Der folgende Beitrag von Peter Bierl erschien am 18. Oktober in der Jungle World Nr. 42/2012 und ist auf der Homepage der Jungle World hier zu finden. Gerhard Hanloser hat in der Grundrisse eine lesenswerte Replik unter dem Titel "Bewegung und Kritik. Zu typisch deutschen Kritikern von Occupy und David Graeber" verfasst.

Peter Bierl - Unpersönliche Arithmetik. Über »Occupy« und die Illusion einer »humanen Ökonomie«

Die Demonstranten in Tunesien, Griechenland und auf dem Tahrir-Platz in Kairo regten Menschen in der ganzen Welt zu ähnlichen Protesten an. Zunächst besetzten Jugendliche in Spanien und Israel im Sommer 2011 öffentliche Plätze und schlugen dort ihre Zelte auf. Der Name »Occupy« leitet sich aus der folgenden Besetzung des Zuccotti-Parks nahe der Wall Street in New York im September ab. Die Protagonisten von »Occupy« stehen in einer anarchistischen Tradition und verzichten bislang im Unterschied zu manchen Globalisierungskritikern und traditionellen Linken auf gemeinsame Forderungskataloge, teilen jedoch mit etlichen von ihnen eine simplifizier­te, für rechte Positionen anschlussfähige Kapitalismuskritik, derzufolge Banker und Spekulanten für die Übel dieser Welt verantwortlich seien. Konformistisch und offen gegenüber rechten Ideologien agieren auch Teile von »Occupy« in Deutschland. Ein Rückblick auf die Entstehungsgeschichte der Bewegung und eine Analyse ihres Verständnisses von Anarchismus, wie es programmatisch von dem in der »Occupy«-Bewegung populären Anthropologen David Graeber formuliert worden ist, macht einige Gründe dafür deutlich.

Aufstand der Mittelschicht

Im Frühjahr 2011 entwickelte sich in Spanien aus dem Protest gegen staatliche Sparpolitik und Sozialabbau die »Bewegung des 15. Mai« (15 M), benannt nach dem Tag, an dem Massendemonstrationen in vielen spanischen Städten stattfanden. Daraus entstand ein großes Camp auf der Puerta del Sol, einem zentralen Platz in Madrid. Die Aktionsform verbreitete sich, nachdem die Polizei das Zeltlager ein erstes Mal geräumt hatte. Im ganzen Land organisierten Menschen weitere Camps, Demonstrationen und Versammlungen in Stadtvierteln. Im Juli begannen die marchas indignadas, die Sternmärsche der sogenannten Empörten nach Madrid unter dem Motto »Es ist keine Krise – es ist das System«. An einem weltweiten Aktionstag am 15. Oktober beteiligten sich in Madrid und Barcelona jeweils eine halbe Million Menschen, es folgten zahlreiche Hausbesetzungen im ganzen Land. Die meisten, die sich daran beteiligten, hatten wenig politische Erfahrung und wahrten Distanz zu etablierten linken Organisationen. Gleichwohl gab es gemeinsame Aktionen der »Bewegung des 15. Mai« mit anarchosyndikalistischen Gewerkschaften, mit der Studenten- und Frauenbewegung sowie zum Schutz von Migranten, etwa gegen Razzien und Passkontrollen.

In Israel wandten sich junge Leute aus der Mittelschicht im Juli 2011 gegen die hohen Mieten, ihnen schlossen sich Menschen verschiedenen Alters an, die gegen die hohen Lebenshaltungskosten protestierten. Sie übernahmen die Protestformen aus Spanien, hielten Versammlungen ab und bauten mehr als 60 Camps, die zum Teil über zwei Monate lang Bestand hatten. Träger der Proteste waren überwiegend säkulare Angehörige der Mittelschicht, aber auch in den Stadtvierteln der Unterschicht entstanden Zeltlager, teilweise beteiligten sich orthodoxe Juden und arabische Israelis.

In den USA dienten neben dem »arabischen Frühling« und den sozialen Kämpfen in Südeuropa die Auseinandersetzungen im Bundesstaat Wisconsin als Vorbild der Proteste. Dort wollte der republikanische Gouverneur Scott Walker die Gewerkschaften aus dem öffentlichen Sektor verbannen. Am 15. Februar 2011 hatte die Lehrergewerkschaft deshalb zum Streik aufgerufen. In der folgenden Nacht wurde das Landesparlament von Studenten und Erziehern besetzt, die wochenlang blieben und von zeitweise mehr als 100 000 Demonstranten unterstützt wurden. In New York führten Proteste gegen Budgetkürzungen der Stadt im Juli zu einem Camp gegenüber dem Rathaus. Ein New Yorker Bündnis gegen Sozialabbau hielt Generalversammlungen ab und plante eine Besetzung der Wall Street, das konsumkritische kanadische Magazin Adbusters veröffentlichte einen Aufruf mit ähnlicher Intention, im August begannen die Vorbereitungen für die Protestaktionen. Am 27. September versuchten etwa 2 000 Demonstranten, das Finanzviertel an der Wall Street zu besetzen, wurden aber von der Polizei abgedrängt und bauten im nahen Zuccotti-Park ein Camp auf. Erst als die Polizei eine Woche später mit Pfefferspray brutal gegen Demonstranten vorging und am 1. Oktober etwa 700 Menschen bei einer Demonstration auf der Brooklyn Bridge festnahm, berichteten die Mainstream-Medien darüber umfassend und mit Sympathie und verhalfen »Occupy« so zu einer unerwarteten weltweiten Resonanz. Sogar Linke aus China solidarisierten sich mit den Rebellen in New York.

Allerdings blieb die »Occupy«-Bewegung weitgehend ein amerikanisches und ein spanisches Phänomen. Größere Demonstrationen fanden am weltweiten Aktionstag am 15. Oktober nur in Portugal statt, geringere Teilnehmerzahlen wurden aus London, Paris und Rom, aus Chile, Südkorea, Brasilien, Australien, Kanada und Neuseeland gemeldet. In verschiedenen deutschen Städten beteiligten sich insgesamt etwa 32 000 Menschen. In Hamburg, Nürnberg und Frankfurt entstanden Camps, Versuche in Berlin und Leipzig wurden sogleich von der Polizei beendet. Die deutschen Aktivisten vor dem Gebäude der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main durften mit Erlaubnis des Ordnungsamtes im Herbst 2011 weiter zelten und ließen sich die Genehmigung alle zwei Wochen verlängern. Die Besetzer hielten alles besenrein, stellten Dixi-Klos auf, wie die Ordnungswächter es wünschten, und freuten sich über die gute Zusammenarbeit mit der Polizei. Bei den »Bloccupy«-Aktionstagen im Mai 2012 in Frankfurt scheiterte das Ziel einer Koordination der Proteste, um die EZB-Baustelle zu besetzen. An den Aktionstagen nahmen 2 500 bis 3 000 Menschen teil, an der Abschlussveranstaltung etwa 30 000, wobei die harte Repression durch den Staatsapparat manche abgeschreckt haben mag.

In den USA räumte die Polizei die Camps im Dezember vergangenen Jahres, die Aktivitäten gingen indes weiter und verbanden sich mit lokalen Kämpfen. »Occupy«-Gruppen wehren sich gegen Zwangsräumungen und Zwangsversteigerungen, besetzten Häuser, was wegen der Obdachlosigkeit infolge der geplatzten Immobilienblase große Bedeutung hat, unterstützen Betriebsbesetzungen, den Kampf für Gewerkschaftsrechte und für die Rechte von Migranten. Bemerkenswert ist das Verhältnis zu den US-Gewerkschaften, die nicht weniger angepasst agieren als der DGB. So protestierten Gewerkschaftsführer in New York gegen die Räumung des Camps, und die Gewerkschaftsbasis freute sich über Solidaritätsaktionen seitens »Occupy« bei Streiks. Andererseits taten sich Differenzen auf, als »Occupy« im Dezember zur Blockade der Häfen an der Westküste aufrief, um Arbeiter im Streit mit Unternehmern zu unterstützen, was viele Gewerkschaften an Ort und Stelle ablehnten. Die gleiche Reaktion erlebten »Occupy«-Gruppen, die am 1. Mai 2012 einen Generalstreik ausrufen wollten, was allerdings auch innerhalb von »Occupy« umstritten war. Neue Platzbesetzungen im Frühjahr waren wenig erfolgreich, die Zahl der Beteiligten gering.

Die soziale Basis von »Occupy« in den USA ist die Mittelschicht, junge Leute, die das College absolviert haben und keine Arbeit finden. David Graeber, der Ethnologie an der Londoner Universität lehrt, mit seiner 2012 auf Deutsch erschienenen Studie »Schulden« zum Theoretiker der neuen Bewegung avancierte und seither auch im bürgerlichen Feuilleton als Mastermind von »Occupy« gilt, beschreibt als entscheidendes Problem dieser Mittelschicht, dass zwar ein höherer Bildungsweg notwendig sei, um einen besser bezahlten Job zu bekommen, man aber am Ende trotzdem als Schuldner dastehe. Zwei Drittel der Studenten in den USA beenden ihr Studium mit Schulden, jungen Amerikanern geht es heute im Schnitt ökonomisch schlech­­ter als ihren Eltern. Insgesamt ist in den USA und in Großbritannien jeder fünfte Jugendliche erwerbslos, in Spanien und Griechenland jeder zweite. Dass es in Deutschland der »Generation Praktikum« noch immer ein wenig besser geht, liegt vor allem daran, dass das deutsche Kapital bislang vom EU-Binnenmarkt profitiert hat. »Occupy« sei also, so bilanziert Graeber, »eine Jugendbewegung mit Blick nach vorn – eine Gruppe von zukunftsorientierten Menschen, denen man Knüppel zwischen die Beine geworfen hat«. Das System der Studienkredite in den USA bringe es mit sich, dass die »angehenden Revolutionäre« die Banken als Hauptfeind betrachteten. Graebers Hauptwerk »Schulden« schmeichelt dieser Klientel insofern, als er darin das System der Schulden und den Kampf dagegen zum Angelpunkt der Menschheitsgeschichte erklärt.

Basisdemokratischer Idealismus

»Occupy« versteht sich als »Bewegung der 99 Prozent«, die gegen das eine Prozent der Reichen kämpfe. Das hat einen wahren Kern insofern, als Statistiken sowohl in den USA als auch in Deutschland und anderswo belegen, dass sich tatsächlich etwa ein Prozent der Bevölkerung einen überproportional großen und weiterhin steigenden Anteil – bis zu einem Viertel – des gesellschaftlichen Reichtums aneignet, während ein wachsender Teil der Bevölkerung verarmt. Von Linken in den USA wird »Occupy« als erste offensive Massenaktion seit den Protesten gegen den Vietnam-Krieg und den Bürgerrechtskämpfen sowie als Gegengewicht zur Tea-Party-Bewegung angesehen. In Umfragen erzielt »Occupy« in den USA eine größere Zustimmung in der Bevölkerung als die neue Rechte.

Charakteristisch für »Occupy« sind öffentliche Versammlungen, die nach dem Konsens­prinzip funktionieren, sie werden von den Teilnehmern auch als regulierende Instanzen einer künftigen Gesellschaft verstanden und propagiert. Die öffentliche Versammlung als Organisationsform einer Bewegung und als Forderung oder Utopie drückt zugleich den Anspruch aus, dass der Weg in eine bessere Gesellschaft bereits das Ziel antizipiere. Die Versammlung als Form direkter Demokratie wird von »Occupy« dem repräsentativen Parlamentarismus entgegengestellt, was durchaus ein emanzipatorisches Moment beinhaltet; im Vergleich mit leninistischen Praktiken sind die Asambleas, wie sie nach dem spanischen Vorbild genannt werden, zumindest sympathischer. Allerdings feiern manche Verfechter die basisdemokratische Form, losgelöst von ihrem sozialen Zusammenhang, wie einen Fetisch.

Facebook und Twitter reichen indes nicht aus, um sich verbindlich zu organisieren, auch öffentliche Versammlungen sind auf Dauer für viele Menschen, etwa diejenigen, die arbeiten müssen, wenig geeignet. Sie privilegieren Teilnehmer, die mehr Zeit haben. Überdies hat »Occupy« inzwischen die aus der Not, nämlich aus dem polizeilichen Verbot von Mikrophonen und Megaphonen in New York geborene Praxis, kurze Reden zu halten und die einzelnen Sätze von Sprechchören wiederholen zu lassen, zu einer fragwürdigen Tugend gemacht. Solche provisorischen Kommunikationsformen sind keineswegs Ausdruck von »Klugheit und Kreativität der Massen«, wie der Ökonom Richard D. Wolff und der Soziologe Jan Rehmann schreiben, sondern vor allem von Naivität und Antiintellektualismus. Die damit zwangslsäufig verbundenen Einschränkungen blockieren tiefergehende Diskussionen und verstärken den Einfluss jener handverlesenen Aktivisten, die Zugang zu den Medien haben und dadurch das Bild der Bewegung und diese selbst beeinflussen.

Sieht man von einigen Sozialökologen in der Tradition des US-amerikanischen libertären Sozialisten Murray Bookchin ab, wird meist ignoriert, dass in solchen Versammlungen unterschiedliche Interessen, Wünsche, Hoffnungen und Ängste aufeinanderprallen, die – wie vermittelt auch immer – durch die Klassenlage und die jeweiligen sozialen Milieus geprägt sind. Es braucht keine empirischen Studien, um sich vorzustellen, dass Beschlüsse je nach sozialer Zusammensetzung völlig unterschiedlich ausfallen können und sich manche Widersprüche nicht einfach auflösen lassen. Am Niedergang der argentinischen Versammlungen, die in der Krise 2001/2002 entstanden, waren keineswegs bloß Polizei und linke Parteien schuld. Die Politik der bürgerlichen Regierung von Néstor Kirchner bremste vielmehr den sozialen Abstieg der Mittelschicht und damit deren Radikalisierung, so dass die Motivation für tiefgreifende Veränderungen schwand. In Griechenland wiederum boten Versammlungen mit Tausenden von Teilnehmern auf städtischen Plätzen auch nationalistischen Agitatoren ein Forum.

David Graeber verteidigt das Konsensprinzip und bestreitet die Notwendigkeit von Mehrheitsentscheidungen. In seinem ebenfalls 2012 erschienen Buch »Inside Occupy« behauptet er, »ländliche Gemeinschaften« würden überall auf der Welt zum Konsensprinzip neigen, und klingt wie ein Unternehmensberater, wenn er verlangt, »Demokratie als gemeinsame Problemlösung unter Menschen mit Respekt für den Umstand zu sehen, dass nicht jeder genau den gleichen Standpunkt vertritt«. Die Konsensfindung ergebe sich ganz zwanglos folgendermaßen: »Man einigt sich zunächst auf ein gemeinsames Selbstverständnis, das heißt ein gemeinsames Ziel. So lässt sich der Entscheidungsprozess als Mittel zur Lösung gemeinsamer Probleme verstehen. Von dieser Warte aus betrachtet können selbst radikal unterschiedliche Perspektiven, die den Prozess durchaus erschweren mögen, auch eine enorme Ressource sein.« Das ist Idealismus pur, weil er von Interessen absieht und alles zur Ansichtssache verniedlicht. Ganz so einfach scheint es sich auch Graeber selbst nicht vorstellen zu können, denn der teilnehmende Beobachter, als der er sich gerne präsentiert, rät dazu, nicht nur Polizisten, Spione, Nazis, sondern auch »Durchgeknallte« und »Spinner«, die die Harmonie stören könnten, »auszusortieren«. Damit gerät er in Widerspruch zu den Prinzipien der direkten Demokratie. So richtig es ist, Nazis auszuschließen – wer beschließt, dass jemand ein Querulant ist, und wie wird verhindert, dass unliebsame Ansichten unterdrückt werden?

In der »Occupy«-Bewegung gibt es durchaus Menschen, die Reformen wie eine allgemeine Krankenkasse, eine Verstaatlichung der Banken oder die Tobin Tax, eine Steuer von höchstens einem Prozent auf internationale Devisengeschäfte, fordern. Kennzeichnend für die Bewegung sind jedoch bislang nicht Forderungen, die auf eine sozialdemokratische Einhegung des Kapitalismus oder einen Green New Deal hinauslaufen, sondern Ansprüche auf Gebrauchswerte. Mit Hilfe einer kommunalen direkten Demokratie sollen die Menschen die Mittel kontrollieren, die sie brauchen, um grundlegende Bedürfnisse wie Essen, Kleidung, Wohnen, Medizin und Erziehung zu befriedigen, fordert etwa der Sozialökologe Charles Imboden. Das entspricht der Idee der Commons, der kollektiven Nutzung von Gütern, anstelle von Ausschluss und Privatisierung, die den Kapitalismus kennzeichnen. Das sind sympathische Ansätze, wenngleich unter dem Label auch allerlei krude Vorstellungen wie Alternativbanken, lokale Währungen und Subsistenzökonomien propagiert werden. Erfreulich ist zumindest, dass Leute wie Graeber das Leistungsethos des Kapitalismus, das Sozialdemokraten und Kommunisten übernahmen, prinzipiell ablehnen. Die Menschheit brauche nicht mehr, sondern weniger Arbeit, schon weil die gegenwärtige Arbeitsmaschine den Planeten unbewohnbar mache, schreibt Graeber.

Tatsächlich bedürfte es aber nicht nur der Überredungskunst, um dieses Ziel durchzusetzen. Das Schlagwort von den »99 Prozent« verstellt den Blick auf eine herrschende Klasse, die neben der Spitzengruppe der Reichen die gesamte Gruppe der Kapitalbesitzer und die Eliten aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik umfasst. Dazu kommt eine obere Mittelschicht aus gut bezahlten Managern, Beamten, Technokraten und Journalisten, kleinen und mittleren Eigentümer von Produktionsmitteln, die von Land zu Land unterschiedlich stark ist, bis hin zu jener Gruppe, die bereits Lenin als Arbeiter­aristokratie beschrieben hat.

Vertreter von »Occupy« vermögen jedoch Ausbeutung und Herrschaft nur in den Kategorien von Übervorteilung und Betrug zu erfassen. So schreibt Graeber, das politische System der USA basiere auf skrupelloser Bereicherung und legalisierter Bestechung, diese seien zum »ontologischen Prinzip« geworden, sogar Polizisten und Journalisten würden von Unternehmen geschmiert. Ähnlich wie viele Globalisierungskritiker suggeriert er damit, es habe eine gute alte Zeit gegeben, in der der Kapitalismus besser, nämlich eine soziale Marktwirtschaft gewesen sei. Schon Naomi Klein rügte in ihrem Bestseller »No Logo«, dass sich »eine wachsende Zahl der bekanntesten und profitabelsten Weltkonzerne ihrer Verantwortung als Arbeitgeber« entziehe. Arbeitsplätze würden »exportiert«, heißt es bei ihr, und »mit dem Verlust der heimischen Arbeitsplätze« sei »etwas ganz anderes gleich mit verloren gegangen: die altmodische Idee, dass ein Hersteller für seine Arbeitskräfte verantwortlich ist«. Für David Graeber scheint dieses goldene Zeitalter die Eisenhower-Ära gewesen zu sein, als Reiche in den USA mit einem Einkommensteuersatz bis zu 91 Prozent zur Kasse gebeten wurden. Seitdem sei »ein anderes Universum« entstanden, in dem der Staat jedem Unternehmen erlaube, im Finanzsektor mitzumischen, Geld durch Kredit zu schöpfen und Unternehmen wie General Motors »fast ihren ganzen Profit mit Zinsen sowie Vorzugszinsen« machen.

Schlechte Banken, gute Banken

Graeber wärmt auf diese Weise die Vorstellung wieder auf, dass die Nationalstaaten von supranationalen Institutionen und anonymen Finanzmärkten entmachtet worden seien. Die Wirtschaftskrise bezeugt aber genau das Gegenteil. Es sind die Nationalstaaten, die mit »Rettungsschirmen« und Konjunkturprogrammen »ihre« Industrie und »ihre« Banken zu schützen suchen. Ähnlich wie Graeber argumentiert Stéphane Hessel, nach dessen 2010 erschienenem Buch »Empört Euch« (»Indignez-vous«) sich die spanischen indignados benannt haben. Für den ehemaligen Résistance-Kämpfer und französischen Sozialdemokraten Hessel ist der Sozialstaat durch »Macht des Geldes«, die Lobbyisten und die internationale »Diktatur der Finanzmärkte« bedroht.

Solche Vorstellungen finden sich auch an der gesellschaftlichen Basis. Auf der Homepage von »Occupy Deutschland« ist zu lesen, »wir alle« seien »besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich um uns herum präsentiert, die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- und sprachlos«. Als Ursachen der Wirtschaftskrise werden hier »Gier nach Macht«, das »veraltete und unnatür­liche (!) Wirtschaftsmodell« sowie eine »Anhäufung von Geld« ausgemacht, die nicht »auf die Wirtschaftlichkeit oder den Wohlstand der Gesellschaft« Rücksicht nehme. Dass die Akkumulation von Kapital auch dann noch der Zweck und Selbstzweck ist, wenn alles in Scherben fällt, begreifen »Occupy«-Aktivisten so wenig wie ihre globalisierungskritischen Vorgänger. »Occupy« setzt damit eine schlechte Tradition fort, die sich bis zum Marxismus des späten 19. Jahrhunderts und zum Anarchismus Proudhonscher Prägung zurückverfolgen lässt. Subcomandante Marcos, die Ikone der Zapatisten, behauptete, die großen Finanzzentren führten einen »vierten Weltkrieg«, zu dessen ersten Opfern die Nationen gehörten. Ignacio Ramonet, Gründer von Attac und Herausgeber von Le Monde Diplomatique, erklärte, die Finanzmärkte hätten »längst einen eigenen Staat geschaffen, einen supranationalen Staat, der über eigene Apparate, eigene Beziehungsgeflechte und eigene Handlungsmöglichkeiten verfügt«. In der Erklärung des ersten Weltsozialforums von 2001 heißt es: »Die Finanzmärkte (…) unterwerfen die nationalen Ökonomien den Winkelzügen der Spekulation.« Der Schweizer Soziologe und ehemalige sozialdemokratische Abgeordnete Jean Ziegler schreibt: »Wir leben in einer Welt des Schreckens, gemacht und beherrscht von einer Horde wild wütender Spekulanten.«

Bei ihnen allen dominiert die falsche Vorstellung von einem Gegensatz zwischen Finanz­kapital und »Realwirtschaft« – in den USA verkörpert im Gegensatz zwischen Wall Street und Main Street –, dabei sind Industrie, Handel, Banken und Börsen gleichermaßen unabdingbare Bestandteile der kapitalistischen Produktionsweise. Ausbeutung findet in der Produktion statt, es sind die Arbeiterinnen und Arbeiter, die jenen Mehrwert produzieren, den sich unterschiedliche Kapitalisten in verschiedenen Formen und unter Titeln wie Dividende, Rendite, Kursgewinn oder Zins aneignen. Der regressive Antikapitalismus der Finanzmarktkritiker konkretisiert sich darin, dass die symbolträchtigsten Camps im Frankfurter Bankenviertel oder an der Wall Street errichtet worden sind. Um sich davon abzugrenzen, sollten intelligente Linke künftig eigentlich nur noch dann vor Banken demonstrieren, wenn Bankangestellte für mehr Lohn oder gegen Arbeitshetze streiken. Die sogenannte Banken-Gruppe von »Occupy Wall Street« schlägt indes eine »alternative Bank« vor, die Profit nur zum Wohle ihrer Kunden oder gar nicht mehr erzielen darf, gleiche Löhne an alle Mitarbeiter zahlt, den Armen offensteht, riskante Deals meidet, alle Geschäftsdaten veröffentlicht, zinsfreie Kredite vergibt und überhaupt nur dem Ziel dient, das knappe Gut Geld allen zugänglich zu machen. Das historische Scheitern solcher »Arbeitsbanken«, wie sie im 19. Jahrhundert Robert Owen und Pierre-Joseph Proudhon konzipierten, von Gewerkschafts- und Alternativbanken oder dem Mikrokredit-System, das in Indien Frauen in den Ruin und zum Selbstmord treibt, wird von ihren Propagandisten ignoriert.

»Occupy« übernimmt also Deutungen, wie sie auch die Mainstream-Medien verbreiten, die wiederum für verschwörungstheoretische und antisemitischen Diskurse durchaus anschlussfähig sind. In Österreich und Deutschland mischen Vertreter der Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell und der esoterisch-verschwörungstheoretischen »Zeitgeist«-Bewegung mit. In Berlin trat Bastian Menningen von »Occupy Berlin« bei einer Veranstaltung gemeinsam mit Jürgen Elsässer, der mittlerweile für ein Bündnis von »Occupy« mit der Tea-Party-Bewegung plädiert, mit Karl Feldmayer, dem Autor der rechtsradikalen Wochenzeitung Junge Freiheit, und mit Oliver Janich auf, dem Vorsitzenden der sich selbst als »libertär« bezeichnenden »Partei der Vernunft«. Janich beruft sich auf den libertären Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, Ron Paul, und auf die Tea Party, fordert den Ausstieg Deutschlands aus dem Euro und tritt für eine »unabhängige« Untersuchung der islamistischen Terrorattentate von 9/11 ein.

Auch David Graeber verstellt sich in seinem allerorts hochgelobten Buch »Schulden« eine stringente Gesellschaftskritik schon im Ansatz, insofern er die Marxsche Werttheorie verwirft. Die Idee des Kommunismus verflacht er zu einer anthropologischen Konstante menschlichen Miteinanders. Er bastelt aus Anekdoten und historischen Episoden eine große Erzählung, wonach sich seit jeher »humane« und »kommerzielle« Ökonomien gegenüberstehen. Eine humane Ökonomie zeichne sich durch direkte Tausch- und Kreditbeziehungen auf Vertrauensbasis in lokalen Gemeinschaften aus, die allenfalls »soziale Währungen« wie Kaurimuscheln benutzen. Dagegen entsprächen kommerzielle Ökonomien städtischen Zivilisationen. Metallgeld regiere diese Welt, das Miteinander sei durch anonyme Beziehungen geprägt.

Muscheln und Moral

Graeber pflegt jenen Kulturrelativismus, auf dessen Grundlage ein bundesdeutsches Gericht vor Jahren entschied, Folter sei ein Element der türkischen Kultur und damit kein Asylgrund. So wertet er den in einigen archaischen Stammesgesellschaften üblichen Frauenkauf gegen Kaurimuscheln nicht als Kauf, sondern affirmativ als »Regulierung«, denn durch die folgende Heirat übernehme der Mann genauso viel Verantwortung wie die Frau. Die Kaurimuschel symbolisiere in einer »humanen Ökonomie«, dass eine Schuld bestehe, die man nicht bezahlen könne, weil jeder Mensch einzigartig und unbezahlbar sei. Darum könne man mit Geld »nicht wirklich die Rechte an einer Frau erwerben«. Der Mann kaufe also nicht die Frau, sondern das Recht, ihre Nachkommen als seine Kinder zu bezeichnen. Der Anthropologe Graeber unterschlägt so den Patriarchalismus solcher Gesellschaften: Männer handeln mit Frauen wie mit Vieh. Der Ehemann kauft vom Vater ein sprechendes Werkzeug, eine Gebärmaschine und ein Sexualobjekt.

Solche »Regulierungen« aber, meint Graeber, würden durch Geld und in Geld ausgedrückte Schulden korrumpiert. Unser Gefühl für Moral und Gerechtigkeit werde auf die Sprache des Geschäfts, die moralische Verpflichtung gegenüber Mitmenschen auf Schulden reduziert. Moral verwandele sich in eine »unpersönliche Arithmetik«, so dass Menschen sich plötzlich schlimme Dinge antäten, wie etwa die Sklaverei. Graeber blendet aus, dass auch nicht quantifizierbare, nicht in Geld ausgedrückte Verpflichtungen auf Gewalt beruhen können und um­gekehrt eine in Geld ausgedrückte Verpflichtung angenehmer sein kann, gerade weil sie quanti­fiziert, also auch begrenzt ist.

Keineswegs will Graeber das Geld abschaffen. Er kritisiert nur vom Staat ausgegebenes Geld, vorzugsweise in Gold und Silber gemünzt, aber auch Papiergeld. Der Sündenfall trete in dem historischen Moment ein, in dem Staaten stehende Heere aufstellen und besolden, meint er. Gold und Silber seien verwendet worden, weil sie leichter zu transportieren seien und ihre Akzeptanz im Gegensatz zum Kredit nicht auf Vertrauen beruhe: Münzgeld sei ideal für durchziehende Soldaten und die Händler gewesen, die sie versorgten. Die Sklaverei sei eingeführt worden, um in den Minen Gold und Silber ausgraben zu lassen. Graeber spricht von einem »Militär-Münzgeld-Sklaverei-Komplex« in Anlehnung an den »militärisch-industriellen Komplex«, den Eisenhower in seiner Abschiedsrede 1961 prägte, um vor einer engen Verflechtung von Militär, Politik und Rüstungsindustrie zu warnen.

Für einen Anarchisten mag der Gedanke naheliegen, dass der Staat das Geld erfunden hat. Originell ist die Idee aber nicht. Sie geht auf den Ökonomen Georg Friedrich Knapp (1842–1926) zurück. Der hielt das Geld und seinen Wert für ein Produkt staatlicher Rechtssetzung. Darum könne der Staat genauso gut Papiergeld ausgeben, argumentierte Knapp. Der deutschnationale Professor wollte damit den Goldstandard des britischen Empire schwächen. Seine Theorie war spätestens erledigt, als nach dem Ersten Weltkrieg eine heftige Inflation einsetzte, die demonstrierte, dass der Staat keineswegs den Wert des Geldes bestimmte. Der australische linke Ökonom Mike Beggs hat darauf hingewiesen, dass Geldeinheiten eben nicht, wie Graeber meint, Maßeinheiten wie Stunden oder Kubikmeter sind. Der Staat kann beliebig Geld herstellen, aber nicht dessen Wert bestimmen. Dieser ergibt sich aus einer Unzahl von unabhängigen, wenngleich miteinander verbunden Entscheidungen in einem unüberschaubaren, dezentralen Konkurrenzsystem.

Statt sich jedoch mit Produktions- und Klassenverhältnissen auseinanderzusetzen, ent­wickelt Graeber eine Epochenfolge, die Kontinente und Jahrhunderte übergreift. Demnach wechseln Phasen, in denen Edelmetalle als Geld dienen, Krieg und Gewalt herrschen und das Denken durch materialistische Philosophien bestimmt wird, mit Phasen des Friedens, die geprägt sind von virtuellem Kreditgeld wie Kerbhölzern, von starker Religiosität und dörflichen Hierarchien. Vor etwa 3 500 Jahren begann Graeber zufolge der Aufstieg der ersten Impe­rien mit Münzgeld, gefolgt von einem gewaltfreien Mittelalter mit staatsfreier Marktwirtschaft ohne Gold- und Silbermünzen, das gierige Banker und skrupellose Konquistadoren im 15. Jahrhundert beendeten, um eine neue Geldherrschaft aufzurichten. Das kommende Zeitalter des Friedens leitete dann US-Präsident Richard Nixon ein, als er 1971 die Konvertibilität des Dollar in Gold aufhob. Den leibeigenen Bauern im mittelalterlichen Europa und den »Unberührbaren« in Indien sei es viel besser gegangen als den antiken Sklaven, weil sie bloß ein paar Adelige durchfüttern mussten statt Millionen von Städtern. Zustimmend referiert Graeber den französischen Anthropologen Louis Dumont, der behauptet hat, man könne beim Kastensystem gar nicht von Ungleichheit sprechen, denn damit drücke man ja die Idee aus, alle sollten gleich sein, diese Vorstellung existiere aber im Hinduismus nicht. Den Hinduismus als reaktionäre Legitimationsideologie zu kritisieren, kommt ihm nicht in den Sinn.

So springt Graeber zwischen Zeiten und Kontinenten hin und her, wie es gerade in sein Schema passt. Will er belegen, dass es leibeigenen Bauern gut ging, weil sie keine Städter versorgen mussten, verweist er auf das dünnbesiedelte Europa. Will er uns weismachen, es sei absolut friedlich zugegangen im Mittelalter, erklärt er Europa und die unendlichen Fehden der Adeligen für irrelevant. Auch mit historischen Fakten geht er entspannt um: Der schwarze Tod brach in Europa nicht, passend zu Graebers Weltenplan, Mitte des 15. Jahrhunderts aus, sondern gut 100 Jahre früher. Besonders problematisch sind Graebers Hymnen auf eine staatsfreie, nicht-kapitalistische Marktwirtschaft. Diese Vorstellung steht in der Tradition von Proudhon und Gesell, explizit nennt Graeber den französischen Historiker Ferdinand Braudel, der behauptet hat, eine Marktwirtschaft diene lediglich dazu, Güter auszutauschen, Kapitalismus sei hingegen ganz etwas anderes. Dass Marktwirtschaft und Kapitalismus »zwei verschiedene Dinge« seien, betont auch Graeber mehrfach, nur letzterer beruhe auf Monopol, Betrug, Wucher, Zinserpressung und leistungslosem Einkommen.

Konstitutiv für den Kapitalismus, so Graeber, sei der Zins. Luther und Calvin hätten das Zinsverbot aufgeweicht, so dass »die Vermehrung des Geldes (…) nicht mehr als unnatürlich betrachtet (wurde), sondern (…) im Gegenteil zu etwas Folgerichtigem geworden (war)«. Indem Graeber nicht begreift, dass der Zins Teil des Profits, des Mehrwerts ist, der im Produktionsprozess entsteht, schlägt er sich auf Seiten jener, über die Marx spottete, sie glaubten, dass sich Geld selbst vermehre, wie der Birnbaum Birnen trage. Prototypen des zinsheckenden Schuldenkapitalismus sind für Graeber die Konquistadoren und die Banker. Ausschlaggebend sei die Gier der Konquistadoren gewesen, die »apokalyptische Dimensionen annahm«, gespeist aus Scham und Empörung darüber, dass sie so hoch verschuldet waren. Das Bündnis zwischen verschuldeten Eroberern und berechnenden Finanzmännern sei »das Kernstück dessen, was wir heute als Kapitalismus bezeichnen«. Was die Reformation antrieb oder die iberischen Monarchien veranlasste, ausgerechnet im 15. Jahrhunderts viel Geld zu investieren, um neue direkte Wege nach Asien zu suchen und zu sichern, interessiert ihn nicht.

Islamische Vertrauensökonomie

Dagegen preist er das kaiserliche China und die islamischen Reiche des Mittelalters, die die freie Marktwirtschaft ohne Zins und rücksichtlosen Wettbewerb verwirklicht hätten. China sei »während der meisten Zeit seiner Geschichte ein marktwirtschaftliches und entschieden antikapitalistisches Land gewesen«. Die konfuzianischen Beamten hätten die Märkte gefördert und für einen beispiellosen Aufschwung und höheren Lebensstandard als anderswo gesorgt, seien aber misstrauisch gegenüber Gewinnstreben geblieben. Gewinn sei den Konfuzianern nur legitim erschienen als Entschädigung für eigene Arbeit. Scharf habe der chinesische Staat die buddhistischen Klöster attackiert, die Kapital durch Spenden und den Verleih von Geld gegen Zinsen akkumulierten und zu den »ersten echten Einrichtungen des konzentrierten Finanzkapitals« wurden. In der klassischen Epoche des Islam sei der wahrhaft freie Markt verwirklicht worden, weil keine Zinsen verlangt wurden und der Staat sich von der Wirtschaft fernhielt, schreibt Grae­ber. Während er wie die deutschen Völkischen vor 100 Jahren das römische Recht kritisiert, das angeblich das christliche Zinsverbot untergraben, die menschliche Gemeinschaft aufgelöst und alles und alle zu Waren degradiert habe, lobt er das islamische Recht, weil es verbiete, Menschen wegen Schulden, durch Verschleppung oder als Strafe zu versklaven: Das Verbot von »Zinswucher« sei im Islam »gewissenhaft durchgesetzt« worden. Dadurch habe sich ein Markt etabliert, befreit von den »Geißeln der Verschuldung und der Sklaverei«. Dieser Markt sei »der höchste Ausdruck der menschlichen Freiheit und der Solidarität in der Gemeinschaft«.

Tatsächlich vegetierten die meisten chinesischen Bauern am Rande des Existenzminimums, ausgebeutet von Klöstern, Großgrundbesitzern, Beamten und Staat, so dass sie immer wieder rebellierten. Handwerker und Kaufleute wurden streng kontrolliert. Die Kalifen prägten Gold- und Silbermünzen, um ihre Armeen zu bezahlen. Die islamischen Staaten entsprachen also ziemlich gut Graebers »Militär-Münzgeld-Sklaverei-Komplex«, wie er selbst einräumt. Sie waren auf militärische Expansion getrimmt, zerfleischten sich in internen Machtkämpfen und Massakern und wurden von Metropolen wie Bagdad und Damaskus aus gelenkt. Muslime kon­trollierten den Sklavenhandel im Bereich des indischen Ozeans ein Jahrtausend lang, bis ins 20. Jahrhundert wurden Schwarze als Sklaven verschleppt und ausgebeutet. Das Zinsverbot wird im Islam wie im christlichen Abendland durch Tricks umgangen, indem man überhöhte Preise oder Gebühren kassiert.

Staatliches Eingreifen in die Wirtschaft sei im Islam verpönt, schreibt Graeber, weil schon Mohammed Preissenkungen selbst bei Lebensmittelknappheit ablehnte. Der Prophet habe argumentiert, die Preise auf dem freien Markt wären vom Willen Gottes abhängig. Zwar bemerkt Grae­ber hier eine Ähnlichkeit mit Adam Smiths Vorstellung von der unsichtbaren Hand, gelangt aber zu dem Ergebnis: »Der Markt entspringt nicht nur dem grundlegenden Kommunismus, auf dem letzten Endes jede Gesellschaft beruhen muss, sondern er ist eine Erweiterung dieses Kommunismus.« Löse man die Märkte von ihren »gewalttätigen Wurzeln«, würden sie sich »in Netzwerke von Vertrauensbeziehungen« verwandeln, »die auf Ehrgefühl und gegenseitiger Bindung beruhen«. Von der Kommunistin Sahra Wagenknecht unterscheidet ihn bloß, dass er nicht auch noch Ludwig Erhard zustimmend zitiert. Trotzdem hat Graeber sich mit »Schulden« das Lob von Frank Schirrmacher (»ein herrliches und hilfreiches Buch«) redlich verdient. Besser als manche linken Leser und Rezensenten hat der Feuilletonchef der FAZ erkannt, dass Graeber uns den Blick dafür öffnen will, »dass es alternative marktwirtschaftliche Gesellschaften geben kann, die funktionsfähig sein können, ohne klassenkämpferisch zu sein«.

Dass die »Occupy«-Bewegung, zu deren Stichwortgebern Graeber zählt, aus Leuten besteht, die sich allen Zumutungen gefügt haben, aber um ihren Lohn gebracht wurden, ist kein Grund für Häme. Jede Veränderung beginnt damit, dass Menschen sich an der Diskrepanz zwischen Verheißung und Wirklichkeit stoßen. Wie sie dann aber die gesellschaftlichen Widersprüche wahrnehmen und damit umgehen, hängt auch von den Erklärungen ab, die sie vorfinden. An diesem Punkt beginnt die Aufgabe einer modernen, antiautoritären radikalen Linken. Ob sie allzu viel von Graeber lernen kann, muss bezweifelt werden.

Von Peter Bierl ist soeben im Konkret-Verlag das Buch »Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn – Kapitalismuskritik von rechts: Der Fall Silvio Gesell« erschienen.


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