets geantwortet: Weil das Weib keine Bedürfnisse hat, weil es nicht »wünscht«, weil es nicht leidet unter der Verhinderung der fleischlichen Befriedigungen.

Aber was weiß er, der Mann davon, wenn das Weib Bedürfnisse hat? Wer anders als das Weib selber hat darüber zu urteilen und zu bestimmen? Ich habe noch immer den Ausspruch eines Arztes im Gedächtnisse, welcher sagte: »Das Zölibat der Frau ist ebenso monströs (ungeheuer) wie das eines Pfaffen. Die Frauen zur Enthaltsamkeit zu verurteilen, ist eine Unbilligkeit, denn das heißt die vollständige Entwicklung des weiblichen Wesens verhindern.«

Also nach dem Ausspruche dieses Arztes hemmt die lang erhaltene Jungfernschaft die geistige sowie körperliche Entwicklung des Weibes. Wenn vielleicht wirklich Frauen existieren sollten, sogenannte kalte, die keine sinnlichen Verlangen haben, was beweist das übrigens? Ebenso gibt es Männer ohne Sinnlichkeit, aber es ist nicht die Mehrzahl, und es sei mir gestattet zu behaupten, daß es auch nicht die Mehrzahl der Frauen ist, welche die Liebe zurückweisen. Übrigens infolge der Erziehung, welche die Frau heutzutage erhält, ist sie selbst nicht in der Lage, ihre Empfindungen und Bedürfnisse richtig zu beurteilen.

Sie analysiert nicht ihr inneres Leben und leidet oft, ohne zu wissen warum. Eine üppige, gesunde Jungfrau, der heißes Blut in den Adern rollt und ihre Lippen rötet, dürfte kaum wissen, daß es ihre Jungfernschaft ist, welche sie nervös, träumerisch und unruhig macht. Sie weiß vielleicht nicht, daß es das Liebesbedürfnis ist, weshalb sie oft ohne Grund weint oder lacht. Aber ist es deshalb weniger wahr, weil sie keine Erklärung für alle diese Vorgänge hat daß es das natürliche Gesetz der Liebe ist welches hier arbeitet?

Alles was sie hier ignoriert wird ihr in der Ehe auf eine rohe Art und Weise zum Bewußtsein gebracht werden. Sie wird blind in die Ehe gegangen sein aus dem einfachen Grunde, um zwei wiegende Arme oder Unterkunft zu finden; dann endlich muß sie alles »wissen«, eingeweiht in das sexuelle Leben, wenn ihr Fleisch lebendig geworden sein wird, dann wird sie sich vielleicht bewußt, daß sie an einem Manne gebunden ist, welchen sie nicht mehr liebt.

Und dann gemäß ihrem Temperament wird sie sich den suchen, den sie liebt oder sie wird sich den ehelichen Pflichten unterwerfen. Wenn sie sich unterwirft, wenn sie die ehelichen Pflichten ohne Liebe übernimmt, wenn sie selbst sich und den anderen vorredet, sie empfinde kein fleischliches Bedürfnis, wird sie einfach sich und die anderen täuschen.

Das Bedürfnis nach Liebe war bei ihr vorhanden, aber nachdem es weder die nötige Anregung, noch die nötige Entfaltung gefunden hat ist es verkümmert und eingeschläfert Hätte diese Frau frei sehen können, hätte sie den verlassen, der ihren Wünschen nicht entsprach und den gefunden, welcher ihrer Natur besser zugesagt hätte, dann wäre sie wahrscheinlich kein sogenanntes kaltes Weib geworden.

Nach den heutigen Sitten ist es einem Manne viel leichter zu beurteilen, ob er »kalt« ist oder nicht Er kann seinen Begierden freien Lauf lassen, und nachdem er in den Armen von verschiedenen Weibern gelegen hat kann er mit gutem Gewissen beurteilen, ob er für oder gegen die Sinnlichkeit ist. Aber die Frau, welche verurteilt ist, nur einen einzigen Mann zu kennen, kann in Wirklichkeit nicht sagen, ob sie nicht in den Armen eines anderen Mannes das gefunden hätte, was sie bei diesem vermißte. Es ist also unmöglich, die Frauen vom Standpunkte der Sinnlichkeit zu beurteilen.

Betrachtet man dessen ungeachtet die Tierwelt, so wird man sehen, daß die Abnormalität die sexuelle Unempfindlichkeit sehr selten bei den Weibchen zu finden ist. Man findet sie nie bei den wild lebenden Tieren, und wenn sie hin und wieder bei den Haustieren vorkommt, so sind diese nur durch die Zähmung verstümmelt worden. Wir können übrigens feststellen, daß, wenn man einer Hündin die Gelegenheit nimmt, ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, man sie gleichzeitig um den vierten Teil ihrer Lebensdauer bringt. Und wenn das Weib normal lebt, wenn es nicht auch durch physischen und moralischen Zwang verstümmelt wäre, würden die »kalten« Weiber zu den Seltenheiten gehören. Selbst wenn es nur fünfzig Prozent von Weibern gäbe, die wirklich sinnliche Bedürfnisse haben, so glaube ich, daß die fünfzig anderen das Recht auf ein vollständiges Leben beanspruchen können, und es ist ganz einfach ungerecht, sie zur Verstümmelung eines Teiles ihres Selbst zu verurteilen, aus dem einfachen Grunde, weil es fünfzig andere gibt, die mit ihrem Lose vollständig zufrieden sind.

Die Freiheit in der Liebe für das Weib, ebenso wie für den Mann, ist weiter nichts als der einfachste Grundsatz der Gerechtigkeit Das würde nicht die »Kalten« zwingen, leidenschaftlich zu werden, aber die Leidenschaftlichen würden nicht mehr unter dem Zwange der üblichen sozialen Gesetze zu leiden haben.

Ich habe zu Anfang gesagt man dürfe nicht Liebe mit Ehe verwechseln. Nun gut, ehe ich das physiologische Gebiet verlasse, gehe ich mit meinen Behauptungen noch viel weiter und sage, man darf auch nicht Liebe mit Verlangen verwechseln. Die Liebe ist das vollständige Ineinanderaufgehen zweier Gehirne, zweier Herzen, zweier Leidenschaften. Das Verlangen ist weiter nichts als die Laune zweier Oberhäute, die dasselbe Wollustfieber vereinigt.

Nichts ist unbeständiger als das ungestüme Verlangen, und dennoch entgeht ihm keiner von uns. Wenn alle Frauen aufrichtig mit sich selber sein wollen, werden sie eingestehen, daß es ihnen manchmal vorgekommen ist, sich einem völlig unbekannten Manne hinzugeben, welchen sie nur wenige Stunden gesehen hatten, selbt nur wenige Augenblicke, ohne seinen Charakter noch seinen Namen zu kennen. Ein einziger Händedruck, ein einziger Blickwechsel, selbst ein einziges Wort genügt oft, das Verlangen hervorzurufen; und ob sie will oder nicht, die Frau, in welcher dieses Verlangen wach wurde, wird diesem völlig unbekannten, ihr nicht gehörenden Manne angehören und wird ihn am anderen Tage schon vergessen.

Wir können unser Verlangen ebensowenig wie den Hunger unterdrücken. Alle beide sind eng mit unserem physischen Wesen verbunden, sie sind eines wie das andere das Resultat von zwei natürlichen legitimen Bedürfnissen; und der Hunger läßt sich nicht unterdrücken, er will gestillt sein. Ich beharre auf der Behauptung, daß Liebe und Verlangen verschiedene Dinge sind, trotzdem man geneigt ist beide zu verwechseln, eins dem anderen nahe zubringen, und diese Verwechslung führt oft zu unangenehmen (traurigen), bedauernswerten Resultaten.

Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach! — sagt uns schon die Bibel. Gewiß, ja, das Fleisch ist schwach. Welche Zeit braucht es, um das Verlangen zur Ausführung zu bringen? Und ist dieser Akt immer freiwillig und wissentlich ausgeführt worden? Es gibt Stunden, wo die Kenntnis der Wirklichkeit verschwindet, wo nichts in uns existiert als die momentane Empfindung. Diejenigen, die umgeben von der Natur gelebt haben, wissen sehr genau: Wenn im Frühling der Saft in die Zweige steigt, wenn das volle Leben überall hervorsprudelt, Erde, Sonne, Gehölz, Pflanzen, neu verjüngt erscheinen, so regt sich auch das Verlangen in uns, und schwellt die Brust Und an den schwülen Sommerabenden, heiß und duftig, wer wollte es da noch leugnen, daß an diesen Abenden das Wollust-Bedürfnis nicht ein viel stärkeres sei?

Doch genug, die Heißblütigen, Temperamentvollen, die an stillen Abenden allein waren, könnten euch etwas davon erzählen, was sie alles gelitten haben. Wenn es Stunden gibt, wo die Sinnlichkeit oft unerbittlich auf uns einwirkt, so ist es auch nicht zu verwundern, daß das Fleisch schwach ist; und es genügt dann, daß der Zufall den Vermittler spielt und zwei Menschen von verschiedenem Geschlecht zusammenführt. Alles dies aber ist nichts weniger als Liebe, weiter nichts als Verlangen. Das Verlangen hat wohl manchmal den Anschein von Liebe, aber nachdem es einmal gestillt ist, bleiben die beiden Menschen doch einander völlig fremd, und sie gehen dann auseinander ganz ohne Bedauern, genau so wie ein Hungriger ohne ein solches von einer vollen Tafel geht, nachdem sein Hunger gestillt ist.

Ich möchte mich aber dagegen verwahren, daß man aus diesem Satze etwa den Schluß zöge, daß ich dieses Verlangen verwerfe. Warum sollte ich es auch verdammen, da ich doch soeben gezeigt habe, daß es sehr eng verbunden ist mit unserem sexuellen Leben und eine ganz natürliche Begleiterscheinung desselben ist. Ich wollte nur einfach den Unterschied zwischen Verlangen und Liebe zeigen.

II.

Also Ehe, Liebe, Verlangen sind drei auseinanderzuhaltende Begriffe. Die Ehe ist eine Kette, ein Gefängnis ebensowohl für den Mann wie für das Weib. Die Liebe ist das vollständige Ineinanderaufgehen von zwei Wesen. Das Verlangen ist eine bloße Laune, ein Bedürfnis nach wollüstigen Genüssen.

Ich lasse die Ehe bei Seite, um auf die freie Liebe zurückzukommen, da ich doch ausgesprochene Gegnerin der ersteren bin. Ich sagte schon, daß die Liebe unbedingt frei sein muß für beide Geschlechter, und füge noch hinzu: Die Liebe kann in Wirklichkeit nur unter dieser Bedingung existieren. Ohne diese absolute Freiheit wird sie stets zur Prostitution werden, mag man sie auch mit den schönsten Namen bekleiden.

Nicht allein die bloße Tatsache, seine Körper je nach den Umständen billiger oder teurer an eine mehr oder minder zahlreiche Kundschaft zu verkaufen, ist Prostitution. Nicht bloß die Frau prostituiert sich, ebenso der Mann, wenn er aus irgend welchem Interesse seine Liebkosungen gibt, ohne von einem natürlichem Verlangen dazu getrieben zu sein. Nicht allein die sogenannte Vernunftehe, wenn sie eine Spekulation der beiden Gatten ist, ist Prostitution, sondern sie ist es immer, auch dann, wenn eine Jungfrau nicht weiß, was ihrer im Ehestand wartet, d h. wenn sie die Ehe unbewußt eingeht. Was die ehelichen Pflichten anbetrifft, so sind sie nichts mehr und nichts weniger als Prostitution. Prostitution ist die Unterwerfung des Weibes dem Manne gegenüber, ebenso die Ergebung, die Passivität. Zur Prostitution wird auch die »freie Liebe«, wenn sie zur reinen Gewohnheit übergebt.

***

Einer der Hauptgründe, weshalb die Liebe frei sein muß, ist eben die genaue Ähnlichkeit zwischen Liebe und Verlangen, welches Thema ich eingangs behandelt habe und bitte diese beiden Ausdrücke (»amour« und »desire«) nicht zu verwechseln. Können in Wahrheit zwei Menschen irgend einen Kontrakt schließen, etwas versprechen, ohne die Gewißheit zu haben, dieses Versprechen auch zu halten?

Hat man das Recht, zwei Elemente zu vereinen, ohne sie vorher auf den Verwandschaftsgrad geprüft zu haben, welcher zwischen beiden besteht? In der legalen Ehe wird es immer einen Betrogenen geben: das Weib, manchmal auch der Mann wird nicht das in seinem Ehegemahl finden, was man zu finden glaubte, und dennoch sind sie aneinander gebunden. Selbst wenn die Ehe aus der Liebe hervorgegangen ist, kann sie in kurzer Zeit eine Last für die beiden Vereinigten werden. Das kommt daher, daß diese Liebe weiter nichts als Verlangen war, welches, einmal befriedigt, aufhörte zu existieren. Hätten sich die beiden vor ihrer legalen Vereinigung frei hingegeben, so würde ihnen die Erfahrung gezeigt haben, daß sie nicht für ein gemeinsames Zusammenleben geartet sind, und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Ehe nicht geschlossen worden wäre. Wieder ein Beweis für die Notwendigkeit der freien Liebe.

Die Liebe kann aus dem Verlangen entsprießen, aber es ist niemals die Gewißheit dafür gegeben. Wenn die Liebe erst dann zur sinnlichen wird, nachdem sie den Weg durch Herz und Gehirn genommen hat,so ist mehr Gewißheit für ihre Dauer vorhanden, als wenn sie als Grundlage nur das sexuelle Bedürfnis hat. Im letzteren Falle wird sie sehr wahrscheinlich bald verlöschen, wenn sie nicht imstande ist, Herz und Kopf zu erobern.

Da ich dabei bin, eine analytische Studie zu machen, muß ich auch der Wahrheit auf den Grund gehen und hinzufügen, daß das reine sexuelle Begehren imstande ist, zwei Menschen ziemlich lange zu vereinigen, ohne jemals die Liebe vollständig zu wecken. Ein Mann und eine Frau können mit einander in intimem Verkehr stehen, ohne etwas anderes als das sexuelle Verlangen geinein zu haben. Ihre Ideen und Empfindungen können in vollständigem Widerspruch stehen, das hindert aber nicht, daß ihre Körper bei der Vereinigung vibrieren. Und dieser Fall — ich mache besonders darauf aufmerksam — kann unter keinen Umständen mit der Prostitution gleichgestellt werden, weil das Empfinden, welches die beiden Individuen nähert und vereint obgleich nur sexuell, doch aufrichtig bei dem einen wie bei dem anderen Teile ist Es kann nur dort Prostitution geben, wo es sich um Verkauf, Zwang, Unwissenheit und Passivität handelt. In diesem erwähnten Falle ist es nicht so, weil die beiden durch dieselbe Empfindung angezogen werden, weil sie Vergnügen und Befriedigung in dieser freien, nicht aufgezwungenen Verbindung finden. Aber diese Wahrheit, welche ich soeben dargelegt habe, führt zur Verdammung der Monogamie.

In der Tat, aus der Verschiedenheit der Empfindungen entsteht die Verschiedenheit der Begierden, und wenn man diese Verschiedenheit als reines Naturgesetz annimmt, kann man nicht mehr das Gesetz der Monogamie aufrecht erhalten. Die Mongamie ist auch noch eine Art Prostitution, des Mannes zur Frau und umgekehrt. Es kann also in dieser Frage des sexuellen Lebens der Individuen nur ein Gesetz, nur eine Moral bestehen, das ist die absolute Freiheit der Liebe.

Die Vereinigung des Fleisches kann nicht nach einer Regel, welche für alle Individuen gleich anwendbar ist, bestimmt werden, da doch letztere auch keinem bestimmten, unveränderlichen Gesetze unterworfen sind, und es dürfen weder Pflichten geschaffen noch Rechte konstituiert werden, will man die volle Freiheit der Liebe bewahren. Ist es nicht der größte Blödsinn, die Worte Pflicht und Liebe mit einander zu verbinden?

Empfindet man nicht schon die ganze Ironie aus dem Satze heraus, welcher sich in den Büchern über Moral für Kinder findet: die erste Pflicht eines Kindes ist seine Eltern zu lieben. Sagt nicht die gewöhnliche Spießermoral: eine Mutter muß ihre Kinder, das Weib seinen Mann lieben? Lauter Spott — diese Worte. Kann die Liebe, welcher Gattung sie auch angehören mag, jemals zur Pflicht werden? Ist es nicht ganz natürlich, daß das Kind die Mutter liebt, welche es erzieht, daß die Mutter ihr Kind liebt, welches ihr Schmerzen gekostet, und welches ein teures Andenken an empfangene Liebkosungen ist? Ist es nicht ebenso natürlich, daß die Frau ihren Gefährten, welchen sie gewählt hat, den Freund, welcher erst ihr Leben, ihr weibliches Wesen ausmacht liebt?

Wenn ein Kind seine Mutter, eine Mutter, ihre Kinder, ein Weib ihren Gefährten nicht liebt; was kann man ändern? Nichts. Weder Gesetze, noch Moral, noch Religionen können Liebe einflößen, wenn dieselbe nicht schon von der Natur gegeben ist Ebenso wie die Liebe keine Pflichten schaffen kann, so kann sie auch nicht der Ursprung von Rechten sein. Das Recht des Mannes über die Frau, dasjenige der Frau über den Mann ist Unterdrückung und jede Unterdrückung tötet die Liebe. Der Sklave kann seinen Herrn nicht lieben, er kann ihn nur fürchten und wird suchen, ihm zu gefallen.

Der Vorfall, daß eine Frau geliebt, sich einem Manne hingegeben hat, darf diesem kein Recht über diese Frau geben, ebensowenig, wie der Vorfall, sich hingegeben zu haben, für dieses Weib ein Grund zur Autorität über ihren Begleiter sein darf. Frei vor ihrem Bekanntwerden, frei sich liebend, frei verbunden, müssen Mann und Weib auch nach dieser Verbindung wieder frei sein, wenn das Verlangen sie nicht mehr zueinander zieht und die Liebe zwischen beiden aufgehört hat. Ich schließe nun diese Studie, alles noch einmal ganz kurz zusammenfassend:

Die Liebe muß vollständig frei sein; kein Gesetz, keine Moral darf sie in irgendwelchem Sinne unterwerfen oder leiten. Es darf auch kein Unterschied zwischen beiden Geschlechtern gemacht werden indem, was die Liebe betrifft Endlich darf der sexuelle Verkehr den Individuen weder Verpflichtungen, weder Verbindlichkeiten auferlegen, noch Rechte gegewähren.

III.

Ich bin sicher, daß vielen Personen meine Theorie beim ersten Durchblick unmoralisch erscheinen wird. Es wird viele geben, welche darin die Verherrlichung der Schwelgerei, die Rechtmäßigkeitserklärung der Ausschweifung und die Entschuldigung für alle Entartungen sehen werden. Aber wenn man sich nur ein wenig mit dieser Frage beschäftigen will, in dieselbe tiefer eindringt, so wird man mit mir einverstanden sein und zu demselben Schlüsse kommen, daß die freie Liebe weit davon entfernt ist, im Gegenteil zu einem natürlichen Regulator der Moralität werden wird.

Was ist Unmoral? Um diesen Begriff oder dieses Wort verstehen zu können, ist es notwendig, ein für allemal den Atavismus (Gesetz und Art der Erblichkeit) von sich abzustreifen, der uns alles als Naturgesetz erscheinen läßt, was weiter nichts als eine soziale Überlieferung ist. Für mich ist alles Unmoral, was gegen die Natur ist, alles, was das Individuum zwingt, die natürlichen Lebensregeln außer Acht zu lassen und es rein gesellschaftlichen, überlieferten Regeln unterwirft. Alles was die Menschheit in ihrem Aufblühen, in ihrer Entwicklung hindert, aus Rücksichten, welche jedem ganz wertlos erscheinen müssen, der sich die Mühe gibt nur ein wenig darüber nachzudenken. Unmoral, das ist Prostitution — legal oder illegal — das unfreiwillige Zölibat des Weibes, der Verkauf des weiblichen Körpers, ferner die Unterwerfung der Gattin, die Lüge des Gatten gegen diejenige, welche er aufgehört hat zu lieben. Aber die freie Liebe kann niemals Unmoral sein, weil sie ein Naturgesetz, ebenso nicht das sexuelle Verlangen, weil dieses ein natürliches Bedürfnis unseres physischen Lebens ist. Ist dieses sexuelle Bedürfnis unmoralisch, so bleibt uns weiter nichts übrig als Hunger, Schlaf usw., mit einem Worte alle physischen Erscheinungen, welche den menschlichen Körper regieren, als unmoralisch zu erklären.

Betrachten wir einmal unsere gegenwärtigen Sitten. Welche Quelle von Unmoral finden wir nicht darin? Ehe ohne Neigung, wo der Mann die Mitgift die Frau sich eine Stellung erkauft; Ehebruch des Gatten, sowie der Gattin; Vergewaltigung aller Art, Verkauf der fleischlichen Genüsse, Lügen in allen Formen, Lügen des Gefühls, des Fleisches, des Gehirnes. Die verschiedensten Abmachungen, welche die Unwissende dem alten Wüstling, die Armut dem gewissenlosen Ausbeuter ausliefert welcher auf ihren Hunger spekuliert. Daß doch die freie Liebe zur Regel werde, es könnte dann unmöglich mehr Gemeinheiten geben, als schon bestehen. Selbst wenn man annimmt, daß sie an den bestehenden Verhältnissen im Grunde wenig ändern würde, so würde sie doch das Verdienst haben, aufrichtiger zu sein, in Bezug auf die Form.

Aber ich für meinen Teil bin fest davon überzeugt, daß sie die Befreiung der individuellen Moral sein wird, weil sie beide Geschlechter vom sexuellen Zwange und von der physischen Knechtschaft befreien wird. Warum will man uns glauben machen, daß das freie Individuum unmoralisch sein würde? Gibt es doch keine Unmoral bei den freien Tieren. Diese kennen keine physischen Störungen, wie solche dem Menschen eigen sind, ganz einfach, weil sie sich von keinen anderen Gesetzen, als von denen der Natur bezwingen lassen. Das, was Unmoral erzeugt, ist die gezwungene Lüge eines Menschen gegen den anderen und gegen sich selbst Indem die freie Liebe den Menschen von der Lüge befreit, wird sie ihn auch von allen Entartungen, Störungen und Ausschweifungen heilen. Sobald der Mensch vollständig frei, wenn er wieder regeneriert sein wird durch eine bessere Erziehung, wird er in sich selbst das natürliche Gleichgewicht aller seiner physischen und moralischen Eigenschaften wiederfinden und dann ein gesundes, normales Wesen werden.

Wir haben übrigens ein natürliches, instinktives Gefühl in uns, welches über uns wacht (Le sentiment de la conversation). Wenn wir keinen Hunger mehr haben, hören wir auf zu essen, weil wir die unangenehmen Folgen eines überladenen Magens fürchten, sind wir ermüdet vom Marsche, so haben wir das Bedürfnis nach Ruhe, brennen uns die Augen vor Müdigkeit, so wissen wir sehr wohl, daß wir Schlaf nötig haben.

Ebenso werden wir den natürlichen Regulator für unser sexuelles Leben wiederfinden, der uns vor Ausschweifungen und Überanstrengungen bewahren wird. Das frei lebende Tier gehorcht diesem natürlichen Instinkt der Selbsterhaltung, warum sollte es dem freien Menschen nicht möglich sein, dasselbe zu tun? Ich wollte nicht der menschlichen Rasse den Schimpf antun und glauben, daß es ihr nicht möglich sein würde, dem Gefühl der Selbsterhaltung zu gehorchen.

Nein, die vollständige Entwicklung des freien Wesens würde nie Unmoral sein können. Wirkliche Unmoral ist, indem man das Bewußtsein (consience) verfälscht und die Grundwahrheiten der Natur entstellt, Unmoral ist, das Individuum im Namen von Gesetzen und Dogmen zu hindern, sich stark zu entwickeln, gesund und frei zu leben und es zu zwingen, Überlieferungen zu beachten, welche im Widerspruche mit der Schönheit und Harmonie des Lebens stehen.

Verlagsbuchhandlung Rudolf Cerny, 16. Bezirk, Liebhartsgasse 46, Wien, 1920

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