Geschichte der "Freien liebe" im 18. und 19. Jahrhundert (Teil 3)
Charles Fourier - Der Meisterdenker der Freien Liebe 1772-1837
Charles Fourier wird dem sogenannten Frühsozialismus zugeschrieben - auch utopischer Sozialismus genannt - der als Vorläufer des Marxismus verstanden werden kann. Im Grunde genommen ist jedoch das libertäre Denken Fouriers in vieler Hinsicht dem anarchistischen Gedankengut näher als den sozialistischen Ideen. Selbst der Sozialist August Bebel nennt ihn in seinem Fourier-Buch den "Vater des Anarchismus". Grundsätzlich geht es dem Anarchismus um die Vorstellung eines selbstgestalteten Zusammenlebens selbstbestimmter Menschen, der zwangs- und herrschaftsfreien Gemeinschaft autonomer Menschen mit direkter Basisdemokratie ohne jegliche autoritäre Herrschaftsstrukturen.
Die neue Liebeswelt : liberté amoureuse
"La liberté des amours est la liberté tout court: Freiheit in den Liebesbeziehungen ist die Freiheit schlechthin"
Die wichtigste Leidenschaft ist für Fourier die Liebe in all ihren Erscheinungsformen. Sie ist für ihn die mächtigste Verbindungskraft und die bedeutenste Triebfeder der menschlichen Evolution. Wie kein anderer fragt Fourier nach den grundlegenden Bedingungen für geglückte Liebe und Sexualität. Wie kann das menschliche Zusammenleben organisiert werden, damit die Liebe in Freiheit und somit das soziale Glück überhaupt an Geltung gewinnen kann? Jeder Fortschritt - der ökonomische, politische, soziale und religiöse usw. hat nur dann einen Sinn, wenn dabei die Liebe in Freiheit vorankommt. Fourier macht deutlich: eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft der freien Liebe.
Die Fesseln der Liebe in der Zivilisation
Fourier wagt sich mit einer vielschichtigen und brillanten Analyse zu den damaligen Liebessitten weit in das Thema der "freien Liebe" hinein. Mit Blitz und Donner empört er sich über die Verlogenheit und Falschheit in den Liebesbeziehungen der zivilisierten Menschheit und stöpert ihre Häßlichkeiten in der Liebe scharfsichtig auf. Die menschlichen Grundfragen der Liebe und Sexualität mit Ausschließlichkeit, Monogamie, Puritanismus, Keuschheitsgebärden, moralischen Verboten und Geboten zu beantworten, ist für Fourier der größte Irrtum menschlichen Zusammenlebens. Vor allem die moralischen Gebote und Verbote machen die Liebe häßlich und erzeugen Angst, Lüge, Eifersucht, Egoismus, Zynismus und Arglist. Die Liebe liegt in Fesseln und somit ist aller sozialer Fortschritt behindert:
"In der Zivilisation sind die Liebesbeziehungen, ganz wie die Politik, der Gipfel der Heuchelei; alle unsere Sitten wie Ehebruch und Hahnreitum, bezahlte Prostitution, Prüderie der Greise, Falschheit der Mädchen und Zügellosigkeit der Knaben sowie das geheime Luderleben aller Klassen beweisen, daß ein höherer Grad an Verderbtheit kaum noch möglich ist". "...Man wollte der unsozialen oder auschließlichen Liebe die Krone aufsetzen, doch die Erfahrung zeugt gegen sie; die Zivilisation bringt in der galanten Welt nur tyrannische und geprellte Männer hervor, die weder Ritterlichkeit noch Zartgefühl kennen, niederträchtige und heimtückische Frauen ohne Scham und Aufrichtigkeit. Derlei Ergebnisse beweisen zur Genüge, daß das zivilisierte System sich in Dingen der Liebe weit von den Pfaden der Ehre entfernt."
"Was ist eine Liebespaar nach der heutigen Methode? Ein Individuum zu zweit, welches das Glück für sich allein pachten will. Ein solches Paar ist dem Mann vergleichbar, der in seinem Keller die besten Weine der Welt lagert, aber sie stets alleine trinkt, ohne je einen Freund, Verwandten oder Nachbarn einzuladen".
Fourier ist sich sicher, daß Liebesbeziehungen kaum mit der Ausschließlichkeit einer monogamen Ehe zu vereinbaren seien. Die eigentlichen Liebesbeziehungen fänden vor allem in den versteckten oder geheimen außerehelichen Liebschaften und in der käuflichen Liebe ihren Platz. In 99 von 100 Fällen werde gegen das Gebot der ehelichen Treue verstoßen. Dies war keine Überraschung für Fourier, so sah er die lebenslängliche, ausschließliche Treue im Widerspruch zu den Bedürfnissen des Menschen. Eine falsche und engherzige Sittlichkeit sowie eine ungerechte Gesellschaftsordnung nötige die Menschen zur Lüge und Verstellung:
"Wissen die Moralisten nicht selbst, daß ewige, ausschließliche Treue in der Liebe der menschlichen Natur zuwiderläuft; daß man vielleicht einige Dummköpfe beiderlei Geschlechts, niemals aber alle Männer und Frauen zu solchen Sitten bekehren kann; und daß somit jede Gesetzgebung, welche Eigenschaften fordert, die mit den Leidenschaften unvereinbar sind, nur lächerliche Spekulationen hervorbringen und Unordnung stiften kann, da die ganze Gesellschaft sich dann stillschweigend zusammenschließt, um die Übertretung der Gesetze gutzuheißen? Ist dies nicht das Ergebnis des Liebessystem, das seit 2500 Jahren herrscht? Es läßt nur die Sitten der Unterdrückung fortdauern, die in den finsteren Zeitaltern herrschten, Sitten, auf denen zu bestehen lächerlich ist, in einem Jahrhundert, das sich seiner Vernunft und seiner Achtung für die Natur rühmt"
"Ich kritisiere hier die Zivilisation nur insofern, als sie die eifersüchtige Liebe zum ausschließlichen System erheben will. Ebenso würde ich mich gegen ein Volk wenden, das bestimmte Bräuche, die einer allgemeinen Liebeskommune gleichkämen, zum System erheben wollte. In der Harmonie gilt die Regel, alle ausschließlichen Systeme zu vermeiden, denn sie sind das Grundübel der Zivilisation"
(Mit dem Begriff "Harmonie" versucht Fourier die Möglichkeiten einer zukünftigen Gesellschaft zu beschreiben, die den anarchistischen Vorstellungen einer kommunitären Gesellschaft enstpricht. Eine kommunitäre Gesellschaft ist eine freie Assoziation bzw. Föderation von so weit wie möglich autonomen, autarken, selbstorganisierten Lebensgemeinschaften)
Zudem kritisiert Fourier immer wieder die bürgerliche Familie und die unauflösliche Ehe, die zur Isolation, Egoismus und Feindschaft führen und somit im Grunde genommen a-sozial sind:
"Wenn das häusliche Leben auch vor einigen Nachteilen der Ehelosigkeit schützt, so gewährt es doch niemals irgendein positives Glück, selbst dann nicht, wenn zwischen den Ehegatten völliges Einvernehmen herrscht; denn wenn ihre Charakter einander glücklich ergänzen, so würde sie nichts daran hindern, auch in einer Ordnung zusammenzuleben, in der die Liebe frei und die häusliche Gemeinschaft anders organisiert ist. Das männlich Geschlecht, wiewohl das stärkere, hat die Gesetze nicht zu seinem Vorteil gemacht, als es die isolierte Haushalte und deren Folgeerscheinungen, die lebenslange Ehe einführte. (...) Konnte es etwas Besseres erfinden als den isolierten Haushalt und die unauflösliche Ehe, um die Liebesbeziehungen und die Sinnenlust mit Langeweile, Käuflichkeit und Falschheit zu vergiften?"
"Das heutige System, das den Zusammenschluß der Menschen infolge der Isolierung der Haushalte auf ein Minimum beschränkt, hat die Menschheit auf den Gipfel der Verderbtheit geführt".
"Die Zivilisation bewirkt, daß der Mensch in ewigem Kriegszustand mit seinesgleichen lebt und jede Familie der geheime Feind aller anderen Familien ist".
Fourier kritisiert hierbei insbesondere die Unfreiheit der Frau. In Bezug auf die Stellung der Frau dachte Fourier zu seiner Zeit ungemein fortschrittlich:
"Der gesellschaftliche Fortschritt fällt immer zusammen mit der zunehmenden Emanzipation der Frau, und der Rückschritt der Völker hat seine Ursache in der Schmälerung der weiblichen Freiheiten... Die Erweiterung der Vorrechte der Frauen ist die Grundvoraussetzung für jeden gesellschaftlichen Fortschritt"
Bemerkenswert sind auch Fouriers kritische Äußerungen über die gesellschaftlich vermittelte Prüderie im Alter. Er kritisiert vehement die Arroganz, mit der wir annehmen, daß Liebe und sexuelle Lust ein Privileg der Jugend sei: "Unsere Gelehrten geben sich die größte Mühe, uns beizubringen, den Zauber der Liebe zu ersetzen, auf die man im Herbst des Lebens verzichten muß. Als Entschädigung bieten sie uns sentimentales Flickwerk, schrullige Zärtlichkeiten für die Familie, das Vaterland und die Moral usw., die nicht auf Gegenseitigkeit beruht und darum nur halbe Lust ist..."
"Alle sind der Überzeugung, daß die Liebe ihrem Alter nicht mehr ansteht, und dennoch ist sie das Gut, dessen Verlust sie am meisten beklagen. Um sich dessen zu vergewissern, braucht man einem Graubart, der die Liebe vergessen und sich in Unabänderliche gefügt hat ... Beherzigen wir diese Wahrheit, die keine Weisheit unserer Wissenschaften zu ersticken vermag, daß nämlich die Liebe ein Bedürfnis jeder Altersstufe ist und daß die Zerstreuungen, die man sich zu verschaffen weiß, dieses Bedürfnis nicht aus dem Weg räumen können ...
"Die Greise werden bald erkennen, daß sie die betrogenen Opfer des Zwangssystems und der Arglist der Zivilisation sind. Und da die zivilisierten Gesetze zu allen Zeiten das Werk der Alten waren, ist es um so verwunderlicher, daß sie sie so sehr zu ihrem Nachteil geschaffen und die Beziehungen in der Liebe und in der Familie so eingerichtet haben, daß die Jugend sie haßt, verhönt und ins Grab drängt".
Fourier kommt zu dem Schluß:
"Unsere Erneuerer haben beschlossen, die Leidenschaft zu ächten, die am geeignetsten ist, Beziehungen unter den Menschen zu knüpfen: sie haben die Liebesbeziehungen auf ein Minimum eingeschränkt. Ihr Ehesystem läßt nur die Form der Liebe gelten, die zur Fortpflanzung der Art unerläßlich ist. Es läßt sich keine Gesellschaftsordnung vorstellen, die die Flügel der Liebe stärker beschnitte ... Daraus ergibt sich ein doppelter politischer Widersinn: zum einen wird die Gesetzgebung durch ein System erniedrigt, gegen das sich die übergroße Mehrheit insgeheim auflehnt; zum anderen zeitigt dieses System ganz andere Ergebnisse, als man sich wünschte, denn es erzeugt Armut, Unterdrückung, Betrug und Gemetzel.; Ergebnisse, die dem Willen der Natur geradewegs entgegenstehen. Die Natur hat die Liebe erfunden, um die sozialen Beziehungen unendlich zu vermehren".
"Man würde sich um alle Früchte der vorangegangenen Kritik an den zivilisierten Liebesverhältnissen bringen, wenn man vergäße, daß in der Harmonie alle Formen der Liebe völlig frei sein werden. Ich habe ihre lächerliche Seiten nur deshalb geschildert, um eine Vorahnung von jenen anderen Sitten zu geben, die in der Harmonie miteinander wetteifern werden, wo jede Leidenschaft die Chance hat, ihre Wahrheit und ihre Freiheit zu finden".
In üblicher Manier versucht Fourier die Unfreiheiten in der Zivilisation dadurch zu überwinden, indem er die noch latenten, versteckten Möglichkeiten des sozialen Fortschritts in der gegebenen Gesellschaft aufspürt und herausfordert. Als kritischer Maßstab dienen ihm die Bedürfnisse der menschlichen Leidenschaften, die er genau studiert und sie zu ihrem Lebensrecht verhelfen will. So kommt er schließlich mit seiner gewaltigen Visionskraft zur Idee der freien Liebe. Was Fourier dabei an Ideen hervorgebracht hat, ist derart radikal, daß sie auch heutzutage noch sozialen Sprengstoff enthalten und das zivilisatorische System ins Wanken bringen könnten. Mit ungeheurer Zivilcourage wagt er sich an alle Tabus heran, die bis heute noch unverstanden und somit unerlöst geblieben sind. Und wo Tabus herschen, geht es um essentielle Probleme der menschlichen Gesellschaft. Fourier will diese Probleme nicht mit moralischen Geboten und Verboten angehen, sondern mit Aufklärung, Verständnis und Verständigung. Denn für Fourier ist klar: Erkenntnis und Liebe, erkennende Liebe, ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Die freie Liebe als Schlüssel zur Harmonie
"Untersuchen wir, welche Möglichkeiten es gibt, die Leidenschaften zu entfalten, statt sie zu ersticken. Dreitausend Jahre wurden töricht damit vergeudet, unterdrückende Theorien zu entwickeln. Es ist an der Zeit, der Gesellschaftspolitik eine andere Wendung zu geben. (...) Der menschlichen Vernunft hätte es besser angestanden, jene unbezwingbaren Kräfte, die man Leidenschaften nennt, nicht zu kritisieren, sondern deren Gesetze zu studieren".
Dies gilt besonders für die Leidenschaft der Liebe. Doch was versteht Fourier hier eigentlich unter Liebe? Fourier unterscheidet grundsätzlich zwei Liebesformen: die "geistige Liebe", die "Herzensbindung" und die "materielle Liebe", also die sexuelle Liebe. In der zukünftigen Gesellschaft - der Harmonie - können die beiden Formen der Liebe gleichwertig in Freiheit ausgeübt werden, wobei er die "liberté amoureuse" in Form der freien Sexualität besonders betont. Solange die materielle Liebe - die Sexualität - unerlöst bleibt und herabgewürdigt wird, können die sozialen Tugenden wie Symphatie, Selbst- und Nächstenliebe, Wahrheit, Vertrauen usw., die der geistigen Liebe inne wohnen, nicht voll zur Geltung kommen. Fourier macht deutlich: Ein sexueller Humanismus führt zum Humanismus schlechthin.
"Wir wollen von einer neuen Ordnung der Liebe sprechen, in der das Gefühl, der edle Teil der Liebe, in hellem Glanz erstrahlen und alle Beziehungen verzaubern wird. Denn worauf gründet ihr Reich? Darauf, daß das Materielle nicht unterdrückt wird, sondern volle Befriedigung findet, und daß das Bedürfnis danach nicht unziemlicher ist als die Gelüste der anderen Sinne (...). Erst wenn das Materielle befriedigt ist, können die edlen Regungen der Liebe ihren Aufflug nehmen ..."
" ... Wer die Rechte der materiellen Liebe verkennt, gefährdet die geistige Liebe... Die Philosophen der Liebe haben, unter dem Vorwand, das materielle Prinzip herabzusetzen, das sentimentale Prinzip entthront. Unsere Gelehrten haben die materielle Liebe als reißenden Strom dargestellt, den es in seinem Bett anzustauen gilt, da er angeblich zerstörerisch ist. Und was trägt sich zu? Der eingedämmte Strom ergießt sich über die Felder und verwüstet zehnmal mehr Land, als er in einem ausreichend breiten Bett eingenommen hätte. Indem man den rechtmäßigen Aufflug und die gesellschaftliche Ausübung der materiellen Liebe... untersagt, vervierfacht man ihren Einfluß und verliert jedes Maß".
"Ich verleihe der spirituellen Liebe großen Glanz, gerade weil ich die materielle Liebe hell erstrahlen lasse".
Fourier macht immer wieder deutlich, daß die Unterdrückung der Liebe - vor allem der sexuellen Liebe - in ein Fiasko führt: "Nicht die Vergnügungen sind schädlich, vielmehr die Seltenheit der Vergnügungen, woraus der Exzeß entsteht". Gleichzeitig betont er, daß die geistige und sexuelle Liebe in einem dialektischen Spannungsverhältnis stehen. Ohne diese Balance verkommt ein Wert zu seiner entwertenden Übertreibung: Sinnvoll gelebte Sexualität braucht eine geistige Basis wie auch die geistige Liebe ohne die sexuelle Liebe nicht voll zur Geltung kommen kann:
"Die Heuchelei entsteht aus der Unterdrückung. Sobald man eine der beiden Triebfedern, sei es das Materielle oder das Geistige, lähmt, tritt dasselbe ein, wie wenn man ein Bein des menschlichen Körpers lähmt: das andere kann nicht alleine gehen, und um sich fortbewegen zu können, muß sich der Körper auf künstliche Geräte stützen, auf Krücken, Prothesen usw. Ebenso verhält es sich in der Liebe. Wenn man unter irgendwelchen Vorwänden - moralichen oder religiösen - eine der beiden elementaren Arten der Liebe behindert, wird die andere in den falschen Rythmus fallen: begünstigt das Gefühl auf Kosten des Materiellen oder das Materielle auf Kosten des Gefühls - in beiden Fällen beraubt ihr den Körper einer seiner Stützen und überläßt die Liebe der allgemeinen Falschheit. Und so gewiß man beiden Beinen volle Bewegungsfreiheit lassen muß, so gewiß muß man den beiden Elementen der Liebe dieselbe Freiheit garantieren, andernfalls beide verfälscht würden und ihre Zusammensetzung ebenso falsch wäre wie ihre Elemente. Unterdessen berufen sich die Zivilisierten auf ihre Vorurteile, ihre tugendsamen Phantastereien, die uns zwingen, das sinnliche oder materielle Prinzip zu unterdrücken. Kürzer und offener könnte man sagen, daß sie keinen sozialen Mechanismus kennen, der es erlaubt, beiden Elementen der Liebe freien Lauf zu lassen (...)".
Nach Fourier gilt es, einen "Kultus der Wollüstigen Leidenschaften" zu entwickeln, der die Wollust und somit alle Arten der Lust zu ihrer Freiheit verhilft. In der Zukunft - der Harmonie - werden "alle Formen der Liebe frei sein". In Fouriers Vision bilden alle Leidenschaften, von dem Universum der Planeten und Gestirne auf die Gesellschaft übertragen, "die Elemente eines riesigen Orchesters". Der Mensch darf sie weder mißbilligen noch verwerfen. Ganz im Gegenteil: die Vielfalt der Leidenschaften sind "unendlich kostbar", sie sind "wie die Zapfen und Fugen in einem Gebälk". Fourier ist sich sicher: "Die Natur will in den Vergnügungen eine ungeheure Vielfalt".
Fourier thematisiert die freie Liebe in vielfältigen Variationen. Der Verschiedenheit und Vielfalt in den Liebesbeziehungen gemäß, versucht Fourier ein umfassendes Konzept zu entwickeln, das komplex und flexibel genug wäre, sich den vielfältigen Möglichkeiten und Bedürfnissen in der Liebe anzunähern. So z.B. denkt er an die Möglichkeit, die verschiedenen individuellen Vorlieben im Sexualverhalten über spezielle Korps (Verbände) zu organisieren, zu denen man/frau sich freiwillig zuordnen kann. Fourier beginnt bei den geschlechtsreifen Jugendlichen. Da gibt es die Gruppe der Vestalinen (in Anlehung an die jungfräulichen Priesterinnen im antiken Rom) und der Vestalen (die männlichen Teilnehmer): diese Jungen und Mädchen (bis ca. 21 Jahre) bleiben in der Liebe keusch. Dagegen können die GruppenteilnehmerInnen der Damoiselles und Damoiseaux sexuelle Liebesbeziehungen eingehen. Ab dem 21. Lebensjahr geht es dann entsprechend der zunehmenden sexuellen Freizügigkeit weiter: es folgen die Odalisken, die Fakiressen, die Bacchantinnen, die Bayaderen (jeweils auch die männlichen Teilnehmer), die je auf unterschiedliche Art spezielle Vorlieben haben und zudem verschiedene sexuelle Dienstleistungen ausüben. Fourier unterscheidet außerdem noch weitere (sexuelle) Liebesformen: Hétérogamie, Monogamie, Hémigamie, Androgamie, Phanérogamie, Ultragamie usw. Durch diese Unterscheidungen und Gruppenbildungen will Fourier das Streben nach Klarheit und Transparenz des Verlangens und seiner Befriedigung ermöglichen. Fourier möchte die Idee der freien Liebe jedoch keineswegs normieren oder gar ideologisieren. Er schreibt: "Vor allem auf dem Gebiet der Liebe muß man einen dogmatischen Ton vermeiden".
Fourier geht nahezu alle zivilisatorischen Tabus an und plädiert für eine Vielzahl sexueller Lebensstile. Einige Aspekte sollen hierzu im folgenden dargestellt werden:
Freie Liebe und Zweierliebe schließen sich nicht aus
Fourier setzt sich für eine Partnerschaftskultur ein, in der die Liebesbeziehungen frei und flexibel gelebt werden können. So will er die "unsoziale oder auschließliche Liebe" überwinden. Dabei thematisiert er die zentralen Knackpunkte solcher Liebesformen: Unbeständigkeit, Dauer, Treue, Vertrauen, Eifersucht. Fourier macht deutlich, daß sich freie Liebe (Abwechslung, Unbeständigkeit) und Zweierliebe (Dauer, Kontinuität) nicht ausschließen müssen:
Im Feld der freien Liebe kann und wird jedeR Liebende "sich einen oder mehrer 'Drehpunkte' (pirots) in der Liebe schaffen. Mit diesem Begriff bezeichne ich eine Neigung, die sich durch alle Stürme der Unbeständigkeit erhält". Wenn sich z.B. ein Liebhaber, "der von einer Frau zur anderen eilt und im Wechsel bald mehrere Frauen gleichzeitig, bald nur eine einzige liebt, bewahrt sich darüber hinaus eine lebhafte Leidenschaft für eine 'Pivolate', eine Drehpunktliebe, zu der er immer wieder zurückkehrt. Diese Geliebte übt einen dauerhaften Reiz auf ihn aus, er liebt sie auch während der heftigsten Leidenschaft für eine andere (...) Bei dieser Liebe handelt es sich also um eine zusammengesetzte Beständigkeit, die sich mit den Unbeständigkeiten, den Treuebrüchen verträgt und darum den Titel einer 'transzendenten Treue' verdient (...) Die 'Drehpunktliebe' ist wahrlich eine transzendente Treue und umso erhabener, als sie die Eifersucht überwindet, welche die gewöhnliche Liebe verunstaltet. Männer und Frauen sind nicht eifersüchtig ob der Unbeständigkeit ihrer 'Pivolaten', denen sie vertrauen (...)"
Die transzendente Treue ist also nicht durch die Ausschließung, sondern durch die Einbeziehung anderer charakterisiert. Zudem betont Fourier immer wieder, daß die Eifersucht nicht zur Liebe gehört. Denn im Zustand der Eifersucht wird man fordernd, unsozial und zerstört somit letztlich die Liebe. In seiner Lieblingsstadt Paris erkennt Fourier bereits schon soziale Fortschritte, die die Eifersucht verändern:
"Schon findet man in unseren Sitten Beispiele für gemeinschaftliche Liebe, die eine deutlich philantropische Färbung haben, Liebende, die um bestimmter gemeinsamer Vorteile willen, die sie andernorts nicht finden können, sich zu einer geheimen Gesellschaft zusammenschließen. Sie ahnen, daß die Eifersucht alle ihre Freuden beeinträchtigen würde und verständigen sich als gute Freunde und Brüder".
Wenn wir dieser Spur weiterfolgen und für die freie Liebe neue Verhältnisse schaffen, dann ist sich Fourier sicher: "In den Liebesversammlungen der Harmonie, wo kein Mißtrauen, kein Interessenstreit, sondern im Gegenteil innige Freundschaft herrscht, wird man großes Vergnügen daran finden, jede Eifersucht abzulegen".
Auch wenn Fourier die Bedeutung der freien Liebe für den sozialen Frieden besonders hervorhebt, will er sie nicht zur Norm setzen. So will er auch nicht völlig die monogame Ehe abschaffen: "Jedes Paar steht es frei, den Ehebund einzugehn". Fourier unterscheidet demnach verschiedene Liebesformen, welche die Dauer und Ausschließlichkeit unterschiedlich betonen.
Liebesvielfalt
Neben der heterosexuellen Liebe würdigt Fourier auch die gleichgeschlechtliche Liebe in all ihren Variationen. Somit kommt auch die Bisexualität, das zweigeschlechtliche sexuelle Begehren, zu ihrem Recht. Zudem beschreibt Fourier auch sexuelle Liebesformen, für die es auch heute noch gar keine eindeutige Begriffe gibt. Er selbst bekennt sich öffentlich zu seinen homophilen (schwulen) Neigungen und bekundet gleichzeitig, daß er sich von Lesben ("Sapphisten") auf besondere Weise angezogen fühlt. Insgesamt will Fourier die erstarrten monosexuellen Verhaltensformen - ausschließliche Homo- oder Heterosexualität - überwinden. Wenn die Liebe befreit wird, dann bewirken die leidenschaftlichen Anziehungskräfte zwischen den Menschen eine Vielfalt und Verschiedenheit von Beziehungen, die Eindeutigkeiten ausschließen.
Sexuelle Minderheiten
Fourier setzt sich vehement und unglaublich kenntnisreich für das Recht der sexuellen Vielfalt und Selbstbestimmungsmöglichkeit ein. Dabei berücksichtigt er auch sexuelle Minderheiten und plädiert für Toleranz, Verständnis und Verständigung. So akzeptiert er auch die sado-masochistische Liebe, Voyeurismus, Exibitionismus u.a. als ehrbare Leidenschaften, die nicht von vornherein kritisiert werden sollten. An dieser Stelle muß ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß Fourier sich eindeutig und unmißverständlich gegen alle Formen des Mißbrauch, die das soziale Miteinander brutalisieren und pervertieren könnten, entschieden ausspricht.
In Bezug auf die neue Liebeswelt macht Fourier immer wieder deutlich, daß der Weg dorthin langsam beschritten werden muß. Er plädiert für eine stufenweise Entwicklung, für Übergangsphasen, wendet sich also entschieden gegen ein Hau-Ruck-Verfahren, da sonst die Freiheiten in der Liebe auf Kosten der Schwächeren ausgelebt werden würden. Fourier betont, daß die Veränderung der bestehenden Liebesordnung nur von einer Generation vollbracht werden kann, die "..gewissen Gesetzen der Ehre und Rücksichtnahme treu ist... Die Sitten der Zivilisation in der Liebe sind eine Kloake des Lasters und der Falschheit: eine Generation, die durch solche Gewohnheiten geprägt ist, könnte eine Ausweitung der Freiheiten in der Liebe nur mißbrauchen." Auch wenn in der Harmonie alles frei und erlaubt sein soll, so schränkt Fourier diese Freiheit mit einem klaren Vorbehalt ein, der Kantschen Moral verwandt: "alle Neigungen", vorausgesetzt, sie "beeinträchtigen oder kränken keinen anderen, sind wertvoll und in der genossenschaftlichen Ordnung nützlich". Hier wird deutlich: Fourier setzt sich für das sexuelle Selbstbestimmungsrecht ein. Sexuelle Freiheit in diesem Sinne findet erst an den gleichen Rechten anderer Menschen ihre Grenzen.
Sexuelles Minimum
Neben der für ältere Menschen zwanghaft verordnete Prüderie denkt Fourier auch an behinderte und mißgestaltete Menschen, die für die Liebe und Sexualität weniger attraktiv wirken könnten. Falls diese Menschen keine PartnerInnen finden sollten, so gibt es für diese spezielle Liebesdienste, wo sie in ihren Leidenschaften anerkannt und gewürdigt werden. Fourier thematisiert dies im Zusammenhang mit dem Begriff der "Barmherzigkeit in der Liebe".
Doch auch generell will Fourier das Recht auf eine sexuelles Minimum garantiert sehen. In der Harmonie, schreibt er, muß jedem geschlechtsreifen Menschen ein zufriedenstellendes Minimum an sexuellen Vergnügungen garantiert sein. Da die Erfüllung sexueller Bedürfnisse so grundsätzlich wichtig für den sozialen Frieden ist, muß der sexuelle Notstand und die Zwanghaftigkeit in der Liebe durch das Recht auf eine Minimum an sexueller Befriedigung überwunden werden. Sonst würde weiterhin wie in der Zivilisation die Liebe durch Korruption, Mißbrauch und Falschheit beschmutzt werden. Um dies zu erreichen, sollen in Zukunft hierfür spezielle Liebesdienste für die Allgemeinheit eingerichtet werden. In der Harmonie würden dieses Amt und diese Tätigkeit hoch geachtet sein und nur von ehrbaren und speziell ausgebildeten LiebesdienerInnen vollbracht werden können.
Liebe und Religion
Liebe und Religion sind für Fourier untrennbar miteinander verflochten. Fourier kennt keinen Gott der Enthaltsamkeit, der Verdrängungen, er kennt auch keine Sünde, nein, für ihn ist das Göttliche und Heilige unauflöslich mit dem Erotischen verbunden. Demnach sollten religiöse Kulte "die Liebe zu Gott mit der Liebe zu den Vergnügungen verbinden". Fourier bezieht sich hierbei häufig auf alte Kulturen, die sich der positiven Vielfalt natürlicher Potenzen gewahr wurden und dabei "die Leidenschaften und die Anziehung vergöttlichen, die von den neuen Kulturen verboten und entehrt werden". Gerade in bezug auf Kulturen vom Alten Orient, der griechischen Mythologie, aber auch in bezug auf Naturvölker, die Fourier untersuchte, erkennt er, daß Sexualität fester Bestandteil religiöser Vorstellungen war. Die ungezwungene Art und die Selbstverständlichkeit, mit der man sie in Mythen als zentralen Wesenszug von Göttinnen und Götter aufnahm als ob die sexuelle Lust das "Natürlichste von der Welt" wäre, faszinierte Fourier. Er ist sich sicher, daß es eine Zeit gab, in der die Menschen "den Geschlechtsakt auf dem Altar vollzogen, zum großen Ruhme Gottes". Dementsprechend greift er die christliche Religion scharf an: "Das Christentum hat gesündigt, indem es einen anderen Weg nahm als die Mythologie". Und weiter: "Indem man uns Gott als schrecklichen Herrn geschildert hat, von Dämonen, Feuerglut und Schlangen umgeben, hat man uns Gedanken eingeblasen, die so falsch sind, daß das Jahrhundert sich in die Gottlosigkeit gestürzt hat". "Die Ursache für diesen Aufstand ist das abstoßende System, das der Wollust feindliche Dogma der römischen Glaubenslehre".
Ganz anders sieht Fourier hier die Zukunft einer neuen Liebeswelt: "In der Harmonie (...) muß der religiöse Kult die Liebe zu Gott mit der Liebe zur Lust verbinden, die keine Gefahren mehr bergen wird".
Die Orgie
Die Orgie ist für Fourier das i-Tüpfelchen seiner grandiosen Vision einer neuen Liebeswelt: ein feierliches Ritual, ein großes Liebesfest, an dem alle teilnehmen können, um im gemeinsamen Rausch ihr Gemeinschaftsglück zu zelebrieren, sozusagen ein Triumph des Zusammenspiels aller Leidenschaften.
Die Orgie ist für ihn in diesem Sinne eine emanzipatiorische, friedenstiftende Handlung, weil sie die Sympathien zwischen den Menschen verstärken kann und eine ungeheure Verbundenheit schafft:
"Die Natur treibt uns zur Liebesorgie. (...) Man muß also einräumen, daß die Orgie ein natürliches Bedürfnis des Menschen ist und daß lediglich die Ausübung dieses Vergnügens geregelt werden muß (...) Folglich bedeutet die Orgie den edlen Aufflug der freien Liebe (...) Sie verstärkt die Sympathien jedes Einzelnen durch eine gemeinsame, kollektive Leidenschaft, die für alle Beteiligten eine neue Beziehung bedeutet".
Die Orgie hat für Fourier eine sozial-integrative Wirkung und ist eine Institution des sexuellen Humanismus in reinster Ausprägung. Entsprechend wird die Orgie sorgfältig durch ein "Ministerium" organisiert. Da der Mensch durch die Orgie in seinen Leidenschaften umfassend befriedigt wird und sich somit generell das soziale Glück verstärken kann, werden sich "die Symphatien häufen und gegenseitig steigern".
Der Fourier-Kenner Nicolaus Sombart, der in seinen "Pariser Lehrjahren" in die hohe Kunst der Orgie eingeführt wurde, beschreibt in bezug auf Fourier den "Mehrwert" einer Orgie gegenüber der normalen Zweiersexualität folgendermaßen: "Exhibitionismus. Die Lust, sich nicht nur einem Partner, sondern einem Publikum zu zeigen. Sich, seinen Körper, seine 'Schönheit' bewundern zu lassen und zu fühlen, daß die anderen dadurch erregt werden (...); Voyeurismus. Die Lust am Sehen und Zusehen. Plaisir des yeux. Es geht dabei immer um das Sehen der 'Urszene', was mit dem Schauder einer Tabuverletzung verbunden ist; Die Lust am Wechsel. Jene Passion, die Fourier die papillone nennt; das Flattern von einer Situation zu einer anderen, das Naschen; das Kontraste und Ähnlichkeiten Ausprobieren und Auskosten; Die Lust am Experimentieren (...) Sich selbst und andere in neuen Situationen und Konstellationen zu erproben und zu beobachten; Die Möglichkeit, die eigene homosexuelle Komponente ins Spiel zu bringen. Das Geheimnis der Partouze ist die Bisexualität, auf einer noch tieferen Ebene: die polymorph-perverse Grundposition; Die Entlastung von den Zwängen der Konfrontation mit einer Rolle, einem Partner; Die beliebige, uneingeschränkte Dauer. In der Polyphonie asynchronischer Abläufe, an denen der einzelne Teilnehmer, je nachdem, passiv, aktiv, halbpassiv, halbaktiv, in allen Nuancen, die ihm geboten werden und zu Gebote stehen, partizipiert (...)
Im Curriculum der Menschwerdung ist es für beide Geschlechter eine unerläßliche Erfahrung, ein initiatorischer rite de passage". Sombart ist sich sicher: "Wer stirbt, ohne an einer Orgie teilgenommen zu haben, kennt das Leben nicht".
Fourier betont immer wieder, daß die "edle Orgie" nichts mit den sozial bedenklichen Ausschweifungen in der durch Puritanismus geprägten Zivilisation zu tun habe. Die sexuell verklemmten und frustrierten Menschen der Zivilisation müssten dafür erst ausgebildet werden. Wohlgemerkt: Die Orgie wie überhaupt die Idee der freien Liebe kann sich nach Fourier in ihrem humanistischen Potential nur unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen entfalten. Erst wenn sich die gesellschaftlichen Organisationsprinzipien verändern und die Menschen ein anderes sittliches Niveau erreichen, kann die neue Liebeswelt entstehen:
"Zur Einführung guter Sitten bedarf es einer Gesellschaftsordnung, die es versteht, dem Feuer der Leidenschaften gerecht zu werden und ihrem indirekten und schädlichen Aufflug vorzubeugen, nämlich der nach rückwärts gerichteten, verdrängenden Bewegung, einem Grundübel der Zivilisation in allen ihren Phasen"
Das Leben der Bohème
Der Begriff "Bohèmien" steht im Französischen für den Böhmen und den Zigeuner; die Bohème meint allgemein die ungebundene und freizügige Künstlerwelt. Entsprechend gibt es um 1900 in Österreich und Bayern den umgangssprachlichen Ausdruck "Schlawiner" (urspr. Slowaken, Slowenien).
Die Bohème ist als ein lockerer Zusammenschluß unterschiedlicher Gruppen und hauptsächlich jüngerer Künstler und Intellektueller zu verstehen, welche weder familiär noch beruflich in die bürgerliche Gesellschaft integriert sind und die sich als "alternative Kultur" gegen die entstehende bürgerliche Industriegesellschaft bildeten. Solche Gruppierungen entstehen in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem in München und Berlin. Bei genauerer Betrachtung der Bohème entsteht ein Bild buntscheckiger Gruppierungen und Personen. Unter dem Begriff Bohème treffen sich Feministinnen, Pazifisten, Internationalisten, AnarchistInnen, Syndikalisten, Nihilisten, avantgardistische Literarten, expressionistische Maler und Tänzer, politisierende Philosophen und von "freier Liebe" begeisterte FreidenkerInnen und Psychoanalytiker.
In ihrer provokativen, alternativen Lebensweise gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft nimmt die Bohème deutlich Züge späterer Alternativkulturen vorweg. Die Bohèmiens lebten oft verhältnismäßig in großer Armut und sie hielten sich vor allem mit Gelegenheitsarbeiten, Erträgen aus literarisch-künstlerischer Tätigkeit und Unterstützung durch wohlhabendere Freunde "über Wasser". Bohème-Treffpunkte waren vor allem verschiedene Wohngemeinschaften, Cafehäuser und Wirtschaften oft mit Kleinkunstbühnen, aber auch einfach spontan inszenierte Feste und Freundschaftstreffen.
Vor allem die "Kunststadt" München fand um die Jahrhundertwende im alten Dorf Schwabing den Ort für ihre Bohème. Entsprechend wurde Schwabing als Stadtteil Münchens mit verschiedenen Bezeichnungen stilisiert: Zum Beispiel Schwabing als das "bayerische Montmatre" (Schwabing begann eigentlich in Paris, z.B. mit dem Verlag Albert Langen 1899 und der Zeitschrift Simplicissimus). Weiter war die Rede von Schwabing als "Wahnmoching" (Reventlow), als "Welt-Vorort" (L. Klages), als Schwabylon (im Anklang an die Hure Babylon, Roda-Roda) und als Traumstadt (Althaus). Hier gab es dann auch die berühmt-berüchtigten Cafés und Kneipen der Bohèmiens .
Die Bohème zentrierte ihr Interesse auf auch heute noch aktuelle Themen: die Problematik der nicht-autoritären, repressionsfreien Erziehung, der Befreiung aus patriarchalen hierarchischen Strukturen im Rahmen von Familie, Ehe, Beruf usw., die Emanzipation der Frau im speziellen, die freie Entscheidung des Individuums über sein Leben auch bezüglich der Fragen des Drogengebrauchs, der Liebe und Sexualität, letztlich also Fragen um die Freiheit des Individuums gegenüber gesellschaftlichen Normen und Zwängen. Diese Themenkomplexe verkörperten in Beispielhafter Art verschiedene Persönlichkeiten und Symbolgestalten der Bohèmiens, die ich jetzt im folgenden vorstellen werde:
Otto Groß
Einer, der das Denken und die Grundeinstellungen der Lebensführung der Bohèmiens entscheidend mitgeprägt hat, war Otto Groß. Otto Groß (1877-1920), Arzt und Psychoanalytiker- einer der ersten Schüler Sigmund Freuds- der ca. 1906 mit 29 Jahren zur Münchner Bohème zustieß.
Groß entwickelte sich als Alternativ-Psychoanalytiker zum Vorbild zahlreicher Bohèmiens und faszinierte durch seine bestechend-geniale Vorstellungen einer alternativen Lebensform. Groß sah in der befreiten Sexualität den einzigen echten Ursprung von menschlichen Werten, in den orthodoxen Formen des Geschlechtsleben aufgrund einer falschen Liebes- und Ehemoral hingegen Tyrannei. Dementsprechend versuchte er als Psychoanalytiker seine KlientInnen auch nicht an die Gesellschaft anzupassen, sondern sie z.B. zur sexuellen Immoralität ("Sexualimmoralisten") zu verhelfen. Freie Sexualität ohne Zwang und Verstellung verbunden mit einem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel war seine grandiose Vision des befreiten und entwickelten Menschen in einer befreiten Gesellschaft. Somit war Otto Groß derjenige, der 20 Jahre vor Wilhelm Reich und 40 Jahre vor Herbert Marcuse, die theoretischen Grundlagen der "sexuellen Revolution" aus seiner psychoanalytischen Tätigkeit heraus, in Verbindung mit einer anarchistischen Gesellschaftskritik, entwickelt hat. Seine Vorstellungen beschwören dabei die Freisetzung des erotischen Potentials des Menschen als Bedingung jeder sozialen und politischen Emanzipation. Diese Freisetzung bedeutet für ihn ein radikaler Wandel der herrschenden und sexuellen Rollenmuster zwischen Mann und Frau, die radikale Veränderung der patriarchalischen, monogamen, heterosexuellen Familienstruktur, was zugleich auch eine (sexuelle) Befreiung der Frau bedeutet. In diesem Zuge dachte Groß konsequent weiter und betonte die Bedeutung der Bisexualität für die humane Gestaltung neuer Formen der Gemeinschaft, für die herrschaftsfreie Kommunikation innerhalb der homo- und heterosexuellen Geschlechterbeziehung überhaupt.
Neben Otto Groß waren vor allem noch Erich Mühsam und Franziska Gräfin zu Reventlow prominenteste Symbolgestalten der Bohème.
Erich Mühsam
Erich Mühsam (1878-1934) Dichter, Anarchist, Humanist und Revolutionär, tritt in einer Reihe von Texten, darunter vor allem in dem Theaterstück "Die Freivermählten" für die "freie Liebe" ein. Auch er kritisierte radikal die Institution Ehe:
"Ich sah (und sehe) in der Ehe als einer gesellschaftlich geschützten Einrichtung die Wurzel persönlichkeitsunterbindenden Zwanges, in der Einschätzung des monogamischen Lebens als Treue die Verfälschung sittlicher Grundbegriffe, in der Anerkennung der geschlechtlichen Eifersucht als berechtigte und zu Ansprüchen berechtigende Empfindung die Förderung schlimmster autoritärer Triebe und in der Gleichsetzung von Liebe und gegenseitiger Überwachung eine die Natur vergewaltigende, tief freiheitswidrige und reaktionären Interessen dienende Sklavenmoral...".
Und im Rückblick auf die "freie Liebe" im Leben der Bohème schrieb er: "Die Formen des Liebeslebens, wie sie die künstlerische Bohème sorglos und um Theoreme unbekümmert im Genießen umsetzt, waren für mich... Schulbeispiel für die Möglichkeit freiheitlicher Weltgestaltung".
Mühsam war Anarchist. Der Anarchismus ist eine praktisch-politische Utopie, die unter-schiedliche theoretische Positionen vereint. Wesentliche Merkmale des Anarchismus sind: die Freiheit des Individuums von jeglicher Herrschaft; dementsprechend übt der Anarchismus Kritik am Staat, an der bürgerlichen Demokratie und am autoritärem, dogmatischen Staatssozialismus. Von daher setzt sich der Anarchismus für Selbstverwaltung, Föderalismus und Internationalismus als Grundlage einer neuen freiheitlichen Gesellschaftsordnung ein. Aus diesem Kontext heraus übt sich Mühsam in seinem Drama "Die Freihvermählten" (1909) in einer radikalen Moralkritik der bestehenden Liebes- und Ehemoral. Ich gehe nun kurz auf Mühsams "die Freivermählten" ein:
In der Einführung zu diesem Drama, das im Herbst 1909 entstand, formuliert Mühsam sein Vorhaben:
"Das vorliegende Werk ist ein Tendenzstück. Es ist mit der Absicht geschrieben worden, durch Rede und Beispiel Stimmung zu machen für ganz bestimmte gesellschaftsrevolutionäre Ansichten".
"Gesellschaftsrevolutionär" nennt Mühsam seine Ansichten über die "freie liebe", die er dem Zuschauer in "Rede" und "Beispiel" vermitteln will. Dabei geht er so vor, daß er der "traditionellen bürgerlichen Moral" eine "neue Moral" gegenüberstellt.
In seiner radikalen Kritik der bestehenden Liebes- und Ehemoral betont er vor allem die Mißachtung und Entwürdigung der Frauen durch ihre Ehemänner. So sieht er die Ehefrauen in einer "lebenslänglichen Ehe" verkümmern: "Warum verkümmern denn die Ehefrauen in den bürgerlichen Familien zu so trostloser Reizarmut? - Weil sie in dem Glauben erzogen werden, sie müßten ihre Gaben für den einzigen Mann konservieren, der ihnen zur Führung einer lebenslänglichen Ehe zugebracht wird. Allein die Vorstellung macht mich schaudern, daß es Frauen gibt, die im ganzen Leben nur ihren glatzköpfigen, schmerbäuchigen, kloßhändigen, schweißrüchigen Ehegatten geküßt haben."
Aber nicht nur in der Ehe, sondern auch in der ausschließlich monogamen Beziehung an sich könne die Frau ihre Freiheit und individuelle Besonderheit nicht entwickeln: "Hindert aber ein Mann seine Frau - sei es auch nur durch ein Merkenlassen von Eifersucht all ihre Wünsche nach Liebe zu stillen, so zerstört er in ihr die Besonderheit, auf der ihre Schönheit beruht."
Die Erziehung der Frau zur Monogamie und Ehe würde ihre persönliche und gesellschaftlich Entrechtung, ihre Degradierung zum Besitzobjekt des Mannes stabilisieren. Das "Recht zu uneingeschränkter Selbstbestimmung" und "freier Verfügung über ihre Person" werde ihr vom Manne nicht zugestanden:
"Ihr erzieht sie zur Monogamie, weil ihr eurer Frau auch noch dann sicher sein wollt, wenn ihr euch vor ihr gehen laßt. Ihr seid eifersüchtig aus Bequemlichkeit. Eifersucht, die infamste Form des Besitzneides, ist die erbärmlichste Ausflucht eurer Feigheit, denn euch bangt vor der fähigeren Konkurrenz solcher Männer, die einer Frau das Recht zu uneingeschränkter Selbstbestimmung zuerkennen"
Mühsams Moralkritik in "Die Freivermälten" soll also "gesellschaftsrevolutionär" wirken. Mühsam war der Auffassung, daß eine Revolution der Gesellschaft bei der Veränderung ihrer Moral beginnt, in deren Kern die Beziehung der Geschlechter steht. Erst die "bedingungslose Selbstbestimmung" in den Geschlechtsbeziehungen" ermögliche "gesellschaftliche Freiheit"!
An dieser Stelle muß Mühsam jedoch auch kritisiert werden. Denn die Erkenntnis der Frühsozialisten wie z.B. Charles Fourier, daß sich die Freiheit in der Liebe nur auf der Grundlage der wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und sozialen Unabhängigkeit beider Geschlechter verwirklichen läßt, ist bei Mühsam stark unterbelichtet. Somit fällt Mühsam hier hinter Fourier zurück. Vor allem in seiner frühen Schaffenszeit vertrat Mühsam eine eher typisch patriarchalische Position.
Doch Dank sei Franziska zu Reventlow! Reventlow hat diesen patriarchalischen Ansichten Mühsams in gewisser Hinsicht keck entgegengewirkt und sein weiteres Denken tief beeindruckt.
Franziska Reventlow
Gräfin Franziska zu Reventlow (1871-1918) hatte als Malerin, Sängerin, Schauspielerin Schriftstellerin und Kunstgewerblerin zwar nicht den durchschlagenden Erfolg, jedoch um so mehr Glück bei den Männern. Bei ihren Liebhabern galt sie als "heidnische Madonna", als Hure und Grande Dame, Geliebte, Hetäre und Mutter zugleich, die in der erotischen Rebellion ihren Sinn fand. So wurde sie auch entsprechend umfangreich charakterisiert:
Madonna mit dem Kind, heidnische Heilige, die Schleswig-Holsteinische Venus, die große Amouröse, Dirne, Sirene, Vollweib, femme fatale, die tolle Gräfin, Skandalgräfin, Humoristin, die Dame von Welt, Königin der Bohème, Virtuosin des Lebens und der Geselligkeit, die Schwabinger Chronistin, die Inkarnation der erotischen Rebellion. Vor allem die Art und Weise, wie sie - gerade als Frau - ihren recht abenteuerlichen und individuellen Lebensstil kultivierte, ist auch heute noch faszinierend. Sie war darin äußerst radikal und überzeugend souverän. Reventlow theoretisierte nicht so sehr über die "freie Liebe", sondern lebte sie. Als Frau war sie für die Bohèmiens das Idealbild einer "freien Frau". Sie verkörperte für viele widersprüchliche Eigenschaften wie Selbstbewußtsein und sexuelle Unbefangenheit, mütterliche Fürsorglichkeit und Selbständigkeit harmonisch in sich vereint. Erich Mühsam bezeichnete sie als den "innerlich freiesten und natürlichsten Menschen, dem ich begegnet bin". Und an anderer Stelle bewundert er ihre "zur Genialität gesteigerte Fähigkeit..., Glück zu genießen".
Im folgenden will ich das Leben und Denken von Franziska zu Reventlow etwas ausführlicher darstellen, da sie eine der bedeutesten, schillernsten und komplexesten Frauengestalten um die Jahrhundertwende war und deshalb auch große Beachtung finden soll.
Schon als Kind und Jugendliche war Fanny gegenüber den Gepflogenheiten und Sitten der bürgerlichen und vor allem aristokratischen Gesellschaft recht aufmüpfig und ungehorsam. So hatte sie auch eine schwere Kindheit. Sie wurde äußerst lieblos erzogen. Besonders von ihrer Mutter wurde sie verachtet und erbarmungslos gemaßregelt. Als aufgewecktes Mädchen widersetzte sich Fanny den strengen Maßregeln und wird deshalb mit 15 Jahren in ein Erziehungsheim für höhere Töchter gesteckt. Doch auch hier konnte sie nicht gefügig gemacht werden, so daß sie als schwer erziehbare und widerspenstige Jugendliche wieder in ein jetzt noch strengeres Elternhaus wieder zurück mußte. Um zu überleben, suchte sie zunächst den Weg nach Innen, in die Innerlichkeit. Fanny führt Tagebuch, denkt viel nach, bleibt somit wach und sich selbst treu. Gerade das Tagebuchschreiben dient ihr auch später noch immer wieder als Hilfe, um in kritischen Lebensereignissen wie Krankheit, Armut, Einsamkeit, Selbstzweifel... standzuhalten. Es ist erstaunlich, wie genau diese Frau ihr Leben in Tagebüchern und Briefen beobachtet hat, wie sehr sie ihre Selbstkritik, Selbstironie und Lebenslust trotz mancher Krisenzeiten doch zur souveränen Gestaltung ihres Lebens einsetzen konnte. Die Aufrichtigkeit und Wahrheit ihrer Darstellung faszinieren auch heute noch und sie ist in ihrer Einzigartigkeit unvergleichlich geblieben.
Für ihre Jugendzeit und in bezug auf das Thema "freie Liebe" erscheint mir noch folgendes erwähnenswert: Reventlow schreibt, daß sie schon als 14 Jährige "an der Idee vom 'vollen Glück', die Ehewilige bestimmt, zu zweifeln begonnen habe". Sie behauptet, sich "deutlich" an ihre ersten drei Tänzer zu erinnern:
"Zwei waren brünett und einer blond. Die beiden Brünetten gefielen mir noch besser, aber ich liebte auch den Blonden. Und ich weiß noch so gut, wie ich damals dachte, daß man doch immer nur einen Mann heiraten könnte; wenn man nun aber drei liebt - was dann?"
Interessant ist auch, daß sie als Jugendliche von den Werken des Philosophen Friedrich Nietzsche und des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen (1828-1906) tief beeindruckt war. Gerade Ibsen ist mit seinen Dramen ein Meister in der Aufdeckung der bürgerlichen Lebenslügen, der ehelichen Doppelmoral und der Frauenrechte. Und auch von Nietzsches Philosophie war Reventlow begeistert, der bei ihr wie ein Erdbeben gewirkt habe. So wurde z.B. Nietzsches Immoralismus im Namen des Lebens bei Reventlow ein Immoralismus im Namen der "freien Liebe", was sie als tiefste Lebensbejahung begriff.
Franziska zu Reventlow und die bürgerliche Frauenbewegung
Reventlow stand der Frauenbewegung eher reserviert und skeptisch gegenüber. Sie war darin nicht politisch organisiert und somit auf politischer Ebene eher unbeteiligt. Bestimmte Forderungen der Frauenbewegung waren für Reventlow jedoch selbstverständlich, wie z.B. aus einem Brief deutlich wird:
"die Frau müßte als dem Manne gleichberechtigt existieren und dieselbe Bildung haben können... Und vor allem die gesellschaftliche Freiheit - diese Beschränkung ist unerträglich und überhaupt unter aller Menschenwürde. Meiner Meinung nach würde durch eine gemeinsame Schulbildung und völlig zwanglosen Verkehr viel gesündere Verhältnisse entstehen; die jetzigen in der Gesellschaft sind doch durch und durch krank".
Die eigentliche Pointe ihrer Kulturkritik bildet jedoch die kühne These, die Emanzipationsbestrebungen der bürgerlichen Frauenbewegung würde zwar zu einer äußerlichen Gleichstellung von Mann und Frau führen, aber nur auf Kosten der Entwicklung einer erotischen Kultur der Geschlechter. Von daher greift sie die bürgerliche Frauenbewegung radikal an: Solange die bürgerliche Frauenbewegung an der christlichen Moral festhalte und die Forderung, eine spezifisch weibliche erotische Kultur zu entwickeln, nicht berücksichtigt, sei sie "die ausgesprochene Feindin aller erotischen Kultur, weil sie die Weiber vermännlichen" wolle und "die Männer zur Askese" erziehe.
Ihre Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Frauenbewegung wird vor allem in ihrem theoretischen Aufsatz "Was Frauen ziemt" deutlich. Dieser Aufsatz wurde von ihrem Verleger Oskar Panizza dann in "Viragines oder Hetären" umformuliert. Viragines steht im Französischen einfach für "Mannweiber". Reventlow benutzte ihn als Kampfbegriff, um bestimmte Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung zu diffamieren. Der Begriff "Hetäre" kommt aus dem griechischen und bedeutet "Gefährtin". Im Gegensatz zu gewöhnlichen Dirnen waren die antiken Hetären künstlerisch gebildete Halbweltdamen, die relativ sozial anerkannt waren.
Manche ihrer Aussagen in diesem Aufsatz hören sich mitunter verdächtig biologistisch an, wobei sie auch hier im ganzen gesehen mit bissiger Polemik und nicht ohne Selbstironie auftritt:
"Die extremsten Bewegungsdamen haben die Behauptung aufgestellt: Das Weib kann Alles, was der Mann kann, es ist nur durch jahrhundertelange Unterdrückung und Gewohnheit um die Möglichkeit zu physischen und geistigen Kraftleistungen gebracht worden. Man stelle doch nur einmal einen wirklichen normalen Mann und ein wirkliches normales Weib, wie sie Gott erschaffen hat, nebeneinander und frage sich: können zwei Wesen, die so verschieden geartet, gebaut, in jeder Beziehung so verschieden konstruiert sind und so verschieden funktionieren - können diese zwei Wesen jemals gleichberechtigt, d.h. mit dem gleichen Erfolg zur gleichen Bestätigung gebracht werden? Hat es irgend einen Zweck und würde es sich in irgend einer Beziehung lohnen, das zu versuchen, eines von ihnen nach dem anderen zu modifizieren, die Geschlechtsunterschiede, die alle anderen bedingen, zu verwischen, damit Eines dem Andren ähnlicher wird?...".
Modern gesprochen läßt sich sagen, daß Reventlow in Abgrenzung zu den feministischen Gleichheitstheorien eine Differenzansatz vertritt. Das heißt: Sie betont die Differenz zwischen den Geschlechtern. Männer und Frauen seien verschieden in ihren Wesen, in ihren Eigenschaften und Fähigkeiten, ihren Potentialen. Diese Verschiedenheit gelte es, positiv zu formulieren und zu behaupten, entgegen den negativen patriarchalen Bewertungen. Für Reventlow war auf jeden Fall klar: Wirkliche weibliche Kreativität kann sich nur entfalten, wenn neben der ökonomischen Unabhängigkeit der Frau auch ihre sexuelle Emanzipation angestrebt werden würde. Deshalb plädiert Reventlow hauptsächlich für eine erotische Frauenemanzipation.
Obwohl Reventlow die Frauenbewegung in mancher Hinsicht zu dogmatisch war und sie die Frauenbewegung dahingehend scharf kritisierte, gehörte sie jedoch in Grunde genommen dazu. In gewisser und entscheidender Hinsicht war sie "Inbegriff der emanzipierten Frau", feministischer als die meisten Feministinen. So wird auch verständlich, daß sie trotz ihrer Skepsis gegenüber der Frauenbewegung freundschaftlichen Kontakt mit verschiedenen Bewegungsfrauen hatte. So z.B. war sie mit der Frauenrechtlerin und Pazifistin Anita Augsburg (1857-1943), die dem radikalen Flügel der Frauenbewegung führte, gut befreundet. Ebenso mit deren Lebensgefährtin Lydia Gustava Hyman (1868-1943). Augsburg und Hyman lebten als Lesbenpaar zusammen. Obwohl Reventlow vor allem die heterosexuelle Liebe huldigte, fällt es ihr als Freundin von Lesbierinnen nicht ein, die gleichgeschlechtliche Liebe "prinzipiell" zu "verdammen", ja sie betrachte sie "...als Bereicherung der Welt um eine graziöses Laster".
Natürlich hat Reventlow innerhalb der Frauenbewegung auch ausgesprochene Feindinnen, z.B. Marianne Weber, die eher dem gemäßigten Flügel der Frauenbewegung zuzuordnen ist. Für Weber und ihre Anhängerinnen bedeutet Reventlows "neue Sexualethik" nicht anderes als eine "Entweihung der Monogamie - ...umgeben von den Schauern schwerer zerstörender Schuld: 'Totschlag an etwas Göttlichem'!" Marianne Weber wirft Reventlow "Zynismus auf dem Gebiet der Liebe" vor, Weber versucht Reventlows Liebesleben als "panerotischen Sucht" zu verachten und bezeichnet ihre Schriften als "leichtgeschürtzt Novellen".
Reventlow - souverän und selbstbewußt wie sie ist - entgegnet solchen Vorwürfen mit bissiger Polemik: "So geht mir doch mit der Behauptung, die Frau sei monogam! - weil ihr sie dazu bringt, ja! Weil ihr sie Pflicht und Entsagung lehrt, wo ihr sie Freude und Verlangen lehren solltet. Weil ihr kein Schönheitsgefühl im Leibe habt. Was ist denn ästhetischer und im wahren Sinne moralischer: wenn ihr euere blühenden Mädchen zu abgestorbenen Gespenstern macht und euere Söhne in Bordell schickt, oder wenn ihr sie sich miteinander in der Schönheit ihres Lebens freuen laßt."
Konsequent plädiert Reventlow für eine erotische Frauenemanzipation: "Vielleicht entsteht noch einmal eine Frauenbewegung in diesem Sinn, die das Weib als Geschlechtswesen befreit, es fordern lehrt, was es zu fordern berechtigt ist, volle ge-schlechtliche Freiheit, das ist, freie Verfügung über seinen Körper". Die herkömmliche Frauenbewegung, die Reventlow deswegen verachtet, ist "ausgesprochen Feindin aller erotischen Kultur...Es ist aus guter Quelle bekannt, daß hier in München im vorigen Jahre eine Versammlung von Viragines stattfand, wo...die Frage aufgeworfen wurde, ob die Männer überhaupt noch zum Geschlechtsgenuß zugelassen werden sollten. Mit..einer einzigen Stimmmenmajorität wurde die Frage 'für dieses Mal noch bejaht, wenn auch unter manchen Einschränkungen"
Besonders die Viragines, "die bei uns die Männer abschaffen wollen", greift Reventlow scharf an.
Reventlows modernes Hetärentum
Reventlows Geschlechterutopie ist Individualanarchistisch. In diesem Zusammenhang hat die amerikanische und internationalistische Anarchistin Emma Goldmann in ihrem Buch "Frauen in der Revolution" innerhalb des Kapitels "Das Tragische an der Emanzipation der Frau" Reventlow gewürdigt. Man glaubt geradezu Reventlow zu lesen, wenn Emma Goldmann z.B. folgenden schreibt:
"Die Frauenbewegung hat sicherlich viele alte Fesseln gesprengt, gleichzeitig jedoch zum Entstehen neuer beigetragen. Die große, wahre Frauenrechtsbewegung hat nur wenige Anhängerinnen gefunden, die der Freiheit furchtlos ins Gesicht sehen konnten. Ihre bornierte und puritanische Einschätzung der Bewegung verbannte den Mann als Störenfried und zwielichtigen Charakter aus ihrem Gefühlsleben."
Im Gegensatz zu Goldmann, die auch wie Reventlow von den "Schülerinnen der Emanzipation schlicht und einfach zur Heidin" erklärt wurde, "..auf die nur noch der Scheiterhaufen warte", hat sich Reventlow ganz bewußt als "moderne Heidin" bezeichnet. Erst ein "modernes Heidentum" könne zur erotischen Emanzipation führen: "Warum sollte das moderne Heidentum uns nicht auch ein modernes Hetärentum bringen? Ich meine, den Frauen den Mut zur freien Liebe vor aller Welt wiedergeben?
Von daher kritisierte sie als "moralose Nichtchristin" das Christentum, dem sie vorwirft "den Menschen in einen unlöslichen Konflikt zwischen seiner eigenen Natur und die ihm aufgezwungene Moral gestellt" zu haben. Konsequent ist sie aus der Kirche ausgetreten. Seit dieser ihrer "Selbsterlösung" möchte sie auch Jüngere von der "Erbsünde...erlösen, die das christliche 'Nein!' dem Leben gegenüber" darstellt, "zu einem frohen, selbstbewußten: 'Ja!". Sie will den Jüngeren "den Mut zur Sündhaftigkeit lehren, - die wir lieber Lebensfreude nennen".
Diese Sätze stehen in ihrem erst 1980 veröffentlichten Aufsatz "Erziehung und Sittlichkeit".
Im Rückblick auf das antike Hetärentum weiß Reventlow folgendes zu sagen: "Die Hetären des Altertums waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen, denen niemand es übelnahm, wenn sie ihre Liebe und ihren Körper verschenkten, an wen sie wollten und so oft sie wollten und die gleichzeitig am geistigen Leben der Männer mit teilnahmen."
Nun ja, dieses Bild vom antiken Hetärentum ist bei Reventlow wohl etwas zu idealistisch gezeichnet. In Wirklichkeit waren nur wenige Hetären in diesem Sinne relativ unabhängige und selbstbestimmte Frauen, wie z.B. die berühmte Frauengestalt Aspasia. Vor allem Aspasias Persönlickeit, ihre Klugheit und Schönheit, ihr Ansehen und Einfluß bei den führenden Männern Athens scheinen die neuzeitlichen Vorstellungen von der griechischen Hetäre geprägt zu haben, deren intellektuelle Attraktivität nicht hinter der sexuellen zurücksteht.
Darüber hinaus darf jedoch nicht vergessen werden, daß die antiken Hetären, die zudem vor allem auch noch Sklavinnen waren, rechtlich und sozial den Männern nicht gleichgestellt waren, sondern von der Gunst der männlichen Vorherrschaft abhängig waren. Die antiken Hetären versuchten mit weiblichem Geschick - schlagfertig und witzig - im Bewußtsein ihrer sexuellen Macht, sich mit den patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft zu arrangieren, um somit so weit wie möglich unabhängig und selbstbestimmt leben zu können.
Reventlows "modernes Hetärentum" will gewisse Vorzüge der hetärischen Kultur bewahren und sie mit der rechtlichen wie ökonomischen Gleichstellung der Frau, wie sie auch die bürgerliche Frauenbewegung forderte, in Verbindung bringen, so daß eine neue freie erotische Kultur der Geschlechter entstehen kann, was als eine umfassende Emanzipation von Frauen und Männer verstanden werden soll. So wird hier jenseits von feministisch-millitanter Männerfeindlichkeit sowie patriarchaler Frauenangst und Frauenverachtung eine Alternative aufgezeigt, die auch heute noch als Sprengstoff wirken kann.
Franziska zu Reventlow und die erotische Rebellion als gelebte Praxis
Reventlow gilt als die Inkarnation der erotischen Bewegung um die Jahrhundertwende. Sie liebte viele Männer. Die "Freie Liebe" und ihr "modernes Hetärentum" kann bei Reventlow jedoch nicht auf den quantitativen Begriff einer wahllosen Promiskuität reduziert werden. "Freie Liebe" meint bei ihr kein verantwortungsloser Sexualkonsum. Erstaunlich ist, wie Reventlow das Wesen des Erotischen in ihrer Komplexität und Spezifität begriffen hat:
"Jede einzelne Spielart hat ihre besonderen Reize, und das Ensemble aller dieser Reize dürfte man wohl Erotik nennen." Und weiter schreibt sie: "ES ist doch jedesmal etwas anderes, was uns zu den verschiedenen Menschen hinzieht: der fremde Mann ist tiefe Sensation ohne Gemütsbeteiligung - ein anderer geht ans Herz und weckt wahres Gefühl - ein junger Knabe lockt uns zu einem romantischen Frühlingserlebnis - dann gibt es wieder jemand, mit dem man sich nur amüsiert, oder es läuft zufällig und geschwind irgendein heiteres Abenteuer über den Weg...ich kann ihnen beim besten Willen nicht alle die vielen bunten Möglichkeiten an den Fingern herzählen". In bezug auf die Spezifität des Erotischen sagt sie: "Ich liebe nicht alle, sondern jeden". So ist sie auch überzeugt, daß sich die vielen erotischen Möglichkeiten "schwerlich in einem einzelnen Menschen zusammenfin-den. Und im Leben lassen sie sich auch nicht so hübsch der Reihe nach anordnen. Es gerät immer alles durcheinander". Von daher protestiert sie zeitlebens gegen die Reduktion dieser erotischen Komplexität - aus der Überzeugung heraus: "Monogamie und Treue sind sicher eine große Vereinfachung des 'Problems'".
Reventlow kultiviert ein ganz vielfältiges Spektrum von Liebesarten: Mutterliebe, große Leidenschaften und Liebschaften, anonymer Sex mit "fremden Männern", Gruppensex/Orgien, Prostitution.
Prostitution: Das mit der Prostitution war bei ihr in gewisser Hinsicht eher unfreiwillig. Ihr "modernes Hetärentum" sollte die "freie Liebe" vom Makel befreien, Ausdruck von Prostitution im negativen Sinne zu sein. Nur aus materieller Not arbeitet sie gelegentlich als Prostituierte: "...kein Geld und kann nichts tun. Wir können bald nicht mehr Trambahn fahren - ich bin eigentlich ganz ruhig und ganz gleichgültig. Aber ich will ein Ende machen...und wenn es die (Berliner) Friedrichstraße sein sollte: der 'Strich'"
Zu ihrer Arbeit als Prostituierte schreibt sie: "Ganz da hineintauchen, paßt mir nicht, da ist man wieder nicht sein eigener Herr", und: "solche festen Engagements sind nichts für mich" gerade wohl auch deshalb, weil sie ihre Freiheit nicht aufgeben wollte.
Von daher verbündete sie sich auch mit linken Feministinnen, die im Rahmen des "Deutschen Zweigs der Internationalen Abolitionistischen Föderation" gegen das staatlich reglementierte Bordellsystem und die sittenpolizeiliche Diskriminierung der von ihr erfaßten Frauen kämpften.
Gruppensex/Orgien: Dazu gibt es verschiedene Tagebucheintragungen z.B. wie diese, als sie die Bekanntschaft mit "drei Studenten" machte: "Abends Bummelei. Les trois édudiants. Souper und Orgie. Dann ihnen etwas von meinem Leben erzählt, von Theaterplänen, heulte ihnen eine Luisenszene à la Oppenheim vor, und wir lachten uns tot. Dann zwischen Wollust und Tragik und was weiß ich noch. 'Wir wollen zusammenlegen, damit Sie ein Star werden. 150M - damit wird man noch kein Star, aber es war lieb". Die drei Studenten waren von Reventlow so begeistert, daß sie über eine Zeitungsanonce wieder Kontakt zu ihr suchten, die sich ihnen als "Theatermädel Luise" ausgegeben hat. "Luise, wo bist Du? Kleeblatt" Reventlow antwortete, und schrieb in ihr Tagebuch anschließend: "Abends über-glücklich mit den Dreien vereinigt. Unsere Luise, unser Mädel. - Ach Du lieber Gott, wenn die wüßten, daß ich eine Gräfin bin, verheiratet war, etc. Das macht Spaß: Wurm, Ferdinand und Vater Miller. Der arme Dicke wollte durchaus Ferdinand sein. Aber es ging auch als Vater M. ganz gut. Unsere Kabale - nein, unsere Liebe, Liebe à trois. Liebe Kerle trotz alledem. Sind nur so schrecklich neugierig, wo und wie ich lebe. Kollekte, die Luisenkollekte, die diesmal 100 M gab. Wenn sie doch reich wären".
Auf diesen sexuellen Höhenflügen konnte sie das Leben als eine großes Fest genießen: "Gott, mein Gott, eine solche Hochflut von Leben, Freude, Seligkeit nach dieser Nacht" "...nun braust wieder die alte frohe Lebensfreude, mir ist, als ob meine Seele sich nach allen Seiten auflösen möchte, zerschmelzen in lauter Seligkeiten. Oh Leben, göttliches, göttliches".
Anonymer Sex mit "fremden Herren": Reventlow liebte den Sex in seinem Wert an sich und konnte darin nichts Schlechtes erkennen, jedoch unter Bedingung, daß dabei die persönliche Freiheit und Selbsbestimmungsfähigkeit eines jeden respektiert wird. Sie hat dabei für sich in Anspruch genommen, was sie jedem Mann selbstverständlich zugestand: "Begehren des Mannes ist nie eine Beleidigung", schrieb sie in ihr Tagebuch, "selbst dann nicht, wenn rein gelegentlich und ohne seelische Beimischung". Reventlow selbst konnte auf diese Art begehren und sich begehren lassen. Und zum Sex mit Männern an sich schreibt sie:
"Das 'lasterhafte' Weib hat...mehr richtiges, ja sogar mehr Feingefühl auf dem Ge-schlechtsgebiet wie die beste Gattin und das keuscheste Gretchen, denn grade kraft seiner Lasterhaftigkeit, das ist: vielseitigen Kenntnis der Männer, sieht es in ihm weder den Übermenschen, noch den Schurken, sondern einfach 'den Mann'".
Auch wird bei Reventlow das Verlangen nach einer gänzlich unpersönlichen, transpersonalen, totalen Hingabe und Öffnung deutlich: Sie schreibt, daß sie die "geschlechtliche Attacke des Mannes erwartet" - Sie "verlangt sie, gibt sich ihr hin". Reventlow kann darin prinzipiell nichts Entwürdigendes und "Erniedrigendes" sehen, ganz im Gegenteil: "...für jedes wahrhaft erotisch empfindend Weib liegt ... ein unendlich feiner Reiz darin, den stärkeren Gegner im Liebeskampf anzureizen ... und sich ihm dann im selbstvergessenen Rausch zu schenken ... sie wird im entscheidenden Augenblick durchaus nicht das Gefühl einer Niederlage", sonder eine Sieges haben. Denn "...die Bejahung des Lebens ist immer ein Siegesgefühl".
Und an anderer Stelle in ihrem Tagebuch heißt es: "Ich liebe einen und begehre sechs andere, einen nach dem andern. Mich reizt nur gerade der Wechsel und der 'fremde Herr'. - Geh' lachend mit ihm hinaus und fühle mich so strahlend und siegend unter alle den Menschen. Und nicht deswegen, weil es mich reizt, sondern weil irgend etwas sich in mir begibt, Mich hat der liebe Gott aus allen Widersprüchlickeiten geschaffen, die er übrig hatte, da ist sicher. Fühle mich ganz ich selbst, wenn alles durcheinandergeht, Wehmut, Sehnsucht, tiefe Liebe und frivole Oberflächlichkeiten".
Und an anderer Stelle heißt es dann noch: "Liebe bis an die Grenzen des Wahnsinns", "..jauchzend hineintaumeln in eine namenlos Lust, das versengende Feuer löschen in berauschender Raserei, sich selbst vernichten, sterben, vergehen in Wollust", "nur hineinsturzen und alles über sich zusammenschlagen lassen".
Ich erinnere nochmals an die Worte Erich Mühsams, der ihre "zur Genialität gesteigerte Fähigkeit, Glück zu genießen" bewunderte. Bei ihr ist das Glück wahrhaft leibhaftig!!
Reventlows große Leidenschaften und Liebschaften sind voller Dramatik und ich kann hier unmöglich auf die komplexe Beziehungen eingehen. Ihre große Lieben hießen: Emmanuel Fehling, Walter Lübke, Alfred Friess, Ludwig Klages, Karl Wolfskehl, Bogdan von Suchocki, genannt Such. Die Hoch- und Tiefphasen dieser Liebesbeziehungen kreisen meistens um die Problematik zwischen "Freier Liebe" und "Zweierliebe". Viele ihrer Liebhaber können mit ihrer Freizügigkeit nicht umgehen, z.B. Ludwig Klages. Er schreibt Reventlow hierzu folgendes:
"...in ihnen, meine Freundin, ist etwas dem Fluge des Falters verwandt. Es geht im Zickzack auf und nieder. Ihm ist das Leben eine endlose Blütenwiese, die bald hierher, bald dorthin verlockt, mit immer neuen und ferneren Farben und Düften reizt, eine endlose Blütenwiese. Solchem Faltertanz kann ich wohl bewundernd zuschauen; aber ich kann nicht mit. Er berauscht und verwirrt mich, aber eigentlich lassen mich Blumen kalt. Ich kann nicht unter Dolden tanzen, nicht über Flimmerwiesen wirre Bahnen ziehen. Zu traurig und zu fern ist meine Seele, sie fliegt immer nur ins Abendrot".
Reventlow erlebte die Wechselhaftigkeit und Widersprüchlichkeit ihrer Liebesbeziehungen sehr bewußt: "Alles freut mich, amüsiert mich, und dabei quält mich unablässig das Gefühl: Wie ist ihm? Fühlt er`s? oder nicht, und versteht er mich?" In bezug auf ihren Liebhaber Such, der ihr auch hin und wieder ins Gewissen redet, "daß niemals ein Mensch mit mir bleiben wird und kann...Ich weiß es ja, aber warum? Weil alle, die mich einmal haben, mich ganz für sich haben und auffressen wollen. Aber ich bin viel zu expansiv und geh`nach allen Seiten, möchte hier das und da das, aber gerade Such, hab´ich überhaupt an einen Menschen so viel Wärme, so viel Dauerndes, Fortwährendes weggegeben? Und ich kann ihn so absolut nicht lassen, kann freilich auch den vielen Blödsinn pour tout le monde nicht lassen".
Und weiter: "Such sagt, wenn man so ist wie ich, darf man keinen Menschen für sich haben wollen - aber warum nicht, ich habe soviel Liebe zu geben, warum will nur jeder sie für sich allein haben?"
Reventlow erlebt also sehr bewußt das "Dilemma zwischen Gefühlsbindung und Triebfreiheit": "Immer war ich im Zwiespalt, weil ich gern beides vereinigen wollte: mein eigentliches Leben ohne Zügel und einen Menschen, der zu mir gehört." Schon in bezug auf ihren früheren Ehemann Walter Lübke schriebe sie: "Für ihn würde alles zwischen uns aus sein, wenn ich ihm untreu wäre, und für mich würde es dann vielleicht gerade anfangen - wenn er verstände, daß ich auch andern gehören kann." - Er, der "so tief zu mir gehört und so tief in mich hineingesehen" und "mich" so sehr "geliebt" hat, hat es nie verstanden" - woraufhin unter großen Schmerzen, auch für Reventlow, die Trennung unausweichlich war.
Mutterliebe: Die Mutterliebe zu ihrem Sohn Rolf war intensiv, engagiert und zum Teil voller Leidenschaft. Wenn man ihre Tagebücher dahingehend ließt, könnte man meinen, daß sie ihren Sohn manchmal in symbiotischer Eintracht zu sehr liebte. Doch die Erinnerungen und der weitere sehr abenteuerliche Lebenslauf von Rolf Reventlow bestätigen dies nicht.
In ihrer Mutterrolle wurde Reventlow sogar von ihren Feindinnen aus der bürgerlichen Frauenbewegung öffentlich geschätzt. Marianne Weber z.B. bestätigt, daß sie eine "hingebende und aufopfernde Mutter" sei und sie ihr als "Hetäre" erscheine, "die sich durch Mutterschaft über bloßes Dirnentum erhebt".
Franziska zu Reventlow: Die Inkarnation der erotischen Bewegung um die Jahrhundertwende! Als Mutter und Hetäre hat Reventlow eine epochale Bedeutung. In ihrem Leben und Denken berührten sich viel kulturelle Zeitströmungen und Zeitfragen, die auch heute noch ungebrochen aktuell geblieben sind. Was für ein Mensch sie doch war! Rückblickend auf ihr bisheriges Leben schrieb sie einmal: "Ach, ich bin gelaufen, gelaufen, hingefallen, wieder aufgestanden, umgeworfen, wieder-aufgesammelt, bis ich da angekommen bin, wo mein Ziel anfängt".
Franziska zu Reventow verunglückte 1918 mit dem Fahrrad in Ascona und starb bei einer Operation aufgrund ihrer inneren Verletzungen (Darmverschlingung). Erich Mühsam hat 1931 ihr die schönsten Abschiedsworte gewidmet, was zugleich wohl einer der besten Charakterisierungen ihres Wesens ist:
"Ich grüße diese Tote mit inniger Verehrung. Sie trug, außer ihrem Namen, nichts an sich, was vom Moder der Vergangenheit benagt war. In die Zukunft gerichtet war ihr Leben, ihr Blick, ihr Denken; sie war ein Mensch, der wußte, was Freiheit bedeutet, ein Mensch ohne Vorurteile, ohne traditionelle Fesseln. Und sie war ein froher Mensch, dessen Frohsinn aus dem tiefsten Ernst des Charakters kam. Wenn sie lachte, dann lachte der Mund und das ganze Gesicht, daß es eine Freude war, hineinzusehen. Aber die Augen, die großen tiefblauen Augen, standen ernst und unbewegt mitten zwischen den lachenden Zügen. Die Gräfin war eine schöne Frau, ihr Äußeres von strahlendem Reiz, und das Herz erfüllt von der Schönheit des Lebens und von der Sehnsucht nach einer schönen und freien Menschenwelt".
Seit 1984 verläuft in Schwabing die Reventlowstraße gleich hinter dem Ungererbad. Und erst seit 1989 gibt es an der Ecke Clemens-, Siegfried- und Wilhelmstraße einen Erich-Mühsam -Platz.
Zum Abschluß will ich noch kurz auf Ascona und dem Monte Verità eingehen, wo auch Reventlow wirkte.
Ascona/Monte Verità
So gegen 1900 zogen mehrere Menschen von München- Schwabing aus in Richtung Süden, um dort in Ascona (italienischen Schweiz) endlich mit der Idee des "neuen Menschen" und der "neuen Gemeinschaft" fernab von der bürgerlichen Zivilisation ernst zu machen. Denn mehr und mehr Bohèmiens waren enttäuscht von den unwirtlichen Verhältnissen einer Großstadt wie München, wo sich die vielen neuen Ideen kaum konsequent verwirklichen ließen. So entstand in Ascona eine Art Enklave von Schwabing, sozusagen das neue Schwabing von Schwabing, geleitet von der Utopie einer autarken, modellhaften Gemeinschaftssiedlung. So entstand dort in Ascona auf dem Monte Verità - dem Berg der Wahrheit- wie er damals genannt wurde, ein faszinierendes soziales Experiment. Für alle, die damals nach Alternativen zur bürgerlichen Gesellschaft suchten, fanden dort eine Art "Zukunftswerkstatt" für alternative Lebensformen. In ganz Europa war Ascona als Geburtsstädte des "neuen Menschen" berühmt-berüchtigt geworden und das führte dazu, daß sich dort KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, Bohèmiens, anarchistische SiedlungstheoretikerInnen, Frauenrechtlerinnen, Lebensreformer und auch WissenschaftlerInnen, also eine Vielfalt unterschiedlichster Menschen trafen, um dieses Experiment kennenzulernen und mitzuwirken. Die Namen reichen von Max Weber, Hermann Hesse, M. Bakunin, W. J. Lenin, Trotzki und Franziska von Gräfin zu Reventlow über C.G.Jung, Otto Groß und Erich Mühsam bis hin zu Isodora Duncan und Mary Wigman. Es entstand u.a. eine Naturheilstätte auf dem Monte Verità und drumherum ließen sich die unterschiedlichsten kommuneähnlichen Gruppierungen nieder. Ascona war und blieb relativ lange ein geistiges Zentrum unterschiedlichster Weltanschauungen. Auf dem Monte Verità mischten sich Theosophie und Vegetariertum, Naturheilreformen und anarchistische Revolution.
So experimentierten die Bohèmiens in Ascona mit unkonventionellen Lebensformen, wobei die "freie Liebe" zum Teil Bestandteil mancher Gemeinschaftsexperimente war. In diesem Zusammenhang kam es zu heftigen Kontroversen zwischen den AnhängerInnen der "freien Liebe" und den eher sexuell asketisch lebenden AusteigerInnen anderer Kommunen. Zum Beispiel wurde Otto Groß mit seiner Gemeinschaft vorgeworfen, er würde "sexuelle Orgien" inszenieren, was als moralisch zutiefst verwerflich angesehen wurde. So erinnert sich z.B. Robert Landmann moralisch entrüstet:
"In den geflüsterten Erzählungen der Asconesen spukten noch lange haarsträubende Darstellungen von den Orgien, die die unheimlichen Grossianer begingen, um sich ihre Hemmungslosigkeit zu beweisen. Eine zeitlang zogen sie sich in ein gemietetes Stallgebäude zurück und verpönten in denkbar weitestem Maße jegliche Hemmungsäußerungen. Es herrschten in dem primitiven Milieu unbeschreibliche Zustände, die viel gemeinsam hatten mit den Unarten kleiner und kleinster Kinder und mit den Auswüchsen gewisser studentischer 'Schweineabende'".
Otto Groß wollte sogar auf dem Monte Verità eine "Akademie zur Befreiung des Menschen" gründen. Doch das Projekt Monte Verità ist aus verschiedenen Gründen als Ort der konkreten Utopie gescheitert. Es wurde zunehmend kommerzialisiert, und aus der einstmaligen autarken Künstlerkolonie wurde ein Sanatorium mit zahlenden Kurgästen, sozusagen ein Vorläufer der heutigen Reiseindustrie, mit teuren Kurhotels und pompösen Villen.
So soll zum Abschluß dieses Kapitels Erich Mühsams` Worte Gehör finden, welche er an die Nachgeborenen dieser Zeit richtet: "Soziale Menschen aber wirken mit ihrem Leben, wenn es außerhalb der traditionellen Bahn läuft, erzieherisch. Wenn wir heute vor Nichtrevolutionären erzählen können, wie es in unseren Kreisen zuging, als diese Kreise der gesitteten Wohlanständigkeit als Schwefelhöhlen der Verderbtheit galten, und wenn wir mit unseren Erzählungen nicht mehr tugendsame Entrüstung, sondern verstehende Sympathien wecken, so haben wir beispielgebend gelebt und, bewußt oder nicht, der nächsten Generation vorgemacht, daß es möglich ist, in Verbundenheit frei zu sein, sie damit gemahnt, Zustände zu schaffen, in denen die Freiheit nicht das Vorrecht einiger um ihren Ruf unbesorgter Künstlermenschen zu sein braucht, sondern die Lebensform der Verbundenheit aller Menschen...."
Literatur:
Charles Fourier (1772-1837) - Der Meisterdenker der "freien Liebe"
- Fouriers Gesamtwerk umfasst 20 Bände, leider immer noch nicht ins Deutsche übersetzt.
- Fourier, Charles 1955: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Hrsg. von Theodor W. Adorno, eingeleitet von Elisabeth Lenk. Frankfurt/Main. (vergriffen)
- Fourier, Charles 1977: Aus der neuen Liebeswelt. Über die Freiheit in der Liebe, ausgewählt und eingeleitet von Daniel Guérin. Mit einem Anhang "Über die Freiheit in der Arbeit", ausgewählt und eingeleitet von Marion Luckow. Berlin (vergriffen)
- Fourier, Charles: Über Liebe und Ehe, in: Ramm, Thilo (Hg.): Der Frühsozialismus. Ausgewählte Quellentexte. Stuttgart o.J. (vergriffen)
- Daniel, Ute 1992: Die Liebe, das Klima und der Kosmos. Das revolutionäre Potential des Privatlebens in der Utopie des Frühsozialisten Charles Fourier, in: Hausen, Karin/Wunder, Heide (Hg): Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte. Frankfurt/Main. S. 89-99
- Kleinau, Elke 1987: Die freie Frau: soziale Utopien des frühen 19. Jahrhundert. Schwann
- Hoffman Baruch, Elaine 1986: Frauen in den Utopien der Männer, in: Ruby Rohrlich (Hg.): Weder Arkadien noch Metropolis: Frauen auf der Suche nach ihrer Utopie. München. S. 171-179
- Sombart, Nicolaus 1987: Sexuelle Befreiung als utopisches Projekt, in: SchullerA./Heim N. (Hg.).: Vermessene Sexualität, Berlin
- Sombart, Nicolaus 1996: Die Aktualität des Charles Fourier, in: Hager, Frithjof/Schwengel, Hermann (Hg.).: Wer inszeniert das Leben? Modelle zukünftiger Vergesellschaftung, Ffm
- Sombart, Nicolaus 1996: Pariser Lehrjahre 1951-1954, Ffm
Otto Groß (1877-1920)
- Green, Martin 1976: Else und Frieda, die Richthofen-Schwestern. München (vergriffen)
- Groß, Otto 2000: Von der geschlechtlichen Not zur sozialen Katastrophe (Neuauflage)
- Hurwitz, Emanuel 1979: Otto Groß: Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung. Frankfurt/Main (vergriffen)
- Kreiler, Kurt 1980 (Hg.): Die Schriften von Otto Groß. Frankfurt/Main (vergriffen)
- Michaels, Jennifer E. 1983: Anarchy and Eros. Otto Groß` Impact on German Expressionist. Frankfurt/Main
Erich Mühsam (1878-1934)
- Vergleiche die "Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft e.V.": Königstr. 20, 23552 Lübeck
- Hug, Heinz 1974: Erich Mühsam. Untersuchungen zu Leben und Werk. Glashütten
- Hug, Heinz/Jungblut, Gerd W. 1991 (Hg): Erich Mühsam: Bibliographie (1878-1934). Lichtenstein
- Köhne, Diana 1988: Das literarische Werk Erich Mühsams: Kritik und utopische Antizipation. Würzburg
Franziska zu Reventlow (1871-1918)
- Egbringhoff, Ulla 2000: Franziska zu Reventlow. Monographie. Reinbek/Hamburg
- Faber, Richard 1993: Franziska zu Reventlow und die Schwabinger Gegenkultur. Köln
- Fritz, Helmut 1980: Die erotische Rebellion. Das Leben der Franziska Gräfin zu Reventlow. Frankfurt
- Kubitschek, Brigitta 1994: Franziska Gräfin zu Reventlow: 1871-1918. Ein Leben im Umbruch. Studien zu einer Biographie. Prien/Chimsee
- Schaps, Regina 1987: Tragik und Erotik - Kultur der Geschlechter: Franziska Gräfin zu Reventlows "modernes Hetärentum", in: Lipp, Wolfgang (Hg.): Kulturtypen, Kulturcharaktere: Träger, Mittler und Stifter von Kultur. Berlin. S. 79-96
- Sperr, Franziska 1995: Die kleinste Fessel drückt mich unerträglich. Das Leben der Franziska zu Reventlow. München
Ascona/Monte Verità - Der Berg der Wahrheit
- Hofmann-Oedenkoven, Ida 1906: Monte Verità - Wahrheit ohne Dichtung. Lorch
- Mühsam, Erich 1982: Ascona. Eine Broschüre. Bericht über ein alternatives Leben 1905 auf dem Monte Verità. Berlin
- Green, Martin 1986: Mountain of Truth - the Counterculture begins, Ascona 1900-1920. Hannover
- Landmann, Robert 1988: Ascona - Monte Verità. Auf der Suche nach dem Paradies. Frankfurt/Main
- Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie. Austellungskatalog, hg. von Harald Szeemann
Originaltext: http://www.timowendling.de/fl/fl1.htm - aktuell http://www.freieliebe.timowendling.de/