Pierre-Joseph Proudhon - Gegen das Vertretungssystem
Es geht im Reiche der politischen Kenntnisse nicht anders zu wie auf jedem andern Gebiet menschlichen Wissens und menschlicher Einsicht: an die Stelle der Erklärung durch göttliche oder dämonische oder irgendwie persönliche, konkrete Gewalten tritt die Erklärung durch sachliche Beziehung, durch ein unpersönliches, ein abstraktes Verhältnis. Früher machten die Götter den Regen, jetzt regnet es aus den Wolken; früher war Liebe und Hass zwischen den Elementen, war die ganze Natur voller guten und bösen Geister, wurde alles durch Personifikation und in der Bildersprache erklärt, wo wir jetzt Verhältnisse und Sachbeziehungen erblicken und alles aufs Abstrakte oder auf die Zahl zurückführen wollen. So war auch die bisherige Anschauung von der Regierung, als sei sie die Vertretung, die Repräsentation, die Darstellung der sozialen Beziehungen eine durchaus materialistische Vorstellung, in der ein Götze die Stelle der Wirklichkeit einnahm.
An ihre Stelle hat jetzt eine Auffassung zu treten, die villeicht weniger poetisch ist, weniger der Phantasie schmeichelt, aber dafür den Anforderungen der Logik besser entspricht: was wir Regierung nennen, ist nichts anderes als die sozialen Beziehungen selbst. Das heisst aber: die Regierung, die sich von den Interessen und den Freiheiten, soweit sie Beziehungen zu einander eingehen, nicht mehr unterscheidet, hört auf zu existieren. Denn eine Beziehung, ein Gesetz kann wohl niedergeschrieben werden, so wie man eine algebraische Formel aufschreibt, aber die Beziehung kann nicht in dem Sinne, wie dieses Wort fürs Regieren und für Bühnenaufführungen gebraucht wird, dargestellt, repräsentiert werden sie kann nicht in Fleisch und Blut verkörpert werden, sie kann nicht zu einer ganzen Armee von Komödianten werden, die das Mandat haben, vor dem Volke die Beziehung der Interessen aufzuführen! Eine Beziehung ist ein reines Verhältnis, das sich in Ziffern, Buchstaben, Zeichen oder Wörtern ausdrückt, in einem Buch, in einem Vertrag, das aber keine andere Wirklichkeit hat als die der Gegenstände selbst, die in Beziehung treten.
Nun verstehe man wohl! Das sicherste Ergebnis, das einzig sichere und bleibende Ergebnis all der Regierungen, die seit 1789 am Ruder gewesen sind, ist die Beleuchtung der Wahrheit, die so einfach ist wie eine Definition und so einleuchtend wie ein Axiom: Regierung ist die Beziehung der Freiheiten und der Interessen untereinander.
Wenn aber dieser erste Satz gegeben ist, stellen sich die Folgerungen von selbst ein: von jetzt ab fallen Politik und Wirtschaft zusammen; damit es Beziehungen von Interessen gibt, müssen die Interessen selbst gegenwärtig sein, für sich einstehen, sich gegenseitig vertragen und verpflichten, müssen sie handeln; die sozialen Verhältnisse und ihre lebendigen Träger und Vertreter sind ein und dieselbe Sache; kurz: da jedermann Regierung ist, gibt es keine Regierung mehr. Die Negation der Regierung ergibt sich also aus ihrer Definition: wer Repräsentativregierung sagt, sagt Beziehung zwischen den Interessen; wer Beziehung zwischen den Interessen sagt, sagt: keine Regierung.
Und in der Tat beweist die Geschichte der letzten sechzig Jahre, daß die Interessen unter der Vertretungsregierung weder frei noch in Beziehung sind; daß sie, wenn sie ihr wahres Wesen erfüllen wollen, direkt, nach dem Gesetz ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und ohne Vermittler an einander herantreten müssen. Geht es anders, so wird das Eigentum zum Lehen, die Arbeit zur Leibeigenschaft, der Händler zum Zöllner; die Korporationen werden unbillig eingeschränkt; die Philosophie fügt sich der Kirche; die Wissenschaft sagt aus dem Munde von Männern wie Cuvier und Flourens nur, was der Theologie und dem Papst gefällt: es gibt keine Freiheiten und keine Interessen mehr!
Die Interessen hatten in ihrer berühmten Erklärung gesagt: Das Gewissen ist frei. — Der Vertreter der Interessen erklärt im Jahre 1814, die katholische Religion sei die Staatsreligion; im Jahre 1830, sie sei die Religion der Mehrheit, was praktisch und finanziell genau aufs nämliche herauskommt. In der Tat halten die Katholiken noch heutigen Tages mit der Begründung, sie seien die Mehrheit, die Dissidenten von den Lehrstühlen fern und verschließen den Protestanten und Juden die Universitäten. So kommt es, daß jeder Bürger, ob er ein Interesse am Glauben hat oder nicht, zunächst für alle Religionen zu zahlen hat; und wenn er das Unglück hat, Jude oder Protestant zu sein, wird er, nicht als Jude oder Protestant, sondern als Angehöriger der religiösen Minderheit, seiner Rechte beraubt. Wo ist die Freiheit? Wo ist die Beziehung?
Die Interessen verlangten, in der nämlichen Erklärung, das Denken solle frei sein. — Der Vertreter der Interessen, der Beziehung zwischen den Interessen, behauptet jedoch seinerseits, er könne bei solcher Freiheit sein Mandat nicht erfüllen; er müsse verlangen, daß die Interessen nicht reden, nicht schreiben, nicht lesen; wenn sie sich gar zu sehr um ihre Interessen kümmerten, wenn sie einen Rat gäben, würde ihre Sicherheit und die Sicherheit des Staates gefährdet. Der Kaiser unterdrückt die Zeitungen, die Restauration führt die Zensur ein, die Julimonarchie macht die Septembergesetze, die Republik erdrosselt die Zeitungen, der Dezembermann warnt sie. Wo ist die Freiheit der Interessen? wo sind ihre Beziehungen?
Was für eine seltsame Art, die Interessen zu vertreten, indem man sie zum Schweigen verurteilt!
Nach der Meinung der Interessen sollte der Krieg das letzte Mittel sein, zu dem die Nation ihre Zuflucht nimmt, um den Frieden zu erhalten. Abgesehen vom Kriegsfall schien ihnen das Vorhandensein von stehenden Heeren ein Unding, dem die Einrichtung der Nationalgarden ein Ende machen sollte. — Aber der Vertreter der Interessen, der Oberbefehlshaber der Armeen zu Wasser und zu Land, findet immer einen Grund, seine Rolle zur Geltung zu bringen; und wenn er nicht Krieg führt, hält er seine Armeen in Kriegsbereitschaft; er gibt vor, nur dadurch könnte er für die Ordnung im Innern bürgen und den Frieden zwischen den Interessen aufrecht erhalten! Die Interessen sind also nicht in Beziehung untereinander, oder, besser gesagt, diese Beziehung ist nicht repräsentiert, da der Vertreter sie nur durch Gewalt in Frieden halten kann.
Die Interessen fordern eine billige Regierung, mäßige Steuern, gerechte Verteilung der Steuerlast, Sparsamkeit in den Ausgaben, Rückzahlung der Staatsschuld. — Darauf antwortet der Vertreter der Interessen, wer tüchtig regiert sein wolle, müsse tüchtig zahlen; ein hohes Budget sei ein Zeichen des Reichtums und der Macht; eine riesige Staatsschuld die Bedingung der Bestandsicherheit des Staates. Und so haben wir ein Budget mit einer Staatsschuld, die sich in fünfzig Jahren verdoppelt hat. — Ist das nicht ein Hohn auf auf die Interessen?
Die Landwirtschaft verlangt Salz; der Arbeiter Fleisch, Zucker, Tabak, Kohle, Leder, Leinwand, Wolle. Der Arbeiter ist von allem entblößt und stirbt Hungers. — Der Vertreter der notleidenden Interessen, und das sind alle Interessen insgesamt, erklärt durch seine Zeitungen und seine Redner, es sei nicht wahr, daß das Salz für die Landwirtschaft und das Vieh unentbehrlich sei, als ob er das besser wüßte als die Landwirte, als ob es ihm, dem Vertreter, zustünde, darüber zu befinden! ... Im übrigen, erklärt er weiter, wäre er froh, wenn er den Wunsch Heinrichs IV, jeder Franzose solle sein Huhn im Topf haben, erfüllen könnte; aber das Interesse der französischen Züchter, Zuckerfabrikanten u.s.w. u.s.w. erlaube es nicht, Vieh, Zucker, Kohle, die das Volk für seinen Konsum braucht, frei einführen zu lassen. So werden also die Interessen von ihrem eigenen Vertreter der Beziehung der Interessen geopfert, und zu Gunsten dieser Beziehung könnte die Nation nach der Meinung des Vertreters nur dann reich werden, wenn sie im nämlichen Augenblick an den Bettelstab käme! Wozu dient also die Regierung? Ist es nun nicht klar, daß die Vertretung der Beziehung nur ein Ding repräsentiert: die Tatsache, daß die Beziehung nicht existiert?
Die Beziehung der Interessen fordert, daß die Schiffahrt frei ist. Der Vertreter der Interessen beschließt Schiffahrtsabgaben. Warum? Weil er seinen Freunden einen Gefallen damit tut und sich eine Einnahme eröffnet. Der Vertreter der Interessen hat also andere Interessen als die Interessen!
Die Beziehung der Interessen verlangt, daß die Eisenbahn, alle Einrichtungen, die dem öffentlichen Nutzen dienen, zum niedrigsten Preis und ohne Verzinsung des Anlagekapitas zur Verfügung gestellt werden. Der Vertreter der Interessen läßt sich die Beförderung der Briefe, der Personen und Waren so teuer als möglich bezahlen; das Publikum hat nicht einmal Gewähr, daß die Briefe nicht geöffnet werden. Bis jetzt hatte man geglaubt, derjenige, der ein Mandat anvertraut, hätte dem, der es anvertraut, sein Vertrauen zu bezeigen; aber nicht im geringsten: der Mandatträger erklärt, er hätte zu seinem Auftraggeber kein Vertrauen!
Das Interesse der Familien, das allgemeine, ausnahmslose Interesse, gegen das niemandem ein Einspruch zusteht, verlangt; daß der Unterricht dem Kinde von Männern erteilt wird, die das Vertrauen des Vaters haben, und daß er nach Grundsätzen erteilt wird, die seinem Willen, entsprechen. Der Vertreter des Interesses der Familien liefert den Unterricht an Mönche und Jesuiten aus; er gibt vor, nicht nur die Väter, sondern auch die Kinder zu vertreten! Was sagt ihr Familienväter zu dieser gewissenhaften Vertretung?
Auf allen Gebieten steht der Vertreter der Freiheiten und Interessen in Widerspruch mit der Freiheit, in Auflehnung gegen die Interessen; die einzige Beziehung, deren Ausdruck er ist, ist ihrer aller Unterjochung!
Was muß man dir denn sagen, du störrisches Geschlecht, um dir zu zeigen, daß eine Beziehung, eine Idee nicht vertreten werden kann, so wie du das Wort verstehst; daß sie vertreten so viel heißt, wie sie zertreten, und daß an dem Tage, wo unsere Väter vor Gott und den Menschen die Erklärung ihrer Rechte aussprachen, wo sie das Prinzip der freien Ausübung der Fähigkeiten des Menschen und des Bürgers begründeten, die Autorität im Himmel und auf Erden ein Ende fand und die Regierung, auch die vermittelst des Vertretungssystems, unmöglich gemacht wurde?
Kehrt, wenn ihr wollt, zu den feudalen Einrichtungen, zum theokratischen System oder zur Unterwürfigkeit unter das cäsarische Regiment zurück; geht zehn, zwanzig, vierzig Jahrhunderte rückwärts, aber redet nicht mehr von Freiheiten, von Rechten und Interessen, die vertreten werden: denn die Freiheiten und Interessen in ihrer Gesamtheit und ihrem Beziehungsverhältnis sind keiner Vertretung fähig, und der Vertreter einer Nation, ganz ebenso wie der Repräsentant einer Familie, einer Besitzung, einer Industrie, kann nur ihr Herr und Meister sein. Die Vertretung der Interessen ist nichts anderes als die Wiederherstellung der Autorität!
Ihr habt also die Wahl zwischen Anarchie und Cäsarismus! Das Wort ist ausgesprochen worden; die Jesuiten wiederholen es und ich sage es zum hundertsten Mal. Sucht keine Auswege, sucht kein Mittelding mehr. Sie sind seit sechzig Jahren, in den vielen aufeinander folgenden Regierungssystemen alle erschöpft worden, und die Erfahrung hat euch zeigen können, daß diese Mitteldinge nur, wie der Läuterungsberg Dantes, eine Stätte des Übergangs sind, in der die Seelen im Verzweiflungskampf des Gewissens und des Denkens auf ein höheres Dasein vorbereitet werden.
Anarchie, sage ich euch, oder Caesarismus, ihr habt keine andere Wahl. Die gemäßigte, konservative, fortschreitende, parlamentarische und freie Republik habt ihr nicht gewollt; so steht ihr denn denn jetzt zwischen dem Kaiser und der Soziale! Wählt jetzt, was euch am besten gefällt! ...
Wie es auch kommt, der Weg führt dem Sozialismus zu, und das letzte Wort des Sozialismus ist: Kein Zins — und keine Regierung!
Ich für mein Teil halte mich von der Regierung fern und bin geneigt, sie mehr zu beklagen als zu bekriegen; ich widme mich lediglich dem Vaterland und verbünde mich mit Leib und Seele mit der Elite der Arbeiterschaft, den Pionieren des Proletariats und der Mittelklasse, dem Bund der Arbeit und des Fortschritts, der Freiheit und der Idee, der einsieht, daß die Autorität ausgespielt, daß es freilich mit der Selbstbestimmung des Volks noch gute Wege hat; daß die Freiheit, die sich nicht selbst in Aktion setzt, verloren ist und daß die Interessen, die, um sich mit einander in Beziehung zu setzen, einen Vermittler brauchen, der sie vertritt, verloren sind, — dem Bunde, dessen Ziel und Wahlspruch ist: die Erziehung des Volkes.
Anmerkung:
*) Bruchstück aus Proudhons Schrift: "Die soziale Revolution, aufgezeigt am Staatsstreich des 2. Dezember". — Der erste Absatz ist, da die französischen Ausdrücke "abstrakte" und "konkrete Idee" in unserer Sprache kaum kurz wiederzugeben sind, sinngemäß, aber frei übersetzt.
Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 8, 15.4.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.