Im öffentlichen Interesse von der Flüchtlingskrise überlagert, schwelt die Krise der Euro-Zone weiter. Nichts geändert hat sich auch an der Konfusion, die in der Linken über diese Krise und die Möglichkeiten ihrer Bewältigung herrscht. In der Hoffnung auf sachhaltigen Streit hatten wir dazu vor einer Weile den Beitrag »Krisenlösung als Wunschkonzert« in »analyse & kritik« veröffentlicht; tatsächlich folgten darauf auch einige Erwiderungen, die aber sämtliche von uns angeschnittenen Fragen wohlweislich umschifften (vgl. dazu »Zugaben zum Wunschkonzert«). Auf diese Fragen sowie die Einschätzung der Syriza-Regierung in Griechenland geht der folgende Beitrag, der im Dezember 2015 im Rahmen der »Marx-Expedition« an der Universität Leipzig gehalten wurde, nochmals ein.
Anlass für die Kritik, die wir vor mittlerweile fast drei Jahren in dem Text Krisenlösung als Wunschkonzert formuliert haben, war die Beobachtung, dass bestimmte fragwürdige Vorstellungen über das Verhältnis von Krise und Staat bis weit in nominell radikale Kreise hinein gang und gäbe geworden sind. In einem Satz zusammengefasst wollten wir damals der Auffassung entgegentreten, alternativ zum sogenannten Neoliberalismus, der sich in gnadenloser Austeritätspolitik auf Kosten der Lohnabhängigen austobt, während er andererseits quasi aus reiner Willkür die Banken und Anleger rettet, gäbe es eine andere, soziale Krisenlösung, die gerade durch eine Umverteilung von oben nach unten und umfangreiche Staatsprogramme nicht nur den Lohnabhängigen allerlei Härten erspart, sondern auch die ramponierte Ökonomie wieder flott macht. Diese Vorstellungen fallen hinter alle kritischen Einsichten zurück, die seit Marx über das Kapital und seine Krisen formuliert worden sind. Eine Kritik solcher Vorstellungen kann vielleicht einen bescheidenen Beitrag dazu leisten kann, dass sich aus der ganzen Misere heraus wider Erwarten doch noch eine sozialrevolutionäre Bewegung entwickelt; wir überschätzen die Bedeutung einer solchen Kritik allerdings auch nicht, will sagen, bestimmte sozialreformerische Illusionen sind sicherlich nicht der größte oder sogar alleinige Hemmschuh für die Herausbildung einer solchen Bewegung. Festhalten muss man erstmal, dass in all den Kämpfen, die es im Zuge der Krise gegeben hat, nirgends der entscheidende Sprung von Streiks und Platzbesetzungen zur Betriebsbesetzung und zu irgendeiner Form von Räten gewagt worden ist. Die Vorstellung, sich gemeinsam die Produktionsmittel anzueignen, ist auch dort, wo eine irrwitzige Arbeitslosigkeit herrscht und es wirklich ums Eingemachte geht, offenbar so undenkbar geworden, dass es gar kein Polizeiaufgebot braucht, um die Leute daran zu hindern; das scheint uns das eigentliche Problem zu sein. (1) Damit will ich nur klarstellen, dass wir nicht einem bestimmten Muster linksradikaler Kritik folgen, wonach irgendwelche Reformisten ein eigentlich zur Revolution drängendes Proletariat vom rechten Weg abbringen. Darauf komme ich nachher nochmal am Fall Griechenland zurück.
Zentral für die zu kritisierende linke Krisendeutung ist zunächst der Begriff des Neoliberalismus. In unserem Verständnis ist Neoliberalismus eine bestimmte wirtschaftspolitische Doktrin, die auf die Entfesselung der Marktkräfte schwört, eine Politik des harten Geldes und der ausgeglichenen Staatshaushalte befürwortet und sich praktisch unter anderem in Privatisierungen von Staatsbetrieben und sozialer Vorsorgeeinrichtungen niederschlägt. Dass es seit den späten 1970er Jahren eine gewisse Entwicklung in diese Richtung gegeben hat, ist unbestritten. Die Frage ist allerdings erstens, wie man das erklärt, und zweitens, ob es so ungebrochen ist, dass man Neoliberalismus gleich als eine Art Epochenbegriff verwendet.
Zum ersten ist festzuhalten, dass die Konterreformen ab den späten 1970er Jahren auf eine reale Krise geantwortet haben; die Wachstumsraten waren eingebrochen, Inflation und Arbeitslosigkeit schossen gleichzeitig in die Höhe und in der Arbeiterklasse hatte sich in den Nachkriegsdekaden und besonders nach dem Aufbruch von 1968 eine Anspruchshaltung durchgesetzt, die –aus Sicht der Mächtigen – auf jeden Fall geschliffen werden musste. In der handelsüblichen linken Deutung war das Ganze dagegen ein Ergebnis erfolgreicher Kämpfe um Hegemonie, d.h. neoliberale Kreise waren in der Lage, durch ideologische Kampagnen und beharrliche Lobbyarbeit ihre Vorstellungen als alleingültige in der Öffentlichkeit und im Staat zu verankern. Kurz gesagt: Neoliberale Think Tanks haben die Gesellschaft einem großen Brainwashing unterzogen und sodann die Politik gehijackt, indem sie dort bestimmte Leitbilder installiert haben. Mit der Rede von Hegemonie, Diskursen und Definitionsmacht tritt das objektive ökonomische Geschehen in den Hintergrund; es entsteht der Eindruck, eigentlich hätte sich alles auch vollkommen anders entwickeln können. Eigentlich könnte man, wenn man genügend Diskursmacht besitzt, den Kapitalismus auch ganz anders gestalten. Das wird vielleicht nicht immer so ausdrücklich gesagt, schwingt aber implizit in einer solchen Beschreibung der Geschichte immer mit.
Was die zweite Frage betrifft, wie ungebrochen dieser Neoliberalismus überhaupt herrscht, hat Paul Mattick in seinem sehr aufschlussreichen Krisenbuch Business as usual nochmal gezeigt, dass staatliche Politik keineswegs irgendeinem ideologischen Leitfaden folgt, sondern eher einem pragmatischen Durchwursteln gleicht. Die Staatseingriffe sind in der vermeintlichen Ära des Neoliberalismus nicht zurückgegangen; gerade in dieser Ära ist die Staatsverschuldung munter weiter gewachsen. In den USA zum Beispiel, wo Ronald Reagan 1980 mit dem Versprechen ins Amt gewählt wurde, sie einzudämmen, hatte sie sich am Ende seiner Regierungszeit verdreifacht. Und wenn irgendetwas die Vorstellung eines ungebrochenen Neoliberalismus widerlegt, dann gerade die aktuelle Krise und ihr staatliches Management. Zu ihrer unmittelbaren Vorgeschichte in Amerika gehört eben auch eine krasse Niedrigzinspolitik der US-Notenbank. Nach dem Crash der New Economy zu Beginn der Nullerjahre wurde auf diese Weise verzweifelt versucht, eine lahmende Konjunktur durch eine Flut des billigen Geldes zu beleben. Robert Brenner hat das treffend als »Börsenkeynesianismus« bezeichnet. Als dann alles in sich zusammenfiel, haben die Regierenden auf alle Bekenntnisse zur freien Marktwirtschaft gepfiffen; Banken und Unternehmen wurden gerettet und verstaatlicht, es gab riesige Konjunkturprogramme, in Deutschland wurde mit der Abwrackprämie die vielzitierte Massenkaufkraft gestärkt und die Beschäftigung durch das Kurzarbeitergeld gestützt; auf dem Höhepunkt der Rezession betraf das mehr als eine Million Arbeiter in Deutschland. Das alles war mitnichten neoliberal, sondern lupenreiner Keynesianismus.
Die Bankenrettungen sind natürlich auch den Linken nicht entgangen, nur deuten sie sie auf ihre Weise, nämlich als Privilegierung der Reichen, als Verteidigung von Renditeansprüchen. Die Empörung darüber, dass auf der einen Seite Milliarden in ein marodes Finanzsystem gepumpt werden, um dann auf der anderen Seite Sozialleistungen zusammenzustreichen, ist natürlich völlig nachvollziehbar. Aber es bleibt eine völlig hilflose Empörung, wenn ausgeblendet wird, dass die Bankenrettungen aus Sicht des Staates eine schlichte Notwendigkeit waren, weil andernfalls eine unkontrollierbare Kettenreaktion von Pleiten gedroht hätte und das gesamte System möglicherweise zum Stillstand gekommen wäre. Der Finanzsektor ist die Schaltstelle der gesamten Ökonomie, alle Unternehmen sind auf ihn angewiesen, kein Staat kann es riskieren, ihn bankrottgehen zu lassen. Auch Katja Kipping hätte als Bundeskanzlerin nichts anders gehandelt. Mit den Bankenrettungen hat der Staat nicht irgendeine Klientel bedient, sondern seinen Job als Generalbevollmächtigter des Gesamtkapitals gemacht.
Grundsätzlich besteht das Problem, dass sich Linke mit ihrer Kritik des Neoliberalismus in einem ziemlich faden nationalökonomischen Disput verzetteln, auch wenn ihnen das vielleicht nicht einmal bewusst ist. Denn grob vereinfacht gesprochen ist der Gegenspieler des Neoliberalismus in der bürgerlichen Wirtschaftstheorie eben der Keynesianismus, und in diesem Gegensatz der beiden Doktrinen spiegeln sich reale Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, was im Ergebnis heißt, dass in gewissem Sinne immer jede Seite gegen die andere Recht behält. Die Neoliberalen gehen von der Angebotsseite aus; ihr Rezept lautet: die Unternehmen entlasten, die Löhne in Schach halten, die Arbeitsmärkte flexibilisieren etc. pp.; sollten Schwierigkeiten auftreten, werden die Selbstheilungskräfte des Marktes sie besser lösen als jede Regierung es könnte, die unzulässigerweise in der Wirtschaft herumpfuscht. Die Keynesianer gehen dagegen gerade vom Nachfrageproblem und der Krisenanfälligkeit der Ökonomie aus. Wenn es eng wird, soll der Staat mit Konjunkturmaßnahmen einspringen, sich zu diesem Zweck verschulden und die Schulden dann wieder abbauen, wenn die Konjunktur endlich anspringt. Garantiert ist bei diesem Programm aber nur die wachsende Staatsverschuldung; ob und wann die Privatunternehmen wieder munter werden, steht vollkommen in den Sternen, liegt jedenfalls außerhalb der Macht des Staates. Wenn heute ehemalige Autonome wie Karl-Heinz Roth zwecks Überwindung der Euro-Krise für »sozialökologische Investitionsprogramme« eintreten, ist das ziemlich trostlos, und aktuell kommt natürlich dazu, dass die Aussichten keynesianischer Politik angesichts der jetzt schon heiklen Staatsverschuldung ziemlich schlecht sind. Und wenn linke Krisenaktivisten als Argument gegen die Sparpolitik die Massenkaufkraft ins Feld führen – und das ist bis in postautonome Publikationen der Fall –, zeugt das auch nur von Hilflosigkeit. Denn das spezifisch linkskeynesianische Argument, die Massenkaufkraft sei doch wichtig für das Gedeihen der Wirtschaft, war noch nie etwas anderes als der triste Versuch, dem Klassengegner das proletarische Lohninteresse als ein Gebot der gesamtwirtschaftlichen Vernunft aufzuschwatzen. Der Klassengegner weiß es aber besser, und tatsächlich ist noch keine einzige Krise in der Geschichte durch Lohnerhöhungen und üppige Sozialausgaben überwunden worden, sondern immer nur durch das genaue Gegenteil davon.
Diese im Grunde nicht besonders komplizierten Gedanken können dort nicht auftauchen, wo man im Namen linker Politik an die Schalthebel des Staates will. Und genau das will offenbar ein wachsender Teil der Leute, die sich radikale Linke nennen. Es ist ziemlich verblüffend, wie wenig darüber gestritten wird; was vielleicht auch an einer gewissen Bündnisseligkeit liegt, das heißt der Wunsch, gemeinsam auf die Straße zu gehen, verdrängt offenbar die Frage, wohin die Reise eigentlich gehen soll.
Die theoretische Begleitmusik für die Hinwendung zum Staat wurde maßgeblich von einem Mann namens Nicos Poulantzas komponiert. Auch wer den Namen noch nie gehört hat, kennt wahrscheinlich die Formel vom Staat als »materieller Verdichtung eines Kräfteverhältnisses«, die seit einigen Jahren unentwegt angeführt wird; diese Formel ist im Kern die Einladung an radikale Linke, ihre kleinlichen Vorurteile gegen den Staat zu überwinden und einfach mitzumachen. Die Zeitschrift Arranca, die in grauen Vorzeiten mal von Autonomen gegründet wurde, hat Poulantzas‘ vor ein paar Jahren als »wichtigen Ratgeber in Strategiefragen« empfohlen; der Text ist überschrieben We may not like it, but we have to be part of it, und hinter »it« verbirgt sich niemand anderes als eben Staat. Der Befund lautet, dass sich Kämpfe sowieso immer schon auf dem Terrain des Staats abspielen, es also ein Außerhalb nicht gibt; was aber keine schlechte Nachricht sein soll, denn was der Staat ist, hängt letztlich eben von den »Kräfteverhältnissen« ab, die man nur ausreichend verschieben muss, d.h. die Eigenlogik des Staates verflüchtigt sich in dieser Perspektive tendenziell und am Horizont zeichnet sich ein allmählicher Übergang zum Sozialismus auch auf parlamentarischem Wege ab. Poulantzas‘ hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er eine antiparlamentarische, antiinstitutionelle Strategie als linksradikales Abenteurertum ablehnt; den Anspruch autonomer Bewegungen, den Staat von außen anzugreifen und durch Räte zu ersetzen, hielt er für illusorisch und gefährlich.
In gewissem Sinne ist die vielzitierte Formel vom Staat als »materieller Verdichtung eines Kräfteverhältnisses« natürlich nicht falsch. Marx und Engels nannten den Staat 1848 im Kommunistischen Manifest einen »Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet« (MEW 4, 464). Diese Charakterisierung ist heute selbstverständlich unzureichend, weil sich seitdem die Kämpfe der Lohnabhängigen im Staat niedergeschlagen haben, angefangen beim Wahlrecht bis hin zu sozialstaatlichen Abmilderungen der proletarischen Existenz. Die Arbeiterbewegung hat sich in den Staat hineingekämpft, wodurch sich beide, die Arbeiterbewegung wie der Staat, verändert haben. Die Frage ist schlichtweg, welche Grenzen dem gesetzt sind beziehungsweise wodurch das Kräfteverhältnis seinerseits bestimmt wird. Dass z.B. die westeuropäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig von der jeweiligen Regierung sozialdemokratische Züge hatten, war der relativ starken Position der Arbeiter im Nachkriegsboom geschuldet, als weitgehend Vollbeschäftigung herrschte. Das war keine Frage von Diskursen, Hegemonie oder Deutungsmacht, sondern schlichtweg von Wachstumsraten, die mit gewissen Verteilungsspielräumen einhergingen; umgekehrt sind die aktuellen Angriffe auf die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen in größten Teilen Europas nicht Ausdruck einer neoliberalen Hegemonie, sondern angesichts der Krise ziemlich alternativlos. In dieser Situation mündet die Rede vom Staat als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses schnell in Illusionen; der Staat und die Produktionsweise, aus der er hervorgeht und die er organisiert, erscheinen dann wie eine Art Knetmasse, die durch Kämpfe beliebig geformt werden kann, durchaus geeignet für eine »sozialökologische Transformation« oder ähnliches. Marx ging es in seiner Kapitalkritik gerade darum, den Zwangscharakter der herrschenden Produktionsweise aufzuzeigen, dass sie also nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktioniert; diese Gesetze kann man natürlich abschaffen, indem man die Produktionsweise abschafft, aber man kann sie nicht auf deren Boden beliebig außer Kraft setzen. Und logischerweise kann die Abschaffung dieser Produktionsweise nicht Sache von Regierungen sein, die ja selbst auf Gedeih und Verderb von einer funktionierenden Ökonomie abhängen.
Thomas Seibert, ein Wortführer des außerparlamentarischen Bündnisses Interventionistische Linke und zugleich Vorstandsmitglied des Instituts solidarische Moderne, dessen offizieller Auftrag darin besteht, eine rot-rot-grüne Bundesregierung vorzubereiten, beschreibt diese Perspektive als »Kreuzung von außerparlamentarischer Selbstermächtigung in weiter Perspektive und linker Realpolitik in kürzerer Frist«. Seibert erklärt dazu: »Historisch ist so etwas nie lange gut gegangen. Grund genug, das diesmal anders anzugehen: Sich realpolitisch auf wenige, dafür richtungsweisende Dinge beschränken, und dazu außerparlamentarisch auf konfliktive Gegenmacht setzen - auch und gerade zur linken Realpolitik.« Das ist gemeint mit der Formel vom »Doppel einer regierenden und einer kämpfenden Linken«. Charakteristisch für diese Perspektive ist also, dass sie sich nicht in linker Realpolitik erschöpfen will und sogar noch ein vages Bewusstsein davon hat, dass die außerparlamentarische Selbstermächtigung früher oder später mit dem Staat aneinander gerät; dass sie andererseits aber trotzdem die Regierungsmacht als entscheidenden Hebel für eine sogenannte Transformation betrachtet. Was als gewitzte Doppelstrategie verkauft wird, ist nüchtern betrachtet nur eine große Konfusion.
Seit Anfang dieses Jahres sind solche Überlegungen keine reinen Gedankenspiele mehr. Mit Syriza gibt es in Griechenland nun eine Linksregierung und man kann sich anschauen, wie sie sich zu den Bewegungen in Griechenland einerseits, zur europäischen Krisenpolitik andererseits verhält. (2) Thomas Seibert schrieb dazu vor den Wahlen, Syriza wolle »eine Regierung des Protests sein: Sie wird nicht anstelle der Leute auf den Plätzen sprechen, sondern sie will und wird sich auch als Regierung von den Plätzen adoptieren lassen.« (Ein putziges Bild: Tsipras und Varoufakis als Waisenkinder…) In Wirklichkeit gab es zu diesem Zeitpunkt aber überhaupt keine Plätze, das heißt Platzbesetzungen mehr. Der Aufstieg von Syriza, genau wie der von Podemos in Spanien, war nicht Ausdruck einer Bewegung, sondern Ausdruck ihres Niedergangs. Die parlamentarische Option bekam in genau dem Moment Auftrieb, als alle Streiks, Riots und Platzbesetzungen gegen die Austeritätspolitik zu nichts geführt hatten. Schon deshalb war es ziemlich weit hergeholt, den Wahlsieg von Syriza als historischen Aufbruch zu feiern. Griechische Genossinnen haben im Gegenteil nach dem Wahlsieg berichtet, dass die vorher in den Kämpfen stark delegitimierte Politik wieder legitimiert wurde und ein ausgeprägtes patriotisches Bewusstsein um sich gegriffen hat; wer mal eine Rede von Tsipras gelesen hat, wird sich das gut vorstellen können. Will sagen, auch wenn wir, wie eingangs bemerkt, nicht die Deutung teilen, dass Linksparteien irgendwelche an sich großartigen Bewegungen zähmen, sollte man sich nüchtern anschauen, welche Bewusstseinsformen solche Parteien an der Macht fördern und wohl vermutlich fördern müssen. Was sie brauchen, sind gute Staatsbürger, und nicht das, was Seibert doppeltgemoppelt als »konfliktive Gegenmacht« bezeichnet.
Was die Programmatik von Syriza und ihr Verhältnis zur europäischen Krise angeht, ist die Lage etwas vertrackter. Eigentlich ist es verwunderlich, dass eine linke Partei überhaupt darum gekämpft hat, in dieser Situation das Ruder zu übernehmen, denn ein drohender Staatsbankrott ist die definitiv schlechteste Ausgangslage für ein soziales Reformprogramm. Realistischerweise hat Syriza ihr Programm dann auch umso stärker eingedampft, je wahrscheinlicher ein Wahlsieg wurde. Letztlich bestand es vor allem darin, wenigstens keine weitere Kürzungen bei Löhnen, Staatsjobs und Renten vorzunehmen, hier und da auch ein paar der vorherigen Sparmaßnahmen wieder zurückzunehmen, aber nur ein paar. Im Kern ging es darum, weiterhin Kredite von der sogenannten Troika aus IWF, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission zu bekommen, ohne an die bisherigen Auflagen zum Sparen und Privatisieren gebunden zu sein.
Syriza ist mit diesem Anliegen in den dramatischen Verhandlungen im letzten Sommer bekanntlich auf ganzer Linie gescheitert und hat danach eine Kehrtwende gemacht, das heißt Tsipras und Co. setzen nun genau die Politik fort, die sie ursprünglich beenden wollten. Dass der Machtpoker zwischen griechischer Regierung und Troika so ausgehen würde, war nicht überraschend, aus dem einfachen Grund, dass die griechische Regierung keinen Machthebel in den Verhandlungen hatte; die Drohung mit dem Grexit war unrealistisch, weil alle wussten, dass die große Mehrheit der Griechen wie auch von Syriza notfalls um jeden Preis im Euro bleiben wollten.
Dass die Sympathien von Linken bei diesem Kräftemessen auf der Seite von Syriza lagen und namentlich die deutsche Regierung zu einer Hassfigur wurde, ist verständlich. Jeder Teilerfolg von Syriza hätte schließlich bedeutet, dass der griechischen Bevölkerung bestimmte Einschnitte erstmal erspart bleiben würden. Das würden wir nie bestreiten. Aber diese simple Feststellung ist etwas völlig anderes, als den Wahlsieg solcher Linksparteien zu einem historischen Ereignis zu erklären, durch den ein sogenannter Politikwechsel eingeläutet wird oder zumindest hätte werden können, wäre die harte Linie insbesondere der deutschen Regierung im großen Schuldenstreit auf mehr Widerstand gestoßen. Die immensen Hoffnungen, die Linke Anfang des Jahres in Syriza gesetzt haben, sind jetzt natürlich erstmal perdu, wobei ihnen als Grund für das Debakel eben die Härte der Troika gilt, ein kleinerer Teil, der als der linkere gilt, wirft Syriza vor, die Möglichkeit eines Grexit nicht offensiv genug genutzt zu haben. Die grundsätzliche Möglichkeit eines Politikwechsels, einer ganz anderen Krisenlösung, wird weiter unterstellt, auch wenn diesmal noch nichts daraus geworden ist.
Dass die drastischen Sparauflagen für Griechenland alternativlos wären, würden wir nicht behaupten. Interessant ist vielmehr, dass die in Europa herrschende Austeritätspolitik schon seit geraumer Zeit nicht nur von Linken und Keynesianern kritisiert wird, sondern selbst von Marktliberalen. Ein Beispiel dafür wäre die britische Zeitschrift Economist, die diese Politik schon seit Jahren als überzogen bezeichnet. Auch stramm marktwirtschaftlich eingestellten Beobachtern kann schließlich nicht entgehen, dass die selbsterklärten Ziele dieser Politik in Griechenland weit verfehlt wurden. Die Staatsverschuldung ist heute deutlich höher als bei Beginn der Troika-Programme, Wirtschaftswachstum nicht in Sicht. Deshalb bekommen sogar Liberale allmählich kalte Füße und trauen den vielbeschworenen Zauberkräften des Marktes selbst nicht mehr so Recht; das heißt sie ahnen, dass die griechische Wirtschaft völlig kollabieren könnte, wenn die Gläubigerstaaten nicht Geld abschreiben und ihr dadurch zumindest eine Atempause verschaffen. Dass Griechenland seine Schulden niemals wird zurückzahlen können, ist dabei ohnehin klar. An diesem einen Punkt haben Linke also Recht, wenn sie meinen, innerhalb der gegebenen Verhältnisse gäbe es eine Alternative zur jetzigen Politik. Aber darüber hinaus?
Grundsätzlich liegt in der Frage der Austerität ein Dilemma für das staatliche Krisenmanagement. Kürzungen der Staatsausgaben wirken natürlich erstmal krisenverschärfend, gerade in einem Land wie Griechenland, wo der öffentliche Sektor größeres Gewicht hat. Die keynesianische Alternative, dass der Staat sich ordentlich verschuldet und z.B. in die Infrastruktur investiert, ist aber wie erwähnt gerade in der jetzigen Situation auch keine Lösung. Oder am Punkt der Löhne verdeutlicht: Dass Lohnsenkungen zwangsläufig die Konjunktur wieder ankurbeln, ist Ideologie, denn möglicherweise besteht auch an einer billigeren Arbeitskraft schlicht kein Interesse. Dass umgekehrt Lohnerhöhungen die Konjunktur wieder ankurbeln, ist aber natürlich erst Recht Ideologie, denn das keynesianische Nachfrageargument geht, wie oben gezeigt, in die Irre. Natürlich braucht das Kapital Nachfrage, aber wenn es diese Nachfrage quasi selber bezahlen muss, kann es seine Waren auch gleich verschenken. (3)
Grob vereinfacht ist das der auf Dauer ziemlich langweilige Streit zwischen Neoliberalen und Keynesianern, ein Streit, der sich durch und durch auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse bewegt und allein um die Frage dreht, wie man den Laden wieder flott machen kann, das heißt ein Streit um Mittel und nicht um Zwecke. Die einen warnen vor ausufernder Staatsverschuldung und Inflation, die anderen, dass Sparen inmitten der Rezession ins Verderben führt.
Wer auf Linksregierungen hofft oder ganz allgemein von der Möglichkeit einer sozialen Krisenlösung spricht, bezieht Position für die eine Seite in diesem faden Streit. Die tatsächliche Politik bewegt sich pragmatisch zwischen diesen idealtypischen Positionen. Der IWF hat sich teilweise für einen Schuldenerlass für Griechenland ausgesprochen, die Troika ist dafür, dass die griechischen Reichen mehr Steuern zahlen, Varoufakis wollte bestimmte Märkte liberalisieren usw.usf. Und alle zusammen hoffen beinahe wie auf ein Wunder, dass das Kapital in Griechenland investiert und die Wirtschaft wieder wächst. Mit Johannes Agnoli gesprochen: Der Staat ist der »Staat des Kapitals«, egal, wer auf den Regierungssesseln sitzt. Und in Gestalt von Syriza sind die, die dort zurzeit sitzen, weit entfernt von irgendwelchen Transformationsprogrammen; das alles sind bloß Wunschprojektionen linker Beobachter. Was Syriza tut, könnte man frei nach John Holloway eher mit der Formel fassen: Die Macht übernehmen, ohne die Welt zu verändern.
Dass sich die Lohnabhängigen gegen das wehren müssen, was man Austeritätspolitik nennt, ist völlig klar. Die Feststellung, dass jede Krise des Kapitals nur auf ihre Kosten überwunden werden kann, ist ja nicht als Defätismus gemeint. Aber die Frage ist, in welchem Bewusstsein, mit welchem weitergehenden Ziel man sich wehrt. Damit bin ich wieder am Ausgangspunkt meines Beitrags angelangt. Die sogenannten Wobblies – die revolutionären Syndikalisten der »Industrial Workers of the World« – haben in der Großen Depression der 1930er Jahre den simplen, klaren Satz geschrieben: »Jeder Erfolg der Arbeiter vertieft die Krise.« Die Wobblies wollten das als Ermunterung zu militanten Streiks verstanden wissen, die durch eine solche Vertiefung der Krise revolutionäre Bedeutung gewinnen sollten. Einen schöneren Kontrast zum linken Luftschloss einer sozialverträglichen Krisenlösung kann man sich kaum vorstellen. Die Wobblies konnten allerdings nur deshalb auf die Vertiefung der Krise setzen, weil sie eine ziemlich konkrete Vorstellung von der Revolution und der klassenlosen Gesellschaft hatten. Das ist heute anders, und deshalb stehen alle im Wald, nicht nur die Freundinnen und Freunde von Syriza, sondern auch ihre linksradikalen Kritiker.
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft
1. Nachtrag: Es sind zwar vereinzelt bankrotte Betriebe von den jeweiligen Belegschaften übernommen worden, aber es hat sich nirgends eine Bewegung angedeutet, die über solche Selbsthilfemaßnahmen hinaus die gemeinsame Aneignung der Produktionsmittel anvisieren würde. Ebenso kann man in den Vollversammlungen auf den besetzten Plätzen einen Nachhall des Rätegedankens ausmachen, der aber ohne das genannte Ziel seine revolutionäre Schwungkraft verliert.
2. Nachtrag: Grundsätzlich lesenswert zu SYRIZA sind die dreiteilige Serie von Cognord im Brooklyn Rail (Februar, März und Juli 2015, Teil 1 hier: www.brooklynrail.org/2015/03/field-notes/if-syriza-is-the-answer-then-th...) sowie die Texte der griechischen Gruppe TPTG »On SYRIZA and its victory in the recent general elections in Greece« und »60 days older and deeper in debt«, unter www.tapaidiatisgalarias.org/?page_id=105.
3. Nachtrag: Auch auf dem Umweg von Staatsausgaben bietet die »Stärkung der Massenkaufkraft« keinen Ausweg aus der Krise. Finanziert werden kann sie nur durch Staatsschulden – für die es aber Grenzen gibt, denn für die Gläubiger muss es immer plausibel sein, dass sie am Ende der Krise auch wieder zurückgezahlt werden, und dieses Ende ist nicht in Sicht – oder durch höhere Steuern. Besteuert man aber das Kapital, um ihm zu mehr Nachfrage zu verhelfen, dann nimmt man letztlich nur mit der linken Hand, was man mit der rechten gibt.
Originaltext: http://www.kosmoprolet.org/die-linke-der-krise