Die Schule selber verwalten!
Francisco Ferrer: Die moderne Schule, neu herausgegeben von Ulrich Klemm - Verlag Edition AV , Frankfurt a. M
Wer die Schulbildung kontrolliert, besitzt die Macht. Es ist also notwendig, die Schule in die Hände der Arbeiterklasse zu geben und sie dem Staat und der Kirche zu entreissen, welche nur danach trachten, die Menschen gefügig und gläubig zu machen, um sie in profitabler Knechtschaft zu halten. Der revolutionäre Pädagoge, Francisco Ferrer (1859 - 1909) der in Barcelona vor 100 Jahren die erste von religiösen Dogmen und autoritären Traditionen befreite Schule betrieb, setzte sein Lebenswerk dafür ein, um Kinder entsprechend ihren Neigungen und ihrem eigenen Willen auszubilden.
Unter republikanischen Politaktivisten gegen König und Klerus und drei Jahre lang als Fluchthelfer an der französischen Grenze tätig, musste Ferrer mit 27 Jahren sein Land fluchtartig verlassen. Im Exil in Frankreich wandelte sich der gelernte Buchhalter zum Weinhändler und Spanischlehrer und lernte den anarchistischen Waisenhausleiter von Cempuis Paul Robin kennen. Dieser praktizierte dort schon seit Jahren eine rationale Unterrichtsmethode. Ferrer begann sich für Pädagogik zu interessieren, war politisch aktiv im Kreis der exilierten spanischen Republikaner und nahm am Kongress zur 2. Internationalen in London teil. Nach 15 Jahren verließ er Frankreich mit viel Geld aus der Erbschaft einer reichen Spanischschülerin, die er von seinem Vorhaben überzeugt hatte, und kehrte nach Barcelona zurück, wo er 1901 ein Haus kaufte und zur Schule herrichtete. Anfänglich hatte er Schwierigkeiten, Lehrgefährten zu finden. So richtete der Autodidakt kurzerhand innerhalb einer Staatsschule ein Ausbildungsseminar für fortschrittliche Lehrer ein, welches von seinen Feinden, den kirchentreuen Bildungsfunktionären, jedoch bald geschlossen wurde.
Ferrer gab ein monatliches Infoblatt seiner Schule heraus, das von Anfang an politisch engagiert war, und bald wurden neben dem Wochenunterricht für Kinder an den Sonntagen Bildungsvorträge für ArbeiterInnen und Eltern gehalten. Die Schule schrieb ihre Lehrmittel von Grund auf selber. Die am Anfang noch sehr beschränkten Fachgebiete erweiterten sich ständig. Die Abwendung von Einflüssen des Staates und der Religion wurde offen propagiert, dafür widmete sich der Unterricht ganz einer wissenschaftlichen und pädagogischen Rationalität, unter Berücksichtigung psychologischer und medizinischer Erkenntnisse zu Gunsten der Kinder. Die Schule sollte von Autoritäten frei und allen Schichten, insbesondere den armen, offen sein. Schulgeld bezahlte nur, wer hatte. Hygiene und Gesundheit, helle Räume, freiwilliges Lernen bei schülereigener Auswahl der Interessenschwerpunkte, spielerische Körperaktivitäten statt militärisches Turnen, neuester Erkenntnisstand in allen Fächern, Mädchen und Knaben gemeinsam unterrichten, das waren die ideellen und praktischen Ziele der Modernen Schule.
Der Befreiung der Arbeiterklasse verpflichtet, vermittelte der Unterricht eine industriefreundliche Weltsicht, die den Arbeiter als Erschaffer und Träger des technischen und sozialen Fortschritts darstellte, was nicht als gegensätzlich angesehen wurde. Anlässlich eines im Buch beschriebenen Klassenbesuchs in einer Wollweberei wird nicht in erster Linie das gesundheitsschädigende Arbeitsklima, sondern die geringe Entlöhnung dafür kritisiert.
Die Frauen lebten im Ferrer-Umfeld offenbar ein Schattendasein. Lehrerinnen gab es keine. Die Ausführungen Ferrers über "Das Weib" sind jedenfalls eher peinlich und zeigen, dass wissenschaftliche Erkenntnis sich manchmal aus einer theoretischen Basis speist, von der sie sich vordergründig losgelöst erklärt. Ferrers Beschreibungen des angeblichen weiblichen Geistes sind zärtlich, es ist aber offensichtlich, dass er die Trennung von Intellekt und Gefühl sexualisiert und die Frau ihn herkömmlich-patriarchaler Art dem Gefühl verortet. Die Ferrer-Schule wurde ihrer Zeit international als frei und fortschrittlich angesehen. Ihre arbeiterfreundliche Ausrichtung ließ sie bald aus allen Nähten platzen. Die offene Ablehnung jeder Autorität brachte ihr aber auch Angriffe der reaktionären Presse ein.
1906 wurde die Schule geschlossen und Ferrer verhaftet, weil ein ehemaliger seiner Mitarbeiter ein Attentat auf das spanische Königspaar verübt hatte. Ferrer konnte seine Unschuld lückenlos beweisen und kam nach einer Jahr Haft wieder frei. Er berief eine internationale pädagogische Konferenz ein, welche in Paris tagte. Die Grundideen der modernen Schule wurde dabei in verbindenden Statuten neu formuliert. Ferrer nahm seine Lehrtätigkeit in Spanien wieder auf. Aber schon im Oktober 1909 wurde er erneut verhaftet, im Schnellverfahren wegen angeblicher Verschwörung verurteilt und sofort hingerichtet. Die Schule in Barcelona war zu Ende, aber der skandalöse Justizmord sorgte für eine explosionsartige Verbreitung der Idee einer freien Schule in der ganzen Welt. Es wurden mehrere Schulen gegründet, darunter in der Schweiz und den USA.
Nach 1945 ging Ferrer vergessen, wurde dann 1970 von Antiautoritären wiederbelebt. Wer schon immer dachte über die Schule ließe sich die Gesellschaft grundlegend verändern, sollte dieses neu erschienene Buch unbedingt lesen.
Aus einem Sonderheft der "Rebellion" zum SchülerInnenstreik am 1.4.2004 in Bern (Schweiz)
Originaltext: http://www.rebellion.ch/textes/gegen_den_neoliberalen.htm