Pierre-Joseph Proudhon - Die öffentliche Ordnung
Ich bin der Mann, und es ist euch dies nicht unbekannt, der die Worte geschrieben hat: "Eigentum ist Diebstahl". Ich nehme es nicht zurück; ich beharre dabei, diese brennende Erklärung als die grösste Wahrheit des Jahrhunderts zu betrachten. Ebenso wenig habe ich Lust, euren Überzeugungen zu nahe zu treten; Alles, was ich verlange, ist euch sagen zu dürfen, wie ich, der Anhänger der Familie und des Haushaltes, der Gegner der Gütergemeinschaft, den Satz auffasse dass zur Beseitigung, des Elends, zur Entfesselung der Proletariats noch die Verneinung des Eigentums notwendig ist. Nach ihren Früchten muss man meine Lehren beurteilen: richtet also über meine Theorie nach meiner Praxis.
Wenn ich sage: "Eigentum ist Diebstahl", so stelle ich nicht ein Prinzip auf, ich drücke nur eine Schlussfolgerung aus. Ihr werdet ohne weiteres den ungeheuren Unterschied begreifen. Ist nun die Erklärung des Eigentums, wie ich sie aufstelle, nur eine Schlussfolgerung oder die allgemeine Formel des ökonomischen Systems, was ist denn das Prinzip dieses Systems, was ist seine praktische Anwendung, was sind seine Formen?
Mein Prinzip — das wird euch, Bürger, erstaunlich vorkommen — mein Prinzip ist das eurige, es ist das Eigentum selbst. Ich habe kein anderes Symbol, keine anderen Prinzipien, als die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: Die Freiheit, die Gleichheit, die Sittlichkeit, das Eigentum. Wie die Erklärung der Rechte, definiere ich die Freiheit als das Recht, alles zu tun, was anderen nicht schadet.
Ebenfalls in Übereinstimmung mit der Erklärung der Rechte definiere ich — provisorisch — das Eigentum als das Recht, über sein Einkommen, die Früchte seiner Arbeit und seiner Gewerbstätigkeit frei zu verfügen. Hier mein ganzes System Freiheit des Gewissens, Freiheit der Presse, Freiheit der Arbeit, Freiheit des Handels, Freiheit des Unterrichts, freie Konkurrenz, freie Verfügung über die Flüchte seiner Arbeit und seiner Gewerbstätigkeit, Freiheit bis ins Unendliche, absolute Freiheit, Freiheit immer und überall!
Das ist das System von 1789 und 1793, das System Quesnays, Turgots, Says; das System, welches die verschiedenen Organe unserer politischen Parteien tagtäglich mit mehr oder weniger Einsicht und Redlichkeit laut bekennen, also das System der Débats, der Presse, der Konstitution, des Siècle, des National, der Reform, der Gazette; es ist endlich auch euer System, ihr Wähler.
Einfach, wie die Einheit, weit wie das Unendliche, diente das System sich selbst und den anderen als Kennzeichen und Prüfstein. Mit einem Wort lässt es sich begreifen, und es erzwingt den Beitritt; Niemand will etwas von einem Systeme wissen, in welchem die Freiheit die geringste Beeinträchtigung zu erleiden hätte! Mit einem Worte gibt es sich zu erkennen und entfernt jeden Irrtum was ist leichter, als zu sagen, was Freiheit ist, und was nicht?
Die Freiheit also, nicht mehr, nicht weniger. Das Gehenlassen, das Gewähren lassen, in der wörtlichsten und ausgedehntesten Bedeutung, folgerichtiger Weise also das Eigentum, insoweit es rechtmässig aus dieser Freiheit herfliesst — das ist mein Prinzip. Keine andere Gesamthaftung (Solidarität) zwischen den Bürgern, als die der aus einer höheren Macht hervorgehenden Ereignisse für alles, was die freien Handlungen, die Kundgebungen des überlebten Gedankens betrifft, vollständige, unbeschränkte Nichthaftung der Gesamtheit (NichtSolidarität).
Gewiss, das ist kein Kommunismus; Das ist nicht die Regierungsweise Mehemet Alis; Das ist nicht Diktatur; Das ist nicht das Eindringen des Staates in alle bürgerlichen Verwaltungen, und sogar in die Familie; Das ist weder Baboeuf, noch St. Simon, noch Fourier; Das ist der Glaube eines Franklin, Washington, Lafaytte, Mirabeau, Manuel, Casimier Perier, Odilon Barret, Thiers. Erscheint euch das beruhigend oder gefahrdrohend?
Aber, werdet ihr sagen, wie lässt sich von diesem Gesichtspunkte aus das Problem lösen, das durch die Februarrevolution aufgestellt worden ist? Diese Frage lässt sich auch so ausdrücken: Was beschränkt noch in der Ordnung der ökonomischen Tatsachen die Ausübung der Freiheit, der individuellen, wieder allgemeinen Freiheit?
Meine Antwort soll offen und bestimmt sein. Ich will es sagen, welches die Fesseln sind, auf deren meiner Ansicht nach es ankommt, denn es ist augenscheinlich, dass wir uns nicht frei fühlen, und welches die Mittel sind, dazu zu gelangen. Ich will sagen, was ich vorschlagen würde, wenn ich Volksvertreter wäre; was ich tun würde, wenn ich eine Ministerstelle bekleidete; welches politische System nach Innen und nach Aussen hin ich annehmen würde, wenn ich die Regierung wäre; was ich dem Volke raten würde von der Nationalversammlung, das erste Mal, wo es sie besuchte, zu verlangen, wenn meine Ratschläge bei dem Volke entscheidendes Gewicht hätten; endlich was ich allen Freunden des Volkes anempfehle zu studieren, zu verhandeln, zu entwickeln und zu verbreiten, und dessen Anwendung zu verfolgen ich nie aufhören werde, bis man mir beweist, dass ich mich irre, dass es andere vorteilhaftere, unmittelbarere, spezifischere, entscheidendere, revolutionärere Mittel gibt, uns aus dem Abgrund zu ziehen.
Zunächst wollen wir es nicht machen, wie viele Ärzte, die über allem Forschen nach der Ursache der Krankheiten zuletzt die Krankheiten selbst vergessen und ihre Kranken sterben. Wir wollen nicht die unendliche Kette der Ursachen und Wirkungen zurückverfolgen;. wir wollen die Tatsache an sich betrachten und sagen die Ursache des Übels ist das Übel. Die Ursache der Krise ist die Krise. Die Arbeit ist unterbrochen, die Werkstätten sind geschlossen, die Warenlager bleiben gefüllt, der mangelnde Absatz ruft keine Produktion hervor, das Kapital entflieht, das Geld verschwindet, der Handel stockt, die Steuern gehen nicht ein, der Staat nähert sich dem Bankrott, der Arbeiter hat nichts zu essen und kämpft mit der Verzweiflung — mit einem Worte, die Zirkulation ist vernichtet. Das ist die Krise.
Die Gesellschaft lebt nicht mehr wie ehedem, von dem individuellen Eigentum; sie lebt von einer allgemeineren Tatsache, von Zirkulation. Alle Krankheiten, an denen heutzutage der soziale Körper darniederliegt, beziehen sich auf eine Stockung, auf eine Störung der Tätigkeit des Umlaufes. Wenn also der Umlauf, die Zirkulation leidet, wenn sie gehemmt ist, wenn der geringste politische Unfall genügt, um sie ganz zum Stillstehen zu bringen, so hat dies darin seinen Grund, dass die Anstalten dazu schlecht gemacht sind, dass die Zirkulation in Bewegungen gehemmt wird, dass sie in ihrem Organismus krankt.
Worauf beruht die Zirkulation in der Ökonomie der Gesellschaft? — Auf dem baren Geld.
Was ist ihr bewegendes Prinzip ? — Das Geld.
Was öffnet und verschliesst den Erzeugnissen die Türe des Marktes ? — Das Geld.
Wer ist der König des Tauschverkehrs, der Erzeuger des Handels, der Ausdruck der Werte? — Das Geld.
Also ist das Geld für die Zirkulation notwendig, unentbehrlich?
Das Herkommen erwidert auf diese Frage Ja; die Wissenschaft: Nein!
Die Produkte tauschen sich gegen Produkte aus, sagt die ökonomische Wissenschaft. Das heisst: der Austausch muss frei, direkt, unmittelbar, gleichmässig sein. Die Produkte tauschen sich gegen Geld aus, sagt das Herkommen. Das heisst das Geld ist nur ein Vermittler, ein Werkzeug des Wuchers, eine Fessel für die Freiheit des Austausches. Da ferner das Geld nicht umsonst tätig ist, bleibt nach diesem Systeme die Zirkulation einem fortwährenden Abgange der Werte unterworfen, und dieses unterhält zugleich die Auszehrung und die Vollblütigkeit in den verschiedenen Teilen des sozialen Körpers.
Das Geld ist also ein Hindernis für den Austausch, eine Fessel für die Handels- und Gewerbefreiheit, sowohl durch selbst, als überflüssiges Organ, als schmarozerische Tätigkeit, als auch durch das, was es kostet, als Ursache des Abganges. Das bare Geld entbehrlich machen, die Verzinsung des umlaufenden Kapitals zu beseitigen, das also ist die erste Fessel der Freiheit, deren Zerstörung durch die Errichtung einer Tauschbank ich vorschlage.
Ich habe anderswo die Grundlage und die Theorie dieser Bank, deren Formel oder schöpferische Idee die Generalisation des Wechselbriefes ist, ausführlich auseinandergesetzt.*) Ich habe gesagt, was in dem neuen Kreditsystem die Triebkraft der Zirkulation, was ihr Verfahren, ihr Unterpfand und ihre Gewährleistung sein würde. Ich habe bewiesen, dass die für das Land daraus hervorgehende Ersparnis nur an Diskonto mindestens 400 Millionen betragen würde. Ich will nicht auf dieses Problem zurückkommen, an welchem — dies ist mein lebhafter Wunsch — die
Kritik all ihre Strenge üben möge.
Aber die Tauschbank kann nur durch den Willen aller Bürger bestehen, wie sie ihre Macht aus deren freiem Beitritt schöpft. Diesen freien Beitritt aller Produzenten und Konsumenten nun, diese gegenseitige Einwilligung von 35 Millionen Bürgern würde keine Propaganda vielleicht in 20 Jahren durchsetzen, während es von der Regierung abhängt, sie in einer Woche herbeizuführen.
Ich sage, es hängt von der Regierung**) ab, in einer Woche die Revolution zu beenden.
(Aus "Revolutionäre Ideen")
Anmerkungen:
*) Man sehe meine Übersicht der sozialen Frage ("Die Tauschbank"). Resumé de la Question sociale (Banque d'Echange). Paris bei den Gebr. Garnier. Palais National.
**) Bekanntlich hat Proudhon diese irrtümliche Annahme von den Fähigkeiten einer Regierung gleich nach seinem Eintritt in die Nationalversammlung erkannt und später seine kurze, parlamentarische Periode als die verlorenste Zeit seines Lebens erklärt (Die Redaktion)
Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 5, November 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.