Im Vorfeld des anarchistischen Kongresses 2012 in St. Imier erschien im Online-Standard folgendes Interview mit Gabriel Kuhn, das umfangreiche Diskussionen in den Kommentarspalten auslöste....
derStandard.at: Herr Kuhn, erklären Sie doch bitte die Nachteile des Anarchismus.
Kuhn: Der größte Nachteil ist, dass sich Anarchismus nur sehr schwer in die Praxis umsetzen lässt. Die Idee selbst ist wunderbar, dass Menschen herrschaftsfrei, gerecht und solidarisch leben sollen. Das spaltet sich allerdings an gewissen Realitäten, und der Anarchismus hat darauf bis heute nicht die richtigen Antworten parat, sonst wäre er auch stärker.
derStandard.at: Wo liegen da genau die Probleme?
Kuhn: Dazu gibt es unterschiedliche Deutungen. Manche sagen, dass das anarchistische Denken nicht vereinbar ist mit dem menschlichen Trieb, dass Individuen nur dann etwas leisten, wenn sie einen persönlichen Nutzen daraus ziehen können. Andere, so wie ich, sind der Meinung, dass das nicht triebgesteuert ist, sondern durch die Sozialisation in den herrschenden politischen Systemen entsteht. In jedem Fall ist das so stark internalisiert, dass es schwer für uns ist, Alternativen zu entwickeln.
Daher finden sich auch Beispiele für funktionierenden Anarchismus am ehesten in kleinen Gruppen, in freundschaftlichen oder familiären Kreisen. Je größer und komplexer die Gruppe wird, desto schwieriger ist es, die Ideale umzusetzen.
derStandard.at: Es werden sicher Lösungsansätze in der anarchistischen Bewegung diskutiert.
Kuhn: Es fängt schon einmal damit an, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, was der Anarchismus leisten kann. Einige würden aus dem, was ich jetzt gesagt habe, die Konsequenz ziehen, dass eine anarchistische Gesellschaft unrealistisch ist. Man kann sie aber als Utopie weiterleben und sich von ihr motivieren lassen. Dann will man im kleinen Rahmen zu einer etwas besseren Welt beitragen.
So konzentrieren sich heute einige Anarchisten auf Bewegungen, die anarchistische Züge tragen, sich aber nicht unbedingt anarchistisch nennen: Ökologie-, Tierschutz- oder auch die Occupy-Bewegungen, vor allem in den USA.
Ein anderes Lager hingegen hält an dem Ziel einer anarchistischen Gesellschaft fest. Dort wird dann über den Aufbau von anarchistischen Massenorganisationen diskutiert, was heutzutage leicht lächerlich wirken kann. Es gibt nichts, was nur in die Nähe einer anarchistischen Massenorganisation kommt. Gleichzeitig gibt es aber einige historische Beispiele, vor allem wenn man den Syndikalismus betrachtet, der ja sehr eng mit dem Anarchismus verbunden ist. Da gab es vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Organisationen.
derStandard.at: Anarchistische Bewegungen, die unter einem anderen Etikett agieren: Wäre das eine Lösung? Schließlich ist der Begriff "Anarchismus" doch sehr negativ behaftet.
Kuhn: Da sind einige in der Bewegung dafür, weil sie auch der Meinung sind, dass der Begriff historisch belastet ist. Man stellt sich da gerne Chaoten, Unruhestifter oder gar Terroristen vor. Auf das Etikett zu verzichten hat also seine Vorteile, das Problem dabei ist nur: Wenn man sich in der Geschichte größere Bewegungen ansieht, dann war das immer mit Etikettierungen verbunden. Beim Kommunismus war es sehr wichtig, dass es ein gemeinsames Label und dadurch gemeinsame Bezugspunkte gab. Verzichtet man also auf den Begriff, dann ist es schwierig, aus einzelnen Gruppen eine gemeinsame, starke Bewegung zu bilden. Zudem verzichtet man auch auf eine gemeinsame Geschichte.
Aber auch hier ist es wieder eine Frage der Zielsetzung: Will man im Kleinen etwas verändern oder doch im Großen?
derStandard.at: Auf welcher Seite stehen Sie da?
Kuhn: Ich stehe irgendwo in der Mitte. Ich kann die Argumente beider Seiten gut nachvollziehen. Etikettierungen sind auch für mich nicht so wichtig, gleichzeitig gibt man aber sehr viel damit auf.
Natürlich können wir uns jetzt hinstellen und sagen, dass wir gegen Staatsgewalt und Kapitalismus nicht viel tun können und dass unser Ziel nur darin besteht, die negativen Auswirkungen ein bisschen einzudämmen. Wir können dazu beitragen, dass es mehr soziale Gerechtigkeit gibt, weniger Umweltzerstörung, mehr sexuelle Freiheit oder alternative Familienmodelle. Das ist alles schön und gut, aber gleichzeitig ist es ein großer Schritt, den Traum von einer anarchistischen Gesellschaft aufzugeben.
derStandard.at: Zu diesen Diskussionen passt, dass das berühmte Anarchozeichen, das eingekreiste A, auch nicht von allen Anarchisten anerkannt wird.
Kuhn: Ja. Einerseits ist es das bekannteste Symbol für den Anarchismus, andererseits wird es von Modemarken, Fußballfans und Musikgruppen verwendet. Das ist einigen dann zu modisch. Mich persönlich stört es nicht, ich habe aber keine T-Shirts mit dem Symbol.
derStandard.at: Ich gehe einmal davon aus, dass diese Diskussionen auch das Treffen in Saint-Imier bestimmen werden.
Kuhn: Sicher. Und die Diskussionen werden besonders spannend sein, weil es sich um die größte Zusammenkunft von Anarchisten in den letzten 20 Jahren handelt. Außerdem werden Leute aus vielen verschiedenen Ländern aufeinandertreffen, deren anarchistische Bewegungen zum Teil recht unterschiedlich sind.
derStandard.at: Welche Unterschiede gibt es denn zwischen den anarchistischen Bewegungen aus den verschiedenen Regionen?
Kuhn: Wenn wir uns an Europa halten und ganz grob sprechen, so gibt es in den romanischen Ländern eine starke anarcho-kommunistische Tradition. Das heißt, der Organisierungsgedanke ist sehr ausgeprägt, und Anarchismus ist eng mit Klassenkampf und der ökonomischen Frage verbunden.
In Nordeuropa spielen neuere Strömungen mit einer Verankerung im Punk und anderen Subkulturen eine stärkere Rolle. Es stehen oft Hausbesetzungen, Geschlechterfragen oder Veganismus im Zentrum. Das wird von Kritikern gerne als Lifestyle-Anarchismus bezeichnet.
In Osteuropa ist der Anarchismus erst in den 1990er Jahren wieder aufgekommen, nach dem Zerfall des Staatssozialismus. Es gibt oft eine klare Distanzierung zur Linken, und der Antifaschismus ist sehr wichtig.
derStandard.at: Wie sieht die Bewegung in Österreich aus?
Kuhn: Weder wahnsinnig toll noch wahnsinnig schlecht. Ich würde sagen, es ist westeuropäischer Durchschnitt, eine marginale Bewegung, die aber gut etabliert und gefestigt ist. Die neue Anarchistische Bibliothek in Wien ist zum Beispiel ausgezeichnet. Es werden auch immer wieder anarchistische Sommerlager veranstaltet.
derStandard.at: Welche Rolle spielen Sie in der anarchistischen Bewegung?
Kuhn: Ich bin einerseits stark in den aktivistischen Kreisen verankert, andererseits forsche ich gerne und versuche, mit meinen Büchern Hintergrundwissen zu liefern.
derStandard.at: Was würden Sie als größten Erfolg der anarchistischen Bewegung bezeichnen?
Kuhn: Der Spanische Bürgerkrieg wäre hier die Standardantwort, aber es gibt auch andere Beispiele. Wenn man sich etwa die Hardcore-Punk-Bewegung ansieht mit dem Do-it-yourself-Prinzip, dann ist das schon beeindruckend: Da gibt es weltweit aufgebaute Strukturen und Netzwerken, die Bands für Tourneen nutzen können, in denen Platten und Publikationen vertrieben werden und in denen man sich mit sehr geringen Mitteln bewegen kann und immer Unterstützung findet. Egal ob Leute hier das anarchistische Etikett verwenden oder nicht, ist das eines der besten Beispiele von Anarchismus in der Praxis.
derStandard.at: Und die größte Niederlage?
Kuhn: Auch hier fällt einem als Erstes der Spanische Bürgerkrieg ein, weil es dort tatsächlich die historische Möglichkeit gab, eine anarchistische Gesellschaft in größerem Rahmen zu schaffen. Und die wurde verpasst. Wobei man das den Anarchisten kaum zum Vorwurf machen kann. Sie waren harten Angriffen ihrer Gegner ausgesetzt.
derStandard.at: Wie sind Sie zum Anarchismus gekommen?
Kuhn: Im Gymnasium in Kufstein, Ende der 1980er Jahre. Als ich begann, mich für Politik zu interessieren, gab es von Anfang an ein antiautoritäres Element, weil ich in der Schule immer wieder disziplinäre Probleme hatte. Gleichzeitig gab es einen Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit. Kinder aus sozial besser gestellten Elternhäusern hatten es einfacher, das war augenscheinlich.
Als ich mich dann in der politischen Landschaft umsah und die anarchistischen Ideen entdeckte, dachte ich mir: "Das ist es doch."
derStandard.at: Wie hat das Umfeld reagiert?
Kuhn: Mein Elternhaus ist liberal, das war kein Problem. In der Schule habe ich das mit zwei, drei anderen offensiv vertreten. Natürlich wurde das kritisiert, aber ich kann jetzt nicht sagen, dass da eine Repressionswelle über uns hereingebrochen wäre. Aber wir haben uns auch anständig gewehrt.
derStandard.at: Denkt man an Anarchismus, muss man automatisch auch an Terrorismus denken. Vor ein paar Wochen hat zum Beispiel die italienische Anarchistengruppe FAI mit einem Anschlag auf Regierungschef Mario Monti gedroht.
Kuhn: Der aktuelle Ruf des Anarchismus ist immer noch stark von den Anschlägen auf Regierungsvertreter bestimmt, zu denen es Anfang des 20. Jahrhunderts kam. Wie ernst solche Drohungen heute zu nehmen sind, ist eine andere Frage, vor allem in Italien. Dass es immer wieder Anarchisten gegeben hat, die Gewalt anwenden, lässt sich nicht leugnen, aber es war stets eine kleine Minderheit.
Das öffentliche Bild des Anarchismus beruht großteils auf Unwissen, viele kennen die Bewegung ja gar nicht.
derStandard.at: Was kann man dagegen unternehmen?
Kuhn: Man muss versuchen, dieses Bild so weit wie möglich zu korrigieren. Dafür muss man sich aber auch aus der eigenen Szene herausbewegen, was nicht alle Anarchisten wollen. So wird von manchen jeder Kontakt mit bürgerlichen Medien abgelehnt. Oder auch mit Universitäten: Wenn es dort einen Anarchismus-Kurs gibt, dann ist das scheiße, weil die Uni scheiße ist.
Ich verstehe diese Argumente, glaube aber gleichzeitig, dass auch Anarchismus öffentlich diskutiert werden muss. Zumindest sollte die Geschichte richtig dargestellt werden. So haben sich 99 Prozent der Menschen, die sich als Anarchisten verstehen, noch nie an gewalttätigen Aktionen beteiligt und auch noch nie eine Fensterscheibe eingeschlagen. Der Großteil pflegt Gemeinschaftsgärten und hilft alten Leuten über die Straße.
derStandard.at: Diese Vorstellung, komplett im Untergrund zu leben, hat natürlich etwas Rebellisch-Revolutionär-Romantisches an sich. Einfach aussteigen aus dem System.
Kuhn: Man will im kleinen Rahmen seine ideale Welt konstruieren. Leider funktioniert das natürlich nie ganz. Auch im Untergrund werden Computer und Musikinstrumente verwendet, die von multinationalen Konzernen kommen. Eine totale Reinheit gibt es nicht. Der Versuch ist trotzdem sympathisch. Außerdem hilft er dabei, eigene Strukturen aufzubauen.
Das größere Problem liegt für mich eher darin, dass man sich selbst zur Marginalität verurteilt, wenn man sich nur auf die eigene Szene konzentriert. Wenn man auf der Basis anarchistischer Ideen gesellschaftlich wirksam sein will, dann muss man auch gesellschaftlich präsent sein. Das heißt aber nicht, dass man nicht gewisse Grenzen ziehen soll. Ich würde ja auch nicht jedem ein Interview geben.
derStandard.at: Wie kann man sich eine anarchistische Gesellschaft vorstellen?
Kuhn: Da gibt es unzählige Ideen und das Ganze ist sehr spekulativ. Für mich gäbe es im Alltag keine allzu großen Veränderungen. Es gibt Städte, Dörfer, Menschen gehen ihren Tätigkeiten nach. Es würde aber bedeutend mehr aktive Demokratie geben, alle würden den Arbeitsplatz und den Wohnort mitgestalten. Das heißt nicht, dass jeder jeden gern hat und alle alles gemeinsam machen. Aber dass es im unmittelbaren Umfeld, etwa in der Nachbarschaft, zu einem permanenten Austausch kommt.
In ökonomischer Hinsicht sollte das primäre Prinzip Solidarität und nicht Konkurrenz sein. Wenn etwas produziert wird: Welche Grundbedürfnisse haben wir? Wie befriedigen wir sie, wie verteilen wir die Produkte? Hier müssen andere Prioritäten gesetzt werden. Dass es heute Armut gibt, ist ja absurd.
derStandard.at: Soll es am Arbeitsplatz eine Hierarchie geben?
Kuhn: Es würde eine Verteilung unterschiedlicher Aufgaben geben, aber keine Hierarchie und keine Einkommensunterschiede.
derStandard.at: Wie soll aktive Demokratie in strafrechtlichen Fragen aussehen? Soll es eine Judikative und eine Exekutive geben, oder soll auch da alles frei von Hierarchie sein?
Kuhn: Auch hier können Aufgaben verteilt und Regeln etabliert werden, aber auch das muss auf gemeinschaftlicher Grundlage geschehen. Juristische Eliten würde es nicht geben.
Außerdem gäbe es weniger Formalität und mehr Flexibilität. Das ist auch nicht völlig abstrakt, man kann sich etwa an Prinzipien der sogenannten Restorative Justice orientieren. Da wird auf die spezifische Situation der Opfer und Täter eingegangen und das soziale Umfeld direkt involviert. So geht man auf konkrete Fälle ein, anstatt einfach ein Buch aufzuschlagen und danach zu urteilen.
derStandard.at: Kann man vom Verfassen anarchistischer Bücher leben?
Kuhn: Nein, allein davon nicht. Wenn man das aber kombiniert mit Übersetzungen, Vorträgen, Zeitungsartikeln und der Bereitschaft, mit ein paar hundert Euro im Monat auszukommen, dann geht das. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 7.8.2012)
Gabriel Kuhn, geboren 1972 in Innsbruck, ist seit Ende der 1980er Jahre in der anarchistischen Bewegung aktiv. Nach dem Abschluss eines Philosophiestudiums und langjährigen Reisen lebt er heute als Autor und Übersetzer in Stockholm, wo er unter anderem die anarchistische Buchmesse mitorganisiert. Kuhn hat mehrere Bücher zum Anarchismus veröffentlicht, darunter "Neuer Anarchismus in den USA: Seattle und die Folgen" und "Vielfalt, Bewegung, Widerstand: Texte zum Anarchismus". Neben anarchistischen Archiven sucht er gerne Sportplätze und Punkkonzerte auf.