V-Leute und "Verräter". Die Unterwanderung kommunistischer Widerstandsgruppen durch Konfidenten der Wiener Gestapo
Der systematische und nicht bloß punktuelle Einsatz Hunderter (in Österreich "Konfidenten" genannter) V-Leute, die teils freiwillig für die Gestapo tätig wurden, teils durch physischen oder psychischen Zwang in deren Dienst gepreßt wurden, hinterließ tiefe Lücken in den Reihen des organisierten politischen Widerstandes in Österreich. Von dieser Infiltration waren die illegale Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) und der Kommunistische Jugendverband (KJV) in besonders starkem Maße betroffen, doch blieben auch bürgerlich-konservative, katholische, legitimistische und sozialistische Widerstandskreise nicht von dem Eindringen der V-Leute verschont, denen es mitunter gelang, führende Positionen in den von ihnen unterwanderten Organisationen und Widerstandsnetzen zu erlangen. Trotz der (zumindest partiellen) Kenntnis dieser Umstände bildete jener Komplex für Jahrzehnte einen "weißen Fleck" auf der historiographischen Landkarte. Soweit es sich um KP-nahe Darstellungen handelte, muß man nach den Ursachen für das Ausblenden der Problematik der V-Leute - besonders in Anbetracht der Tatsache, daß sich darunter ehemalige Spitzenfunktionäre der KPÖ befanden, die von der Gestapo "umgedreht" worden waren - nicht allzulange suchen. Als wesentliche Elemente solcher Tabuisierungstendenzen fungierten eine heroisierende, "volkspädagogisch" umrahmte Überlieferung des Widerstandes, eine traditionsstiftende Vereinnahmung des kommunistisch orientierten Widerstandes für das eigene politische Selbstverständnis und schließlich eine seit jeher stark verinnerlichte Neigung, "Verräter" quasi als "Unpersonen" aus der Geschichte zu retuschieren.
Aber auch in der wissenschaftlichen Literatur, die von solchen politisch-ideologischen Barrieren nicht belastet ist, wurde das Phänomen der V-Leute über einen langen Zeitraum hinweg weitgehend ignoriert oder doch nur am Rande, jedenfalls nicht als eigenständiger Komplex erforscht. Erst in den letzten zehn Jahren hat jene Thematik in der Forschung eine gewisse, allerdings recht gering zu veranschlagende Beachtung gefunden, teils unter dem primären Aspekt der institutionell-bürokratischen Einbindung in Gestapostrukturen, teils unter stärkerer Berücksichtigung individualbiographischer und sozialpsychologischer Faktoren. Der Untersuchungsgegenstand stellt somit keine vollständige Terra incognita dar, wohl aber ein noch weitgehend unerforschtes Segment der Widerstandshistoriographie in Österreich. Stellt man in Rechnung, daß dem unheilvollen Treiben dieser V-Leute in Österreich Tausende Widerstandskämpfer aus nahezu allen politischen Milieus zum Opfer fielen, so ist der bisherige Forschungsstand mehr als unbefriedigend. [...]
Das für die Bekämpfung der Linksopposition "zuverlässigste" und weitaus bedeutsamste Kontingent von V-Leuten bestand jedoch aus Funktionären der illegalen kommunistischen und sozialistischen Bewegung, die einem massiven psychischen und physischen Druck ausgesetzt waren: aus dem Konzentrationslager oder der Justizhaft entlassen, wurden sie zu einem Spielball in der Hand der Gestapo, mußten sie doch befürchten, beim geringsten Anlaß erneut in ein KZ eingewiesen zu werden, wenn sie sich nicht als gefügig erwiesen. Diese Gefügigkeit wurde manchmal von der Gestapo gefördert, indem sie dem Betreffenden eine vorzeitige Haftentlassung in Aussicht stellte und diese auch durchsetzte. [...]
Aus dem eingangs zitierten Runderlaß des Berliner Gestapa geht auch hervor, daß man nicht schlechthin entlassene KZ-Häftlinge in den Dienst der Gestapo zu pressen versuchte, sondern es auf ganz spezielle Gruppen abgesehen hatte: "Unter den auf Grund der Amnestie [anläßlich Hitlers 50. Geburtstag] zur Entlassung gekommenen Schutzhäftlingen befinden sich eine Anzahl Personen, die sogenannte Apparat-Arbeit geleistet haben und daher sich in erster Linie für Nachrichtenzwecke der Geheimen Staatspolizei eignen dürften. Es sind dies frühere Mitarbeiter oder Funktionäre des AM-Apparates und sonstiger Spezialorganisationen der KPD (Waffen, Sprengstoff, Sabotage, Terror, Kader, RFB-Gruppe). In günstig liegenden Fällen kommen aber auch einfache Parteimitglieder oder Funktionäre in Frage."
Mangels systematischer Forschungen über den hier genau definierten Personenkreis läßt sich nicht abschätzen, ob das Konzept, vornehmlich ehemalige Apparatleute der KPD zu instrumentalisieren, tatsächlich erfolgreich in die Praxis umgesetzt wurde. Jedoch liegen die Gründe dafür auf der Hand, weshalb es - auch in Österreich - gerade (im nationalsozialistischen Sinn) politisch schwer "belastete" KP-Funktionäre waren, die der Gestapo "attraktiv" erschienen. Zum einen waren diese Kader - beispielsweise Absolventen der Moskauer Leninschule, Organisatoren des illegalen Literaturapparats, Kuriere, politische Instruktoren, überregional operierende Verbindungsleute zwischen verschiedenen kommunistischen Organisationen und Widerstandsgruppen usw. - in einem besonderen Maße erpreßbar. Zum anderen hatten sie in der innerparteilichen Hierarchie eine gewisse Vertrauensstellung genossen, was eine von der Gestapo gesteuerte Infiltration kommunistischer Untergrundorganisationen ebenso erleichtern mochte wie die individuelle Bespitzelung ehemaliger Genossen. Und schließlich zielte die Gestapo mit dem Einsatz dieser V-Leute darauf ab, über die Zerschlagung lokaler Organisationsansätze hinaus in die zentralen Organisationsstrukturen des Widerstandes einzudringen.
Schließlich ist noch eine Reihe von Konfidenten zu erwähnen, bei denen der erzwungene Charakter der "Anwerbung" in der extremsten Form zutage trat. Es handelte sich um kommunistische Funktionäre, die wegen Hochverrats oder anderer Delikte bereits zum Tode verurteilt, von der Gestapo jedoch noch "benötigt" und in die Gestapozentrale "rücküberstellt" wurden, wo man sie z. B. als Zellenspitzel auf dort untergebrachte Häftlinge ansetzte. Daraus entwickelte sich mitunter eine jahrelange Kooperation, die entweder eine "Begnadigung" oder einen langfristigen Aufschub der Urteilsvollstreckung nach sich zog. Besonders gut dokumentierbar sind - teils durch Interviews mit Überlebenden, teils durch Archivfunde - in dieser Hinsicht die Fälle Karl Zwifelhofer und Fritz Schwager [...]
Ihre wohl bedeutendsten Erfolge mit Hilfe von V-Männern erzielte die Gestapo jedoch bei der Liquidierung mehrerer zentraler Leitungen der illegalen KPÖ und des KJV. Durch einen Bericht der Wiener Gestapo vom März 1944 über eine Tagung der N-Referate sind wir über die Anzahl der wegen "kommunistischer Betätigung" verhafteten Personen im Zuständigkeitsbereich der Gestapoleitstelle Wien informiert. Demnach wurden zwischen 1938 und 1943 6.272 Kommunisten (1938: 742, 1939: 1.132, 1940: 837, 1941: 1.507, 1942: 881, 1943: 1.173) festgenommen. Berücksichtigt man lediglich die im Jahre 1941 von der Gestapo in Wien und Niederösterreich liquidierten kommunistischen Organisationsansätze, an deren Unterwanderung zwei V-Leute (Kurt Koppel und Grete Kahane) maßgeblichen Anteil hatten, so beträgt die Anzahl der bei diesen Aktionen verhafteten Personen zwischen 700 und 800, d. h. etwa die Hälfte (!) aller in diesem Jahr wegen kommunistischer Betätigung verhafteten Regimegegner. [...]
Eine fast lückenlose Indizienkette erlaubt die Schlußfolgerung, daß das vierte illegale ZK der KPÖ, dem nur eine dreimonatige Lebensdauer beschieden war (April bis Juli 1942), vom ersten Tag seiner Existenz an gesteuert, kontrolliert und überwacht wurde. Mehr noch: im Gegensatz zu früheren Leitungsorganisationen, die von V-Leuten mit mehr oder minder großem Erfolg unterwandert wurden, dürfte das vierte ZK mit großer Wahrscheinlichkeit direkt von der Gestapo bzw. deren Konfidenten gegründet worden sein. [...]
Von Hans Schafranek
Auszug aus: IWK, Heft 3/2000, S. 300 - 349
Originaltext: http://www.hth-berlin.de/iwk/2000-3_schafranek.html