Diskussionstext Antideutsch 3 - Wildcat: Linke zwischen Nebelkerzen
Wer zur Zeit die Debatten der Linksradikalen in Deutschland verfolgt, kann nur einen Schluß ziehen: sich auf keinen Fall an ihnen zu beteiligen! Die emotionale Aufladung, das zwanghafte Bedürfnis nach moralischer Positionierung und das staatsmännische Fachsimpeln darüber, welche Gruppe von Menschen als nächstes mit Bombardements massakriert werden soll, lassen keinen Raum für den Bezug auf die Realität oder die Frage nach der Revolutionierung der Verhältnisse. Der Teil der Linken, der in den 90er Jahren mit dem Anspruch aufgetreten ist, die radikalste Kritik am Kapitalismus darzustellen, die Strömung der »Wertkritik« und ihre antideutsche Variante, flieht vor der Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit in immer dünnere Abstraktionen. Der ominöse »Wert« oder der überall ausmachbare Antisemitismus dienen als bloße Etiketten, die auf die Erscheinungen geklebt werden, um mit ihnen fertig zu sein. Dies funktioniert aufgrund des Vorurteils, als radikaler Linksintellektueller immer schon über den gesellschaftlichen Verhältnissen zu stehen.
Es geht hier nicht um das berühmte »Theorie-Praxis-Verhältnis«, also die Frage, wie einer besonderen politischen Theorie eine besondere politischen Praxis entspricht. Es geht darum, wie kritische Gedanken über die Welt mit der realen Lebenswelt der KritikerInnen zusammenhängen, d.h. wie Theorie selber immer auch ein praktisches Verhältnis ist. Die Unfähigkeit der linksradikalen Debatte zum Wirklichkeitsbezug hat viel damit zu tun hat, daß sie ihre eigene soziale Wirklichkeit nicht durchschaut, sondern gezielt ausblendet. Als KritikerInnen der Gesellschaft stehen wir nicht außerhalb von ihr, können uns nicht einfach von ihren Einflüssen freimachen. Wenn der soziale Ort und die gesellschaftliche Form der Kritik nicht in die Kritik miteinbezogen werden, rächt sich das in schlechter und letztlich unkritischer Theorie. Da geht es der linksintellektuellen Debatte nicht anders als den bürgerlichen Einzelwissenschaften, die ihren besonderen gesellschaftlichen Ort als abgetrennte Institution als gegeben hinnehmen und daher nicht merken können, wie ihre Inhalte schon dadurch (vor)bestimmt sind und nur zur Legitimation und Aufrechterhaltung der Verhältnisse taugen können.
So weiß die linksradikale Debatte nicht, was ihr durch den 11.9. und Bushs »Kreuzzug gegen den Terror« angetan wird und wie sie in ihrem Streit um »Zivilisation« und »Barbarei« nur den Rauch der ideologischen Nebelkerzen ein- und ausatmet, die um den 11.9. herum überall angezündet wurden. In historischen Umbruchphasen wie 1989/90 oder der aktuell betriebenen globalen Polarisierung kommt es zwangsläufig zu Neu- Positionierungen innerhalb der Linken. Diese betreffen nicht nur die artikulierten Positionen, sondern auch die Weltbilder im Hinterkopf und den sozialen Charakter der eigenen Politik. Die Art, wie heute in spezifisch deutscher Weise über Krieg, Kapitalismus und gesellschaftliche Veränderung debattiert wird, ist Ausdruck des Verständnisses von radikaler Kritik und Politik, wie es sich in den 90er Jahren etabliert hatte. In dem aktuellen Umbruch liegt jedoch die Chance, die deutschen Bornierungen der 90er Jahre zu durchbrechen. Dazu müssen sie bewußt gemacht und verstanden werden; sonst bleibt es beim Austausch der Etiketten der Kritik - Antiimperialismus statt Antideutschtum usw. (siehe die Anmerkungen zum konkret-Kongreß) - ohne die vertrauten Weltbilder und den sozialen Charakter der Kritik zu überwinden.
Politik in der Spaßgesellschaft
Als linke Gruppen die Öffentlichkeit im Wiedervereinigungstaumel mit der Parole »Bomber Harris - Do It Again!« provozierten, wurde das von vielen aufgegriffen. Als die Zeitschrift bahamas kurz nach dem 11.9.2001 zur möglichst massiven Bombardierung Afghanistans und anderer »islamistischen Zentren« aufforderte, wandten sich selbst gestandene Antideutsche wie konkret-Autoren oder café morgenland gegen diese Kriegshetze.
Was war passiert? Wieso bekamen Leute, die leichthin die erneute Bombardierung Dresden gefordert hatten, auf einmal Skrupel mit Bombardements und setzten sich dem Verdacht aus »antiamerikanisch« zu sein? Die Attraktivität oder Akzeptanz der Bomber-Harris-Parole beruhte auf drei Essentials linksradikaler Politik nach 1989, die heute in die Krise geraten:
- die Betrachtung aller Erscheinungen von einem speziell deutschen Standpunkt aus (und generell das Denken in Kategorien nationaler, völkischer oder ethnischer Identitäten)
- die Trennung zwischen politischer Parole und Lebenspraxis und damit verbunden die Umwandlung von theoretischer Kritik in moralische Haltung
- die Ersetzung von Gesellschaftskritik durch moralische Anthropologie (»wir sind die Guten«, also die anderen »die Bösen«) oder eine Anthropologie der puren Funktionspartikel eines geschlossenen Systems (»Warenmonaden«, »Arbeitskraftbehälter«).
Wertkritik und Antideutschtum konnte in den 90er Jahren erfolgreich sein, weil sie den begrenzten Möglichkeiten politischer Aktivität und der Selbstwahrnehmung der radikalen Linken im nationalistischen Taumel und im Wegbrechen der Kalten-Kriegs-Schemata entsprachen. Die »Bomber-Harris-Parole« brachte die Verschiebungen in den linken Befindlichkeiten ab 89/90 auf den Punkt:
- Die Bombardierung Dresdens wurde als rein deutsche Angelegeneheit behandelt - was weder für die bombardierten Menschen zutrifft, noch für die Funktion des area bombings als Weiterentwicklung kapitalistischer Kriegsführung, wodurch diese Bombardements zugleich Instrument waren, Einfluß auf die Nachkriegsordnung der Welt zu nehmen.
- Zweitens wurde sie nur moralisch interpretiert: als Bestrafung der deutschen »Volksgemeinschaft«. Die bloße Frage oder historische Analyse, warum die Bombardierung zu diesem Zeitpunkt erfolgte, wurde damit verdächtig und in die rechte Ecke gestellt. Moralische Verurteilung wurde dem Versuch historischer Erklärung entgegengestellt, in der es über die Empörung hinaus um die Frage geht, wie Verhältnisse überwunden werden können, die Judenmord und Weltkrieg möglich machen.
- Der Ausdruck »Kritik« wurde seitdem mit »Denunziation«, »Anklage«, »Polemik« gleichgesetzt - dem Versuch, die beschissenen Verhältnisse als widersprüchliche und geschichtliche zu begreifen, wird vorgeworfen, entschuldigen und rechtfertigen zu wollen. Das kennzeichnet auch den innerlinken Diskurs: der Schlagabtausch erschöpft sich in moralischen Vorwürfen. Kennzeichnungen wie »rassistisch«, »antisemitisch« oder »antiamerikanisch« genügen, um mit Aussagen oder Realitäten fertig zu sein, die nicht ins eigene Weltbild passen und nicht p.c. sind. Nicht bei der Wut und Empörung stehen zu bleiben, sondern nach den Voraussetzungen für die Umwälzung in den Verhältnissen zu Fragen, kommt in diesem Weltbild nicht vor - konsequenterweise wird »Kritik« auch theoretisch als Nachweis der Unmöglichkeit von Revolution und Veränderung entwickelt.
- Diese Ersetzung von Gesellschaftskritik durch Moral bringt es mit sich, Verhältnisse nur anthropologisch oder psychologisch fassen zu können: es ist das Schlechte in »den Deutschen« (gemeint sind »die Menschen«, da der provinzielle deutsche Blick ohnehin nichts anders mehr sieht, es sei denn man entdeckt »den Deutschen« als die »wahre Seele« auch »der Araber« usw.), das in der Geschichte wirkt; oder die psychologische »Verhausschweinung der Arbeiterklasse« (Lieblingswort von Robert Kurz), aus der die kapitalistische Entwicklung erklärt wird, der folgerichtig eigentlich nur mit Massentherapie beizukommen ist.
- Was diesen gedanklich-ideellen Verschiebungen bei den Linksradikalen materiell zugrundeliegt, ist die akzeptierte Unmöglichkeit von Praxis und Gesellschafsveränderung. Nach 1989/90 hat diese Linke ihre eigene Variante vom »Ende der Geschichte« (die Parole stammte vom Chefideologen des US-State-Departments Francis Fukuyama) durchbuchstabiert und daraus diese merkwürdige Melange aus Verzweiflung, Zynismus und Verachtung für die wirklichen Menschen gemacht. Im nationalistischen Taumel der »Wiedervereinigung« konnte einem tatsächlich Hören und Sehen vergehen - die Ohnmacht der Linken lag darin, lediglich negatives Spiegelbild dieser borniert deutschen Verhältnisse zu bleiben.
Die Bomber-Harris-Parole drückt diese akzeptierte und kultivierte Ohnmacht darin aus, daß sie nicht als Aufforderung ans eigene Leben und Handeln verstanden wurde. Niemand zog los, um wahllos »Deutsche« umzulegen; es gab keine Übertritte in die RAF (Royal Air Force), um das Geforderte wahr zu machen. Sie war eine Provokation in der Art der Spaßgesellschaft, wo nur der verbale Kick, der witzigste symbolische Ersatz für eigene Praxis zählt. In dem Maße, wie die praktische Ohnmacht kultiviert und theoretisiert wurde, mußte die eigene alltägliche soziale Praxis, die nun mal jedes körperlich-seelische Wesen hat, ausgeblendet und ignoriert werden. Radikale Kaptialismuskritik und das eigene gesellschaftliche Handeln fallen damit völlig auseinander, schlimmer noch: Theorie wird zur Immunisierung gegen die Wahrnehmung und kritische Reflexion des eigenen Handelns. Damit braucht nicht mehr problematisiert zu werden, wie die sehr wohl vorhandene Praxis der radikalen Kapitalismuskritik all die Formen und Verhältnisse der Ware, der Konkurrenz und der Herrschaft in ihrer kleinen Welt reproduziert, die dem Kapitalismus vorgeworfen werden.
Kapitalismuskritik als Geschäft und Priesterkult
Kritik des Kapitalismus drückte sich einmal alltagspraktisch darin aus, daß den entfremdeten Beziehungen von Ware, Geld und Konkurrenz in den eigenen Zusammenhängen entgegengewirkt wurde: teure Bücher wurden raubgedruckt, eigene Publikationen jenseits der kapitalistischen Vertriebskanäle verbreitet, der Konkurrenz und den Eitelkeiten der bürgerlichen Individuen die gemeinsame Erarbeitung und Verfassung von Texten entgegengesetzt. Dieses Verhalten beruhte nicht auf moralischen Entscheidungen, sondern war an die Existenz von Bewegungen und Kämpfen, besetzten Häusern, eigenen Zentren, kollektiv betriebenen Druckereien oder Buchläden usw. gebunden war. Der Wegfall dieser Bedingungen läßt sich daher auch nicht moralisch bewerten oder anklagen.
Der Fehler lag und liegt darin, daß diese Veränderungen nicht thematisiert und als Problem diskutiert werden. Ganz im Stil der kapitalistischen Normalität haben sich diese Entwicklungen scheinbar »hinter dem Rücken der Beteiligten« vollzogen. Solche Unbewußtheit über das eigene praktische Tun rächt sich zwangsläufig auch in der Theorie - in dem Maße, wie sie blind gegen ihre Abgetrenntheit von der gesellschaftlichen Praxis wird, schreibt sie sich einen Status zu, den sie nicht hat: sie betreibt einen Kult um ihre aufklärerische Wirkung. Obwohl Wertkritiker und Antideutsche die »postmoderne Quasselmaschine« (Bruhn, isf) verachten, haben gerade sie dafür gesorgt, Kapitalismuskritik in einen reinen Diskurs zu verwandeln: im Weltbild der Zusammenbruchsphilosophie von krisis wird alles irgendwie »Alternative« - Landkommunen, Linux- Programmieren oder Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich - zu systemüberwindendem Handeln, sofern nur genügend wertkritisch darüber geredet wird; den antideutschen Varianten der Wertkritik (bahamas, isf, und als purer Jargon in der jungle world) ist Praxis per se verdächtig; ihre eigene Praxis wird zum Diskurs des »Praxisverbots«, soll reine »Ideologiekritik« sein - was diese Kritiker nicht daran hindert, staatlicher Real- und Militärpolitik Beifall zu zollen. Der bis zur Bewußtlosigkeit wiederholte Spruch Adornos »es gibt kein richtiges Leben im falschen« (Minima Moralia S. 42) wird zur Rechtfertigung der Beliebigkeit des Handelns und der praktischen Bedeutungslosigkeit von Kritik verballhornt. Die theoretischen Paradoxien dieser Strömungen lassen sich nur als Ausdruck der Kritik- und Begriffslosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Formen ihres eigenen Tuns verstehen.
- Politik als Geschäft: Es ist normal geworden, mit »politischer Tätigkeit« sein Geld zu verdienen; die eigene Reproduktion und die politische Praxis in eins zu setzen. Mit aller Selbstverständlichkeit gilt das Schreiben linker Artikel oder Bücher, das Verlegen oder Verkaufen solcher Bücher, das Auftreten als Redner auf linken Veranstaltungen oder in den Medien als Einkommensquelle. Wieweit sich damit die Kritik den marktgängigen Bedürfnissen und dem Zwang, sich darüber zu reproduzieren, unterwirft (ganz unabhängig davon, wie lukrativ oder ärmlich diese Reproduktion ist), bleibt ausgeblendet. Soziale Verhaltensweisen, die sich dieser Verwandlung von Kritik an der Ware in eine Ware entgegensetzen, wie das Raubdrucken oder Klauen von Büchern, werden moralisch ausgegrenzt, da sie zwangsläufig die Reproduktion eines anderen Teils der Linken bedrohen würden.
- Ebenso normal ist es geworden, für Diskussionsveranstaltungen Eintritt zu nehmen, da die geladenen Referenten ihre Reproduktion daraus bestreiten. Auf diese Weise werden die Orte der kollektiven Debatte kommerzialisiert und es entwickelt sich eine Hierarchie zwischen »gefragten Referenten« und »Zuhörern«. Das inhaltliche Gefälle zwischen »Experten« und »Aufzuklärenden« überlagert sich mit dem Gefälle zwischen denen, die von ihrer Klugheit oder Redekunst leben können, und dem Fußvolk, das auf andere Weise seine Brötchen verdienen muß. Dies gilt nicht für alle Zusammenhänge, aber es fällt auf, wie unhinterfragt und unwidersprochen es in der linken Szene hingenommen wurde und wird.
- Die Entfremdung in der politischen Debatte betrifft den sozialen Ort aller Beteiligten. Es ist gleichgültig geworden, wie wir uns reproduzieren, wir wir uns selber in die gesellschaftlichen Hierarchien von Ausbeutung und Lohnarbeit, Krisengewinnlern und -verlierern oder staatlichen Institutionen einordnen. Die theoretische Ausblendung des Klassenverhältnisses bekommt zugleich die praktische Funktion, im Umgang miteinander und in den Vorstellungen von Kollektivität von diesen Verhältnissen zu abstrahieren. So kann sich Robert Kurz das aufgeklärte VW-Management als ebensoguten Bündnispartner vorstellen, wie jeden beliebigen Malocher. Die Übernahme von Staats- und Herrschaftsfunktionen als linker Lehrer oder Sozialarbeiter ist genausowenig Thema, wie die Frage, ob wir unsere Beziehungen untereinander über Geld und »gerechten Tausch« regeln.
- In den 60er und 70er Jahren wurde im damals noch großbürgerlich geprägten studentischen Milieu die Frage nach dem eigenen Ort in der Klassengesellschaft als »Klassenverrat« thematisiert. Die K-Gruppen haben daraus dann ihren dümmlichen Prolet-Kult gezimmert, von dem sich die Wertkritiker und Antideutschen, die diesem Milieu entstammen, heute absetzen. Die längst verschwundene ML-Kultur wird von ihnen heute ständig als Strohmann zum Eindreschen herbeizitiert, weil damit zugleich das Richtige an der Fragestellung verdrängt werden soll. Die damalige Kritik an der Universität - die nur in seichten Formeln wie »raus aus dem Elfenbeinturm« populär wurde - ging viel weiter als die heutige Auseinandersetzung mit ihr. Es wurde durchschaut, daß die dort betriebene Wissenschaft nicht nur theoretisch falsch und Legitimationswissenschaft ist, sondern daß ihr herrschaftlicher Charakter schon mit der Abtrennung als staatliche Institution von der gesellschaftlichen Praxis gegeben ist: instrumentelle Vernunft, die beliebigen und damit immer den herrschenden Interessen zur Verfügung steht. War dieser gesellschaftliche Charakter von Wissenschaft durchschaut, reichte es nicht mehr, Traktate zur »Kritik bürgerlicher Wissenschaft« zu verfassen - die eigene soziale Funktion und Rolle mußte radikal verändert werden. Das bedeutete den Bruch mit der eigenen Lebensperspektive, die einem als universitäre Karriere und in der gesellschaftlichen Stellung der Eltern vorgegeben war. Heute ist mit der Ausblendung des Klassenverhältnisses aus der Gesellschaftskritik auch die Kritik der Universität und der Institutionen verschwunden.
- Im Gegenteil, Debatten sind oft von regelrechter Wissenschaftsgläubigkeit geprägt, wenn es nicht mehr auf den Realitätsgehalt oder die Stichhaltigkeit der Argumente ankommt, sondern darauf, alle »wichtigen Namen« von Foucault bis Adorno flüssig daherplappern zu können. Die Szene selber hat dafür das treffende Wort Name-Dropping geprägt. Aber weil sie nicht versteht oder nicht kritisieren will, welche praktischen Verhaltensweisen dem zugrunde liegen, kann sie es auch nicht stoppen. Sie merkt, daß sich da etwas wiederholt, was sie von der Uni kennt - wo es nicht um richtige Erkenntnis und seine Bedeutung für die eigene Lebenspraxis geht, sondern das Mithalten in der Konkurrenz um die Scheine oder Abschlußnoten - was auch eine bestimmte Lebenspraxis ist! Bei diesem Geschäft ist die Menge der zitierten Autoren wichtiger als die Frage nach der Bedeutung für die Wirklichkeit. Dies wiederholt sich in der linken Debatte, weil sie heute genauso abgetrennt und gleichgültig der Praxis gegenübersteht, wie es die Uni durch ihren Charakter als Institution ist. Nur in solchen von der Praxis abgetrennten Räumen kann sich die Fixierung auf theoretische Autoritäten in der Form entwickeln, wie sie mit dem Name-Dropping gekennzeichnet wird.
- Das Zusammenspiel von linker Politik als Einkommensquelle und Autoritätsfixiertheit hat die Erscheinung der unsäglichen Konkurrenz und Eitelkeiten im Rahmen von politischen Debatten erzeugt. Konkurrenz unter politischen Gruppen und zwischen kollektiv erarbeiteten Positionen gab es schon immer und nahm oft genug die verrücktesten Formen an. Was aber die 90er Jahre prägt, ist die Präsentation des bürgerlichen Individuums. Linke Debatte wird zur Konkurrenz der Schreiber und Schreiberinnen auf einem begrenzten Markt, Präsentation und Vermarktung werden wichtiger als die Suche nach Erkenntnis. Es ist daher kein Wunder, daß die Übergänge zu Glosse, schlechtem Kabarett und Feuilleton immer fließender geworden sind. Aus diesem Pool bedienen sich mittlerweile auch bürgerliche Medien wie die Süddeutsche oder die FAZ. Überhaupt hat die beständige Abstraktion von der eigenen gesellschaftlichen Praxis es der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend leichter gemacht, oppositionelle Haltungen und Äußerungen in ihren pluralistischen Kulturraum einzubauen und zu verdauen. Nonkonformismus ist zum unverzichtbaren Bestandteil jedes Markenzeichens geworden.
Linksradikale Theorie wird mehr und mehr zum Feuilleton, ganz wie es der Bürger in seinen Publikationen erwartet: da kommt erst die Politik und der Wirtschaftsteil - und dann ist da noch das Feuilleton, wo man sich seine kritischen Meinungen über den Lauf der Welt abholen und kulturell auf der Höhe der letzten Moden bleiben kann - ganz so werden linke Publikationen oder Veranstaltungen konsumiert. Es wird nicht darüber diskutiert, was wir ohnehin schon tun oder tun sollten, sondern was wohl die richtige Haltung und moralische Einstellung dem Weltlauf gegenüber ist. Darin liegt der soziale Charakter der Bomber-Harris-Parole oder des Rufs nach Bomben auf Afghanistan und Baghdad - sie bestimmen keine Praxis, ihre Vertreter erwägen nicht, selber Soldat zu werden; es sind Kommentare zum Lauf der Welt, mit dem wir in unserem Lebensalltag nichts zu tun haben.
Die Elite der Aufklärung
Trotzdem drückt sich in diesem linken Feuilleton nicht einfach die Gleichgültigkeit gegen die eigene soziale Position und Praxis aus, sondern der Anspruch auf eine ganz bestimmte herrschaftliche Funktion. Dem kritischen Denken und damit sich selbst als Denker wird eine Funktion zugewiesen, die sie nicht aus sich heraus haben, sondern aufgrund des gesellschaftlich vorgegebenen und akzeptierten Verhältnisses von »Intelligenz« und »Masse«. Sowohl krisis wie antideutsche Varianten von Wertkritik betonen die notwendige und zwangsläufige Verblendung der Menschen und die Unmöglichkeit, sie in praktischen, sozialen Gegensätzen und Kämpfen zu durchbrechen. Revolution als das Zusammenfallen von Selbstveränderung und Veränderung der Verhältnisse wird kategorisch ausgeschlossen. Der Widerspruch kann nur nach der Seite der Objektivität (Zusammenbruch und »Kommunismus der Dinge« bei krisis) oder der puren Subjektivität (»Ideologiekritik« beim isf) aufgelöst werden.
Die Vertreter beider »Lösungen« stehen vor dem Problem, daß unerklärlich wird, wieso gerade sie in der Lage sind, die Verblendungen zu durchbrechen und sie als solche zu erkennen - was sie unentwegt behaupten. Entweder kam der heilige Geist über sie - oder aber, und dies ist der praktische Gehalt ihrer Behauptungen, sie beanspruchen für sich einen besonderen gesellschaftlichen Ort, von dem aus der allgemeinen Verblendung entgegengetreten werden kann. Alle Klassengesellschaften bestimmen einen solchen Ort, der mit der Eigenschaft versehen wird, über das nebelhafte Bewußtsein des »Volks« oder der »Masse« hinausblicken zu können - früher waren es die Priester, heute sind es die Philosophen und Wissenschaftler, die diese Rolle im Zuge der bürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts erhielten. Egal, wie kritisch sich die Linksradikalen verbal von dieser vorgegebenen Intellektuellenrolle abzugrenzen versuchen, solange sie die Exklusivität ihrer Kritik gegenüber den Verblendeten behaupten, identifizieren sie sich ganz praktisch mit dieser Position (auch wenn sie nicht in den Genuß der materiellen Vorteile dieser Eliten-Position kommen).
Viele der älteren Vorreiter dieser wertkritischen Aufklärungshaltung konnten dabei an dem Weltbild ihrer früheren politischen Sozialisation anknüpfen. Der überraschend schnelle Übergang von einer antiautoritären und wissenschaftskritischen Jugend- und Studentenbewegung zum Aufbau marxistisch-leninistischer oder maoistischer Parteien hatte der Position des aufklärenden Intellektuellen eine linke Legitimation verliehen. Das leninistische Theorem vom notwendig ökonomistischen Arbeiterbewußtsein, dem nur durch die Intervention der mit dem wissenschaftlichen Sozialismus bewaffneten Partei Beine gemacht werden könnte, hatte dem Intellektuellen wieder die Sonderrolle gegeben, die mit der Formel vom »Klassenverrat« in Frage gestellt wurde. Auch hier bleibt unerklärlich, woher die Intellektuellen oder Parteiführer ihren exklusiven Erkenntniszugang haben, oder anders gesagt: wer denn die »Erzieher der Arbeiterklasse« erziehen soll.
In der leninistischen Konzeption des Intellektuellen konnte die Aufklärung nur deswegen als revolutionäres Moment ausgegeben werden, weil die Partei als ein Ort jenseits von kapitalistischer Gesellschaft und bürgerlichem Staat gedacht wurde - und weil »die Arbeiterklasse« als ein offener Behälter konzipiert war, der nur darauf warte, mit »Klassenbewußtsein« gefüllt zu werden. Und da, wo die eigene Reproduktion mit der politischen Tätigkeit zusammenfiel, wie im bezahlten Parteifunktionär, war sie zumindest im Bewußtsein der waren- und profitvermittelten Produktion entgegengesetzt. Seit den 80er Jahren und schlagartig mit Beginn der 90er haben sich die einzelnen Koordinaten dieses Schemas verändert - nicht aber das Schema selbst. Die »revolutionären Parteien« existierten nicht länger, die Arbeiterklasse galt nicht mehr als offenes Gefäß, sondern als dumpfer Pöbel oder arbeitsgeile Dumpfbacken. Die Vorstellung vom Gefäß wurde aber beibehalten, nur daß es nun der bloße »Arbeitskraftbehälter« war, in dem höchstens noch das Kapital denkt oder die Kulturindustrie ihre Produkte ablädt. Es war die Rückkehr in den Schoß des bürgerlichen Aufklärungsdenkens und damit der negativen Anthropologie der von Natur »schlechten Menschen«, die nur durch eine höhere Gewalt im Zaum gehalten werden können. Ausgesprochen oder unausgesprochen, über kurz oder über lang steckte darin die Rückkehr zum Staat und seiner zivilisierenden Gewalt.
Was vielen mit der Aufforderung der bahamas zum Krieg »zu weit« ging oder wie eine Entgleisung des linksintellektuellen Diskurses behandelt wurde, war in Wirklichkeit nur eine ausgesprochene Konsequenz der gesamten wertkritischen Strömung. Ihre Nähe zum Staat und zum Krieg läßt sich nicht dadurch überwinden, daß über »Zivilisation« und »Barbarei« gestritten wird, sondern daß der hier geschilderte soziale Charakter dieses Theoretisierens radikal in Frage gestellt und umgewälzt wird.
Originaltext: http://www.wildcat-www.de/zirkular/63/z63nebel.htm (mit Links)