Annette Ohme-Reinicke - Wider autonome Mythologien (Buchbesprechung)

Autonome Lupus-Gruppe: Die Hunde bellen... Eine Zeitreise durch die 68er Revolte und die militanten Kämpfe der 70er bis 90er Jahre. Münster, Unrast-Verlag

Die sozialen Kämpfe der 70er und 80er Jahre in Deutschland brachten nur wenige Aktivisten hervor, die den Versuch unternahmen, über ihre Erfahrungen Bücher zu schreiben und dabei aktuelle Entwicklungen aus der Perspektive der Revolte zu reflektieren. Zu diesen wenigen gehört die »Autonome Lupus-Gruppe Frankfurt«. Seit Jahren greift sie Themen der autonomen Szene auf.

Zum Anlass für das neueste Buch »Die Hunde bellen... Eine Zeitreise durch die 68er Revolution und die militanten Kämpfe der 70er bis 90er Jahre« wurde eine bittere Enttäuschung: Ein früherer Mitstreiter aus der autonomen Szene, der als integer und zuverlässig galt, wurde 1999 freiwillig zum Kronzeugen vor Gericht; seine Aussagen, in denen er sich und andere als ehemaligen Aktivisten der »Revolutionären Zellen« (RZ) bezeichnete, brachten zahlreiche Personen auf die Fahndungsliste der Polizei oder hinter Gitter.

Dies wirkte um so krasser, als der Denunziant, Tarek Mousli, autonome Ideale und autonome Geschichte aufrecht verkörperte: Von der Anti-AKW-Bewegung bis zu den Hausbesetzungen der 80er Jahre war er aktiv; als Könner von Karate zeigte er Unverwundbarkeit gegenüber polizeilichen Übergriffen, er trat zuweilen als Beschützer vor Festnahmen auf und personifizierte - im Libanon geboren - eine Verbindung zur sogenannten Dritten Welt. Der Zusammenbruch dieses Ideals durch seine plötzliche Mutierung zum Verräter hinterlässt im autonomen Milieu Erschrecken, Unverständnis und Niedergeschlagenheit. Diese Stimmung greift die autonome Lupus-Gruppe auf und stellt die Frage, wie und vor allem warum es zu diesem Verrat gekommen ist. Um dies zu beantworten, lässt sich Lupus vom Leser bei einem Streifzug durch die Geschichte begleiten.

Dieser fängt genauer betrachtet jedoch nicht - wie der Titel ankündigt – mit der Revolte von 1968 an, sondern danach: Anfang der 70er Jahre. Zu der Zeit also, da die Häuserkämpfe tobten, die Spontis entstanden, Joschka Fischer und Daniel Cohn Bendit noch militante Aktionen planten und im überfüllten Hörsaal der Frankfurter Universität um das Für und Wider bewaffneter Politik gestritten wurde. Die im antiautoritären Kampf der Studentenbewegung einst vereinte Linke strebte bereits immer deutlicher in verschiedene Richtungen.

Eine davon war der Weg ins Parlament. Eine andere führte zu klandestinen Organisationsweisen zwecks Durchführung direkter Aktionen; die Anhängerschaft der RAF, der »Bewegung 2. Juni« und der »Revolutionären Zellen« (RZ) war keineswegs gering. Das Schicksal der Parlamentarier sollte auf eigentümliche Weise mit dem der Militanten verbunden bleiben und so traf man sich unlängst im Frankfurter Gerichtssaal, im Prozess gegen Hans-Joachim Klein wieder. Dieser hatte sich nach seiner Beteiligung am Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien 1975 von den RZ getrennt und Schutz bei Frankfurter Spontis, namentlich Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer, gesucht. Beide benutzen Hans-Joachim Klein in den 70er Jahren, um an seinem Beispiel - wider besseres Wissen - die Politik der Militanten zu denunzieren. So wurden Nachrichten zurückgehalten oder lanciert und Absprachen zwischen Cohn-Bendit und den RZ verschwiegen. Hinter dieser Taktik steckte, so Lupus, das Kalkül, politisch den Weg der Spontis ins Parlament zu ebnen. Dies ist gelungen, die Geschichte der Grünen sowie ihres adoptierten Kronzeugen hinlänglich bekannt. Doch was wurde aus den Anderen? Lupus' Augenmerk gilt nun den Revolutionären Zellen und deren internationalen Aktivitäten. Zu einer bitteren Niederlage der RZ geriet der Versuch praktischer Solidarität mit dem Befreiungskampf des palästinensischen Volkes. 1976 entführte ein palästinensisches Kommando, an dem sich auch zwei deutsche Mitglieder der RZ beteiligten, ein Flugzeug. Es sollten Gefangene freigepresst werden. Stattdessen aber wurde das Kommando bei der Erstürmung des Flugzugs in Entebbe erschossen.

Seit dieser Aktion, so erfahren wir, hatte sich die Solidarität mit den palästinensischen Organisationen immer schwerer gestaltet: Deren individuelle Profilierung und patriarchale Strukturen wurden zu essentiellen politischen Differenzen, die, so später eine RZ, auch der Grund für Hans-Joachim Kleins Ausstieg gewesen sei. Dieser selbst kritisierte unter anderem »die Bedingungen dieser internationalistischen Zusammenarbeit, die genau das reproduzierte, wogegen er eigentlich zu kämpfen begonnen hatte.« (Autonome Lupus-Gruppe 2001: 159) Bald erwiesen sich die Differenzen zwischen palästinensischen Organisationen und westdeutschen Militanten, »die wir lange Zeit ignoriert oder der Unterschiedlichkeit von Bedingungen beziehungsweise unserem Metropolenstatus zugeschrieben hatte, als knallharte Widersprüche, für die sich kein gemeinsamer Nenner mehr fand.« (Die Früchte des Zorns, 1993: 27) Die Zusammenarbeit mit den Palästinensern nahm ab; nur einige wenige hielten noch Kontakt aufrecht. Zu ihnen gehörte Gerd Albartus, ein Mitstreiter, der bereits im SDS Erlangen aktiv gewesen war. 1991 veröffentlicht eine RZ die Nachricht vom Tod Albartus': Er wurde 1987 von einer palästinensischen Gruppe erschossen. »Es gehört zu den makaberen Parodien dieser Geschichte, dass Gerd, in dessen politischer Biographie die praktische Unterstützung des palästinensischen Widerstandes durchgängig eine zentrale Rolle eingenommen hat, ausgerechnet einer jener Gruppen zum Opfergefallen ist, die sich als Teil dieses Widerstandes begreift.« (ibid.: 22) Diese Tragödie, so die Lupus-Gruppe, hatte ihre Ursache unter anderem in der mangelnden Reflexion der militanten Linken. Schon die Flugzugentführung sei von der RZ nicht rechtzeitig selbstkritisch aufgearbeitet worden. Stattdessen habe sich ein Schweigen breit gemacht, das auch den Spontis politisch Tür und Tor öffnete.

Die Lupus-Gruppe diskutiert nun kritisch das Verhältnis der militanten Linken zu Palästina und Israel. Sie greift Kritik und Selbstkritik am Verlauf der Flugzeugentführung auf und sucht nach Motiven für die Solidarität mit den Palästinensern. So manifestierte sich ein politisches Desaster während der Flugzeugentführung: Die Passagiere wurden in Israelis und Nicht-Israelis getrennt. Damit blieben faktisch nur Juden als Geißeln im Flugzeug zurück. »Das haben wir damals einfach nicht bedacht«, erklärt später Gerd Schnepel. Wie konnte es aber dazu kommen? Das Verhältnis der Linken zu Israel habe sich nach dem Sechstagekrieg Israels gegen Ägypten von l967 geändert. Während vorher Israel, nicht zuletzt wegen seiner Kubbuzim, als emanzipatorisches Experiment gesehen worden war, so hatte der israelische Angriffskrieg, dessen grauenerregende Bilder um die Welt gingen, deutlich gemacht, dass Menschen sich nicht automatisch zu Pazifisten oder Sozialisten entwickeln, wenn sie selbst zuvor Opfer von barbarischer Herrschaft waren. Die Linke aber, so Lupus, habe lediglich den Adressatengewechselt: Die Solidarität mit Israel als Staat der Opfer des Holocaust wurde ersetzt durch eine Solidarität mit den Opfern der Opfer, den Palästinensern. Diese »linke Opfer- Metaphysik« (Autonome Lupus-Gruppe, 2002: 64) wurde von den militanten Gruppen nicht hinreichend reflektiert. Der palästinensische Befreiungskampf wurde idealisiert. Ein später Tribut für diesen Fehler, so wird spekuliert, war der Zusammenbruch Tarek Mouslis. Er habe möglicherweise den Tod eines Freundes und Weggefährten nicht verkraften können und deshalb den politischen Zusammenhang mit Schuld belastet. Ob dieses Ereignis tatsächlich den Bruch in der Biographie Tarek Mouslis markiert oder ob es lediglich die Legende eines Kronzeugen ausschmückt, bleibt offen. Die Geschichte des Buches ist damit bereits kurz nacherzählt.

Der Inhalt dieser »Geschichte« und der Grund, sie aufzuschreiben, ist vorallem die Intention, eine politische Enttäuschung auch politisch zu verarbeiten. Dies gelingt auch ein gutes Stück. Lupus konsequenter Versuch, eine selbstkritische Antwort auf die Frage zu erhalten, warum jemand, dem man es keineswegs zugetraut hätte, zum Verräter wird, soll ein Zeichen setzen, sich nicht von verblassenden Idealen mitreißen zu lassen.

Statt den Verräter in den Mittelpunkt zu rücken, gelte es »das eigene Verhältnis zur militanten Politik« zum Ausgangspunkt zu machen. (ibid.:143) So appelliert die Lupus-Gruppe, den Verrat des früheren Genossen aus den Versäumnissen der militanten Linken zu begreifen. Diese Selbstkritik - und darin liegt die Stärke des Buches - richtet sich gegen ein Verdrängen und nur sie macht den Weg frei für eine Praxis, die aus den Fehlern lernt und die Niederlage, die der Verrat eines Einzelnen für den politischen Zusammenhang bedeutet, kollektiv aufzuheben in der Lage ist.

So bedeutend und notwendig diese Einsicht ist, so zeigt sich jedoch auch eine Grenze des Spurenlesens von Lupus: Er verlässt methodisch das Handgemenge militanter Gruppen nicht und sucht die Gründe für den vorläufigen Niedergang der Autonomen und der Militanten in internen Prozessen. So vermittelt das Buch die Illusion, eine militante Strömung, könne eine ganze Bewegung durch die »richtige« und »genaue« Diskussion aus der politischen Desolatheit ziehen. »Es spricht einiges dafür, dass die RZ/Rote Zora nicht an der staatlichen Repression gescheitert ist, sondern an inneren Auseinandersetzungen, für die es keine gemeinsame politische Praxis mehr gab.« (ibid.: 147) Zum Problem aber wird den militanten Gruppen stets, dass sie sich rasch als Avantgarde einer Bewegung verstehen, der sie etwas zeigen wollen, die sie radikalisieren wollen, weiterbringen etc. »Bezugspunkte der RZ waren die radikale und autonome Linke, die sozialen Bewegungen, die (militanten) Kämpfe in der BRD und die (nationalen) Befreiungskämpfe und Unterklassen im Trikont.« (ibid.: 158) Wir erfahren, die RZ hatten versucht, in den sozialen Bewegungen avantgardistisch und pädagogisch (!) zu intervenieren, (ibid.: 159) Fehlen nun aber diese Bewegungen, so agiert die »Avantgarde« alleine herum. Dann bleibt die Möglichkeit, sich ein revolutionäres Subjekt herbeizuprojizieren oder aber einzusehen, dass man als Avantgarde grade nicht gebraucht wird und vielleicht besser Angeln geht.

Auch Lupus' Katalog der »eigentlichen Fragen, die sich jede radikale Bewegung stellen muss« weist auf dieses Problem: »Wie minoritär darf militanten Politik sein? ... Wie verbunden muss sie mit dem jetzt Möglichen sein?« (ibid.: 76) Um aber Minoritäten zu bestimmen, muss die Majorität deutlich sein; und um Verbindungen herzustellen, braucht man mindestens zwei Punkte. Die Grenzen sozialrevolutionärer Politik, die sich vor allem durch militante Aktionen artikuliert, sind eben auch objektive. Dies ließe sich gut am Beispiel der Proteste gegen die Startbahn West zeigen. Doch der plötzliche Sprung in den Startbahnwald gerät Lupus etwas abrupt, da er vorallem die Chronologie sowie eine Kritik der Aktivitäten der RZ zum Inhalt hat.

Auch wird in Lupus Sicht auf den Gang der Ereignisse der Begriff der Militanz reichlich strapaziert. Um die politischen Extreme deutlich zumachen, mit denen sich das Buch plagt, wäre es besser gewesen, von Sozialrevolutionären versus reformistischen Ansätzen zu sprechen. Schließlich waren die Aktionen am 11. September letzten Jahres auch militant und antikapitalistisch. Sie waren aber keineswegs Sozialrevolutionär oder gar emanzipatorisch. Die Effizienz militanter Aktionen zeigt sich eben immernoch an der »qualitativen Verbreiterung der Massenbasis« (Krahl).

Ein aktuelles Dilemma hinsichtlich dieser qualitativen Verbreiterung spricht Lupus allerdings an: Der verstärkte Zwang zur Lohnarbeit. »So ist das Diktat, sich mit Haut und Haar zu verkaufen, Zug um Zug in den Alltag widerständischen Daseins integriert« (ibid.: 28) So gesehen mag es stimmen, dass wir uns »weit vor den Bedingungen, die die 68er Revolte vorgefunden hat«, befinden. Doch die Revolte, Proteste und Scharmützel der letzten Jahrzehnte in der BRD waren keineswegs Reaktionen auf materielles Elend. Im Gegenteil: Es war stets die Möglichkeit auf die Durchsetzung neuer sozialer Verkehrsformen, die den Bewegungen ihre Dynamik verlieh. Sie entfalteten ihre emanzipatorische Qualität, da ein »Raum für neue Lebensentwürfe« (Merleau-Ponty) vorhanden und nicht durch die Angst ums Übeleben verstellt war. Die Aussicht, neue Arbeits- und Lebensformen durchzusetzen, wirkte bis weit in die 80er Jahre mobilisierend.

Trotz manch gelungener Scharmützel seit den 70er Jahren bleibt Lupus eine düstere Bilanz. Die Gruppe konstatiert »die absolute Einflusslosigkeit der 68er Revolte auf die militärische und imperialistische Entwicklung der BRD« (ibid.: 22) Da möchte man allerdings entgegenhalten: Wir wissen nicht wie's gewesen, wenn's anders gekommen. Doch zuweilen schimmert Lupus' Zorn über die - vormals militanten - Parlamentarier durch, da die Revolte »wirkungslos gemacht« (ibid.: 21) worden sei. Man könnte gar meinen, Tarek Mousli habe den zweiten Verrat begangen, Fischer und Bendit aber den ersten, den »wirklichen«. Nach dem Motto »Wer hat uns verraten? Die grünen Demokraten« zeigt sich manchmal Enttäuschung über jene, die einst Lupus` Gedichte im Pflasterstrand abdruckten. Doch diese Gestalten waren eher lokalhistorische Chefs, - neben vielen, vielen Gruppen und Häuptlingen. Denn, so ist hier anzumerken, bedeutender als Fischer und Bendit waren und sind die Rolling Stones und Herbert Marcuse.

Was dem Buch zu besonderer Aktualität verhilft ist der gegenwärtige Krieg gegen Afghanistan. Es treten ähnliche Akteure in völlig anderen Konstellationen auf: Wieder haben ungelöste Konflikte des Nahen Ostens die schlafenden Metropolen aufgeschreckt, wieder geht es nicht zuletzt ums Öl, das immer noch unweit palästinensischer Flüchtlingslager fließt. Den Zugriff darauf sucht heute politisch ein Außenminister zu sichern, der auch seinerzeit mit der Gewalt hantierte. Viel Schweigen in der Szene: Diesmal zu den allabendlichen Bildern von zerbombten Palästinenserhäusern, überfallenen Flüchtlingslagern und toten Palästinensern wie Israelis. Vor dem Hintergrund der Geschichten, die das Buch erzählt, mag das Schweigen heute verständlicher werden. Bedauerlich ist aber, dass das Gemetzel der israelischen Armee nur bei Zeitungsjournalisten, Radiokommentatoren und EU-Abgeordneten vernehmbaren Widerspruch auslöst, während zugleich das globale Roll-Back im Interesse der US-amerikanischen Ölindustrie fundamentale bürgerliche Rechte aushebelt.

Aus:
Schwarzer Faden Nr. 74 (2/2002)

Gescannt von anarchismus.at


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