Pierre-Joseph Proudhon - Demokratie und Republik
Wir haben also die Theorie des allgemeinen Wahlrechts zu beurteilen. Oder, um gleich meinen ganzen Gedanken zu sagen: wir haben die Demokratie niederzureißen, wie wir die Monarchie niedergerissen haben: Dieser Übergang wird der letzte sein, ehe wir zur Republik kommen.
Nach der Theorie des allgemeinen Wahlrechts soll die Erfahrung gezeigt haben, daß der Mittelstand, der vor kurzem allein die politischen Rechte ausübte, das Volk nicht darstellte, sondern daß er zusammen mit der Monarchie im Gegenteil in ständiger Reaktion dem Volke entgegenarbeitete. Man schließt daraus, daß das ganze Volk seine Vertreter ernennen soll.
Aber wenn es sich so verhält mit einer Klasse, die den freien Aufschwung der Gesellschaft, die spontane Entwicklung der Wissenschaften und Künste, der Industrie und des Handels gab, die die Notwendigkeit der Einrichtungen aus der schweigenden Übereinstimmung oder notorischen Unfähigkeit der unteren Klassen folgerte; einer Klasse endlich, deren Talente und Reichtümer sie zur »natürlichen« Elite des Volkes stempelten; was ist da von einer Volksvertretung zu erwarten, die, aus mehr oder weniger vollständigen, mehr oder weniger klaren und freien Abstimmungen hervorgegangen, unter dem Einfluß von lokalen Leidenschaften und Standesvorurteilen, in ihrem Haß gegen Personen und Prinzipien handelt und letzten Endes nur eine »künstliche« Volksvertretung ist, von der Willkür der Wählerhorde erzeugt?
Wir werden, das gebe ich gerne zu, an Stelle einer natürlichen Aristokratie eine Aristokratie unserer Wahl haben; aber wenn es schon eine Aristokratie sein muß, so ziehe ich mit Guizot die des Schicksals der der Willkür vor: das Schicksal verpflichtet mich zu nichts.
Oder vielmehr, wir würden nur auf einem anderen Wege dieselben Aristokraten wieder zurückbringen, denn wen sollten sie wohl zu ihrer Vertretung ernennen, wenn nicht diese Gesellen, diese Journalisten, diese Hausknechte aus ihren Reihen?
Das Übergewicht in einer Regierung fällt also wohl oder übel auf die Männer, die in Bezug auf Talent und Vermögen das Übergewicht haben; und gleich beim ersten Schritte wird es offenbar, daß die soziale Reform niemals aus der politischen Reform hervorgehen kann; daß im Gegenteil die politische Reform aus der sozialen hervorgehen muß.
Die Illusion der Demokratie besteht darin, daß sie nach dem Beispiel der konstitutionellen Monarchie die Regierung auf repräsentativem Wege zu bilden strebt ... Was sie will, ist immer die Ungleichheit der Vermögen, immer der Befehl des Herrschers, immer die Regierung der Standespersonen. Anstatt wie Thiers zu sagen: »Der König regiert, aber er herrscht nicht«, sagt die Demokratie: »Das Volk regiert, aber es herrscht nicht«, was die Leugnung der Revolution bedeutet ...
Wenn man also heut davon spricht, für eine repräsentative Monarchie eine repräsentative Demokratie einzusetzen, so dreht man nur den Satz um: »Schönste Herzogin, ich sterbe vor Liebe zu Ihren schönen Augen« in den folgenden: »Vor Liebe, schönste Herzogin, zu Ihren schönen Augen sterbe ich«, und man kann wohl sagen, um einen Fachausdruck zu gebrauchen: die Revolution ist eskamotiert.
Aber Geduld! Wenn es auch im Augenblick schwierig erscheinen mag, diesem Entweder-Oder in der Regierung zu entgehen, so wird die Verlegenheit nicht von langer Dauer sein. Das Vertretungswesen ist auf den Barrikaden gefallen, um sich nie wieder zu erheben. Die konstitutionelle Demokratie ist mit der konstitutionellen Monarchie dahingegangen. Der Februar ist (nach lateinischer Ableitung des Wortes) der Monat der Begräbnisse. Die soziale Reform wird die politische Reform mit sich bringen; der Geist der ersteren bedingt den Geist der letzteren. Wir bekommen die Regierung des Volkes durch das Volk, und nicht durch eine Vertretung des Volkes; wir bekommen, sage ich, die Republik, oder die Demokratie richtet uns ein zweites Mal zugrunde.
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Da das Volk nach der Ideologie der Demokraten sich nicht selbst regieren kann und gezwungen ist, sich Vertreter zu wählen, die es in seinem Auftrag regieren, die nach Gutdünken wieder abgesetzt werden können, nimmt man an, das Volk sei wenigstens fähig, sich vertreten zu lassen, und könne wahrheitsgetreu vertreten werden. Nun, diese Hypothese ist grundfalsch; eine berechtigte Vertretung des Volkes gibt es nicht und kann es niemals geben. Alle Wahlsysteme sind Werkzeuge der Lüge; wenn man nur ein einziges kennt, weiß man genug, um alle zu verdammen.
Nehmen wir das der provisorischen Regierung. Wenn eine Theorie im Namen des Volkes hervortritt, so muß sie sich in Bezug auf Logik, Gerechtigkeit, Überlieferungen, Tendenzen, Einheitlichkeit, wie auch in Bezug auf den Ausdruck, als untadelhaft erweisen. Ich erkenne die Stimme des Volkes ebensowenig in den Büchern Fouriers wie im Pere Duchene.
Das System der provisorischen Regierung macht den Anspruch, allgemein zu sein. Aber man kann tun, was man will, es wird immer in jedem Wahlsystem ausgeschlossene, fehlende, ungültige, irrtümliche oder unfreie Stimmen geben.
Der kühnste Neuerer hat noch nicht das Wahlrecht für Frauen, Kinder, Dienstboten und Sträflinge zu fordern gewagt. Vier Fünftel des Volkes sind also nicht vertreten, sind von der Gemeinschaft des Volkes abgeschnitten. Warum?
Ihr setzt die Wahlreife auf 21 Jahre fest; warum nicht auf 20? Warum nicht auf 19, 18, 17? ... Macht ein Jahr, ein Tag den Verstand des Wählers aus? Die Barra, die Viala sind unfähig, mit Verständnis zu wählen; die Fouché, die Hébert werden für sie wählen.
Ihr laßt die Frauen aus. Ihr habt also das große Problem der Minderwertigkeit des Geschlechtes gelöst! Keine Ausnahme für Lukrezia, Cornelia, Jeanne d’Arc und Charlotte Corday, eine Roland, eine Staäl, eine George Sand finden keine Gnade vor eurer Männlichkeit! Die Jakobiner ließen Strickerinnen zu ihren Sitzungen zu, und ich habe nie gehört, daß die Gegenwart der Bügerinnen den Mut der Bürger geschwächt hätte!
Ihr haltet die Dienstboten fern. Wer sagt euch denn, ob dieses Gewand der Knechtschaft nicht eine großzügige Seele verhüllt, ob in diesem Dienerherzen nicht ein Gedanke lebt, der die Republik retten wird? Ist die Rasse Figaros ausgestorben? Das ist die eigene Schuld dieses Mannes, werdet ihr sagen; warum ist er bei seinen Fähigkeiten Dienstbote? Und warum gibt es Dienstboten?
Ich will das Volk in seiner Mannigfaltigkeit und großen Masse sehen und hören; jedes Alter, jedes Geschlecht, jede Lebenslage, jede Tugend, jedes Elend; denn das alles ist das Volk.
Ihr behauptet, es gäbe ernste Gefahren für die gute Disziplin, für den Frieden des Staates und die Ruhe der Familien, wenn die Frauen, Kinder und Dienstboten dieselben Rechte erhielten wie die Gatten, Väter und Dienstherren; und daß außerdem durch die Gleichheit der Interessen und die Bande der Familie die ersteren durch die letzteren genügend vertreten werden.
Ich gebe zu, daß der Einwand ernsthaft ist, und ich will ihn nicht widerlegen. Aber bedenkt: ihr könnt mit demselben Recht die Proletarier und alle Handwerker ausschließen. Sieben Zehntel dieser Klasse empfangen von der öffentlichen Wohltätigkeit Unterstützungen; sie werden also für eine Zivilliste, Gehaltsaufbesserungen, Arbeitseinschränkungen für sich selbst stimmen; und ich versichere euch, sie werden es erreichen, sobald ihre Abgeordneten sie vertreten, Die Proletarier werden in der Nationalversammlung das sein, was die Beamten in der Kammer Guizots waren: Richter in ihrer eigenen Sache, kraft der Budgetaufstellung und ohne Risiko dabei, die vollkommene Diktatur bis der allgemeine Bankrott, wenn das Kapital durch Steuern erschöpft ist und das Vermögen nichts mehr hervorbringt, das parlamentarische Bettlertum zersprengt.
Und wie wollt ihr all die Bürger zählen, die Arbeit, Krankheit, Reisen oder Mangel an Geld, um sich zu den Wahlen zu begeben, zwingen, sich der Wahl zu enthalten? Geht es nach dem Sprichwort: wer nichtsgsagt, ist einverstanden? Aber womit einverstanden? Mit der Meinung der Mehrheit oder mit der der Minderheit? ...
Und diejenigen; die nur in der Begeisterung, aus Nachgiebigkeit oder eigenem Interesse oder im Vertrauen auf das republikanische Komitee oder auf ihren Pfarrer wählen, was haltet ihr von denen? Es ist ein alter Grundsatz, daß man bei jedem Beschluß die Stimmen nicht nur zählen, sondern wägen soll. Bei euren Abstimmungen aber zählt die Stimme eines Arago, eines Lamartine nicht mehr als die eines Bettlers. Wollt ihr behaupten, daß die verdienstvollen Männer die ihnen gezollte Beachtung dem Einfluß verdanken, den sie auf die Wähler ausüben? Dann sind die Stimmen unfrei. Wir hören die Stimme der Kapazitäten und nicht die des Volkes. Ebensogut könnte man das 200 Fr.—System beibehalten.
Man hat dem Heere das Stimmrecht gegeben. Das bedeutet folgendes: Der Soldat, der nicht wie der Hauptmann wählt, kommt ins Arrestlokal; der Hauptmann, der nicht wie der Oberst wählt, bekommt Arrest, und der Oberst, der nicht wie die Regierung wählt, wird verabschiedet. Ich will die materiellen und moralischen Unmöglichkeiten, von denen die von der provisorischen Regierung angenommene Methode strotzt, mit Stillschweigen übergehen. Es ist eine angenommene Meinung, daß die provisorische Regierung, indem sie die Volksvertretung verdoppelt und durch Listenwahl abstimmen läßt, die Bürger nicht über die Männer, sondern über das Prinzip entscheiden lassen will; ganz nach Art der alten Regierung, die auch über das System, und nicht über die Männer, abstimmen ließ. Wie sollte man die Wahl von 10, 15, 25 Abgeordneten erörtern? Wie sollte man bei einer Wahl, in der jeder Bürger frei und sachkundig einen Stimmzettel in die Urne legt, die Stimmen zählen? Wie sollte man solche Wahlen zu Ende bringen, wenn sie ernsthaft wären? Augenscheinlich ist das unmöglich.
Ich erörtere nicht, sondern wiederhole diese rein materielle Seite der Frage: ich halte mich an das Recht. Was man früher der Bestechlichkeit verdankte, erreicht man heute durch die Unfähigkeit. Man sagt dem Wähler: Dies hier sind unsere Freunde, die Freunde der Republik; und das dort unsere Gegner, die auch die Gegner der Republik sind: wählet! Und der Wähler, der die Tauglichkeit der Kandidaten nicht beurteilen kann, wählt in blindem Vertrauen! Anstatt die Abgeordneten, wie unter der gestürzten Regierung, in jedem Bezirk ernennen zu lassen, läßt man sie provinzweise wählen. Durch diese Maßregel hat man den Lokalgeist vernichten wollen. Ja, so sicher sind die Demokraten ihrer Grundsätze!
Wenn die Abgeordneten, so sagen sie, von den einzelnen Bezirken ernannt würden, so wäre nicht Frankreich vertreten, sondern die Bezirke. Die Nationalversammlung wäre nicht mehr die Vertretung des Reiches, sondern ein Kongreß von 495 Vertretungen. Warum, entgegne ich euch, laßt ihr dann nicht von jedem Wähler die Abgeordneten von ganz Frankreich bestimmen? Das wäre wünschenswert, antwortet ihr, aber es ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Ich bemerke zunächst, daß mir jedes System, das nur wahr sein kann, wenn es unmöglich ist, recht armselig vorkommt. Aber die Demokraten scheinen mir hierin merkwürdig inkonsequent und leicht aus der Fassung gebracht. Wenn die Volksvertreter weder die Provinzen, noch die Bezirke, noch die Städte, noch die Dörfer, noch die Industrie, noch den Handel, noch die Landwirtschaft, noch die Sonderinteressen — sondern nur Frankreich vertreten sollen, warum hat man dann bestimmt, daß auf 40.000 Einwohner ein Abgeordneter kommen soll? Warum nicht auf 10.000 oder 20.O00? Genügen 90 nicht, anstatt 900? Konntet ihr in Paris nicht eure Liste auflegen, wie die Legitimisten, die Konservativen, die Monarchisten die ihre? War es schwerer, eine Liste von 90 Nummern zu wählen, als eine von 15?
Aber wer sähe nicht, daß Abgeordnete, die so außerhalb alles Sonderinteresses, aller Rücksicht auf Ort und Personen gewählt sind, gerade weil sie Frankreich vertreten sollen, absolut nichts vertreten; daß sie nicht mehr Bevollmächtigte des Volkes, sondern Senatoren sind, und daß wir an Stelle einer repräsentativen Demokratie, eine auf Wahl begründete Oligarchie haben, das Mittelding zwischen Demokratie und Königtum?
Dahin, Bürger und Leser, wollte ich dich bringen. Von welcher Seite du auch die Demokratie betrachtest, wirst du sie immer zwischen zwei Extremen sehen, die beide ihrem Prinzip in gleicher Weise entgegengesetzt sind; wirst du sie verdammt sehen, zwischen dem Sinnlosen und dem Unmöglichen hin und her zu schwanken, ohne jemals einen festen Punkt zu finden...
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Um seinen Auftraggeber zu vertreten, muß der Abgeordnete alle Ideen vertreten, die bei der Wahl mitgewirkt haben. Bei dem Wahlsystem aber repräsentiert der Abgeordnete, der sogenannte Gesetzgeber, der von den Staatsbürgern abgesandt ist, um im Namen des Volkes alle Ideen und alle Interessen in Einklang zu bringen, immer nur eine Idee, nur ein Interesse; die übrigen sind unbarmherzig ausgeschlossen. Denn wer ist maßgebend in den Wahlen? Wer bestimmt die Ernennung der Abgeordneten? Die Mehrheit, eine mehr als die Hälfte der Stimmen. Daraus folgt, daß weniger als die Hälfte der Wähler nicht oder gegen ihren Willen vertreten sind; daß von allen Meinungen, die die Bürger trennen, eine einzige die Gesetzgebung bestimmt, und das auch nur, wenn der Abgeordnete eine Meinung hat, und endlich, daß das Gesetz, das der Ausdruck des Volkswillens sein sollte, nur der Ausdruck der Hälfte des Volkes ist.
So daß in der Theorie der Demokraten das Problem der Regierung darin besteht, durch den Mechanismus des angeblich allgemeinen Wahlrechts alle Ideen, die die öffentliche Meinung bewegen, außer einer, wegzuräumen, und die eine, die die Mehrheit hinter sich hat, zur Alleinherrscherin zu erheben. Aber, wird man vielleicht sagen, die Idee, die in dem einen Wahlbezirk unterliegt, kann in einem anderen den Sieg davontragen, und auf diese Weise können alle Ideen auf der Nationalversammlung vertreten sein. Wenn dem so wäre, wäret ihr der Schwierigkeit nur aus dem Wege gegangen; denn es handelt sich darum, zu wissen, wie sich all diese auseinandergehenden und sich bekämpfenden Ideen im Gesetze treffen und sich darin vereinigt finden können.
So ist die Revolution, nach der Meinung der einen, nur ein Zufall, der nichts an der allgemeinen Ordnung der Gesellschaft ändern soll. Nach der Meinung der andern ist die Revolution noch mehr sozial als politisch. Wie soll man so offensichtlich unvereinbare Ansprüche befriedigen? Wie gleichzeitig der Bourgeoisie Sicherheiten und dem Proletariat Bürgschaften geben? Wie sollen diese entgegengesetzten Wünsche, diese sich gegenüberstehenden Tendenzen in einer gemeinsamen Resultante, in dem einheitlichen und allgemeinen Gesetz verschmelzen?
Die Demokratie ist weit davon entfernt, den Knoten lösen zu können; ihre ganze Kunst ist, ihn zu durchhauen. Sie verläßt sich auf die Urne; die Urne ist gleichzeitig der Niveaumesser, die Waage und der Prüfstein der Demokratie. Mit der Wahlurne eliminiert sie die Menschen, mit der Gesetzurne die Ideen.
Vor kaum einem Monat rief man in allen Tonarten über das 200-Fr.- Wahlsystem: Wie, ein Franc, ein Centime macht zum Wähler! ... Ist es nicht immer wieder dasselbe? Wie, eine Stimme macht zum Volksvertreter, eine Stimme soll das Gesetz machen! In einer Frage, von der die Ehre und das Heil der Republik abhängt, sind die Bürger in zwei gleiche Teile gespalten. Von beiden Seiten führt man die ernstesten Gründe, die schwerwiegendsten Autoritäten, die positivsten Tatsachen an. Die Nation ist im Zweifel, die Versammlung unentschieden. Ein Volksvertreter geht ohne ersichtlichen Grund von rechts nach links über und bringt die Waage zum Sinken; der macht das Gesetz.
Und dies Gesetz, der Ausdruck irgendeines phantastischen Willens, wird dann für den Ausdruck des Volkswillens gehalten! Ich muß mich ihm unterwerfen, ihn verteidigen, für ihn sterben! Um einer parlamentarischen Laune willen verliere ich das köstlichste meiner Rechte, verliere ich die Freiheit! Und meine heiligste Pflicht, mich der Tyrannei mit Gewalt entgegenzusetzen, fällt vor der allmächtigen Stimmkugel eines Dummkopfs!
Die Demokratie ist nichts anderes als die Tyrannei der Majoritäten, die abscheulichste Tyrannei von allen; denn sie stützt sich nicht auf die Autorität einer Religion, nicht auf den Adel der Rasse, nicht auf den Vorzug des Talents und des Reichtums: sie beruht nur auf der Zahl und hat als Maske den Namen des Volkes ...
Wenn das allgemeine Wahlrecht, die vollkommenste Manifestation der Demokratie, so viel Anhänger, besonders unter den arbeitenden Klassen, erworben hat, so kommt das daher, daß man es immer als einen Appell an die Fähigkeiten und Leistungen, wie auch an den gesunden Menschenverstand und die Moral der Massen hingestellt hat. Wie oft hat man nicht den schmachvollen Gegensatz hervorgehoben zwischen dem Spekulanten, der durch Erpressungen politischen Einfluß erlangt hat, und dem genialen Manne, den Armut von der politischen Szene fernhielt! ...
Endlich sind wir alle Wähler; wir können die Würdigsten wählen. Wir können mehr, wir werden ihnen Schritt für Schritt bei ihrer Gesetzgebung und ihren Abstimmungen folgen; wir werden ihnen unsere Gründe und Schriftstücke übermitteln, unseren Willen dartun, und wenn wir unzufrieden sind, werden wir sie abberufen. Die Wahl der Fähigsten, das Zwangsmandat, die ständige Absetzbarkeit sind die unmittelbarsten und unleugbarsten Folgen des Wahlprinzips. Das ist das unvermeidliche Programm aller Demokratie. Nun macht sich aber die Demokratie ebensowenig wie die konstitutionelle Monarchie eine solche Deduktion ihres Prinzips zu eigen.
Was die Demokratie wie die Monarchie verlangt, das sind stumme Abgeordnete, die nicht streiten, sondern zustimmen, die, wenn sie von der Regierung das Kommando erhalten, mit ihren dichten Bataillonen den Gegner zermalmen. Das sind passive Kreaturen, ich hätte fast gesagt Schergen, die die Gefahr einer Revolution nicht einschüchtert, deren Verstand nicht zu aufrührerisch ist, deren Gewissen vor keiner Willkür, vor keiner Achtung zurückschreckt. Ihr werdet sagen, das heißt den Widerspruch bis zur Verleumdung treiben. Beweisen wir also den Widerspruch faktisch und rechtlich; das wird nicht lange dauern. Jeder hat das Rundschreiben des Ministers des öffentlichen Unterrichts an die Rektoren bezüglich der Wahlen gelesen, und jeder hat folgende Stelle gefunden: »Der größte Irrtum unserer Landbevölkerung ist der, daß man Bildung oder Vermögen haben muß, um Volksvertreter zu werden. Der größere Teil der Versammlung spielt die Rolle der Geschworenen, entscheidet mit »Ja« oder »Nein«, ob das, was die Elite der Mitglieder vorschlägt, gut oder schlecht ist. Er bedarf nur der Ehrlichkeit und des gesunden Menschenverstandes, er braucht nicht erfinderisch zu sein. — Das ist das Grundprinzip des republikanischen Rechts.«
Daran knüpft der Minister den Wunsch, die Elementarlehrer möchten sich als Wahlkandidaten aufstellen lassen, nicht weil sie genügend aufgeklärt, sondern obgleich sie nicht genügend aufgeklärt sind. — Aus je größerer Tiefe sie emporsteigen, zu desto größerer Höhe gelangen sie; was für einen Mathematiker unbestreitbar ist.
Wenn sich der Minister, überzeugt von der notorischen Fähigkeit einer großen Anzahl achtbarer Lehrer, damit begnügt hätte, sie als unter den Scheffel gestellte Lichter hinzustellen, die der Regierungsantritt der Demokratie zum Vorschein bringen sollte, so hätte das Schreiben meinen Beifall. Aber wer sähe nicht, daß der Elementarlehrer in den Augen des Ministers die neidische Mittelmäßigkeit ist, die nichts »erfunden« hat und nichts »erfinden« wird und dazu ausersehen ist, dem Kampfe gegen die Reichen und der demokratischen Willkür mit seiner stillschweigenden Zustimmung zu dienen? Aus diesem Grunde protestiere ich gegen diese Kandidatur, gegen diese — sagen wir es gerade heraus — Prostitution der Lehrer.
Also gerade so, wie sich die konstitutionelle Monarchie mit einer Aristokratie des Talentes und des Vermögens zu umgeben suchte und sich so an die Notabeln hielt, so setzt die Demokratie, die Karikatur dieses Systems, ihr Patriziat aus Mittelmäßigkeiten zusammen. Und das ist nicht etwa, wie man glauben könnte, die persönliche Ansicht des Ministers; ich werde sogleich beweisen, daß es der Extrakt der Demokratie ist. — Ich führe noch eine Tatsache an.
Alle Autoren des Staatsrechts, besonders die Demokraten, sprechen sich gegen das Zwangsmandat aus; sie alle erklären es einstimmig für unpolitisch, widerrechtlich, einen Druck des Landes auf die Regierung begünstigend, beleidigend für die Würde des Abgeordneten usw. Das Zwangsmandat ist von allen Seiten verdammt worden. Im Zivilrecht wäre es etwas Ungeheuerliches, wenn das Mandat weniger Autorität als der Mandatar hätte, in der Politik ist es gerade entgegengesetzt. Hier wird der Mandatar Richter und Schiedsmann über die Interessen seines Auftraggebers. Was nach dem Gesetzbuch rechtgläubig ist, ist nach der Ordnung der konstitutionellen Ideen ketzerisch; das ist eine der tausend Anomalien des menschlichen Geistes.
Was die Dauer des Mandats betrifft, die im Zivilrecht nach Belieben zu beenden ist, so ist sie in der Politik unabhängig vom Willen des Wählers. In all unseren Verfassungen hat die Dauer des Mandats von einem bis sieben Jahren geschwankt, je nach Übereinkunft nicht der regierten, sondern der regierenden Staatsbürger.
Es ist also eine selbstverständliche, durch die Doktrin der Autoren wie durch die Rundschreiben der Minister bestätigte Tatsache, daß in jeder Art Regierung dem Abgeordneten und nicht dem Lande die Macht gehört; daß die Monarchie ihn zu diesem Zweck fähig oder reich, und die Demokratie unfähig oder arm will; daß beide verlangen, daß er Vollmacht über seine Stimme habe, d.h. Vollmacht, sie zu verschachern und zu verkaufen; daß das Mandat eine festgesetzte Dauer von mindestens einem Jahr habe, während der die Regierung, im Einverständnis mit den Abgeordneten, tut, was ihr beliebt, und ihren willkürlichen Handlungen Gesetzeskraft verleiht. Ist es anders möglich? Nein, und die Erörterung der Rechtsfrage erfordert keine lange Rede.
Das gescheiterte System ließ sich definieren als: die Regierung der Gesellschaft durch die Bourgeoisie, d.h. durch die Aristokratie des Talents und des Vermögens. Das System, an dessen Aufbau man in diesem Augenblick arbeitet, die Demokratie, läßt sich im Gegensatz dazu definieren als: die Regierung der Gesellschaft durch die erdrückende Mehrheit der Staatsbürger, die wenig Talent und kein Vermögen haben. Die Ausnahmen, auf die man in dem einen wie in dem andern System stoßen kann, haben nichts mit dem Prinzip zu tun und ändern nichts an der Tendenz.
Unter der repräsentativen Monarchie ist es verhängnisvoll, daß das Volk von der Bourgeoisie ausgebeutet wird, und unter der demokratischen Regierung, daß es vom Proletariat ausgebeutet wird. Wer aber einen Zweck erreichen will, darf sich nicht vor den Mitteln scheuen.
Wenn die monarchistische Volksvertretung aus Abgeordneten gebildet wäre, die das Zwangsmandat haben, auf Wunsch der Wähler abberufen werden könnten, so würde die Bourgeoisie bald ihre Vorrechte einbüßen, und das Königtum, das sie personifiziert, würde auf Null reduziert. Ebenso würde die Diktatur der Massen sehr schnell in sich zusammenfallen, und der Proletarier in sein Proletariat zurückkehren, wenn die demokratische Versammlung aus bürgerlichen, wissenden und vermögenden Machthabern zusammengesetzt wäre, die ihrem Grundsatz treu ergeben wären und, wenn sie ihn verrieten, von einem Augenblick zum andern abgelöst werden könnten.
Es ist also notwendig, daß sich jede Regierungsform die Lebensbedingungen gibt, die ihrer Natur am besten entsprechen: daher der Widerstand von Guizot gegen die Wahlreform; daher das allgemeine Wahlrecht und das Rundschreiben von Carnot.
Da aber etwas, was eine Klassenscheidung des Volkes hervorruft, nicht von Dauer sein kann, ist es auch unvermeidlich, daß die Formen der Tyrannei, eine nach der andern, untergehen müssen, und zwar immer durch die gleiche Ursache, die bürgerliche Tyrannei durch das Elend des Proletariats, die proletarische Tyrannei durch den Verfall des Bürgertums, der mit dem allgemeinen Elend gleichbedeutend ist ...
Die Bourgeoisie, müde der Schandtaten ihrer eigenen Regierung, marschierte unbewußt unter den Rufen: »Es lebe die Reform!« auf die Republik zu. Die arbeitenden Massen, die den Ruf nach »Reform« mit Begeisterung wiederholten und dem Bürgertum mit Auge und Mund schmeichelten, marschierten gleichfalls unbewußt auf die Republik zu. Die Verschmelzung der Ideen und der Herzen war vollkommen, das Ziel war dasselbe, obgleich niemand den Weg kannte, den man eingeschlagen hatte.
Vom 25. Februar an entartete die Revolution aus Unverstand. Aus einer sozialen, die sie für jedermann war, wurde sie wieder zu einer politischen, denn es ist immer politisch, unter dem Vorwande der Organisation die freie Arbeit im Zwange des Staates aufgehen zu lassen; und die einen Augenblick lang ausgelöschte Demarkationslinie zwischen der Bourgeoisie und dem Volke zeigte sich wieder tiefer und breiter als je. Unfähig, das republikanische Ideal zu erfassen, der demagogischen und merkantilen Routine ausgeliefert, arbeitet die provisorische Regierung daran, nicht die Arbeit, sondern den Bürgerkrieg und ein entsetzliches Elend zu organisieren.
Wenn die Nationalversammlung nicht dieser verwerflichen Politik ein Ende macht, so wird Frankreich bald durch die schmerzlichste Erfahrung lernen, was für ein Unterschied zwischen der Republik und der Demokratie besteht.
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Wenn die Monarchie der Hammer ist, der das Volk zermalmt, so ist die Demokratie, die Axt, die es spaltet: beide laufen gleichmäßig auf den Mord der Freiheit hinaus.
Das allgemeine Wahlrecht ist eine Art Atomismus, durch die der Gesetzgeber, da er das Volk nicht in der Einheit seines eigentlichen Wesens sprechen lassen kann, die Staatsbürger auffordert, ihre Ansicht pro Kopf, Mann für Mann zu äußern, genau wie der epikureische Philosoph die Empfindungen, den Willen, den Verstand aus Verbindungen von Atomen erklärt. Das ist der politische Atheismus in des Wortes schlimmster Bedeutung. Als ob aus der Addition einer x-beliebigen Menge von Stimmen jemals eine allgemeine Idee resultieren könnte!
Erst vor einem halben Jahrhundert hat die Geschichte angefangen, vor uns die Schleier zu lüften; die Ideen, die einst in Rom, in Athen, in Jerusalem, in Memphis sich regten, haben erst die Menschen unserer Zeit erleuchtet. Das Volk hat gesprochen, ganz ohne Zweifel; aber seine Worte sind in den vielen einzelnen Stimmen untergegangen und von niemandem verstanden worden. Das Licht, das die antiken Ideen in sich tragen, ist den Zeitgenossen verborgen geblieben. Es hat zum erstenmal in den Augen eines Vico, eines Montesquieu, eines Lessing, eines Guizot, eines Thierry und ihrer Jünger geleuchtet. Sollen wir uns nun auch für die Nachwelt gegenseitig umbringen?
Das sicherste Mittel, das Volk zum Lügen zu bringen, ist die Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Die Abstimmung pro Kopf über die Regierung und als Mittel, den Volkswillen festzustellen, ist ganz dasselbe, was in der Volkswirtschaft eine neue Teilung der Erde wäre. Es ist das Gesetz des Bodens, von der Erde auf den Staat übertragen. Weil die Autoren, die sich zuerst mit dem Ursprung der Regierungen befaßt haben, gelehrt haben, alle Macht entspringe aus der Volks-Souveränität, so hat man geschickt gefolgert, daß es das beste sei, alle Staatsbürger mündlich, durch Hammelsprung oder durch Stimmzettel wählen zu lassen, und daß die Mehrheit der so abgegebenen Stimmen dem Willen des Volkes entspreche. Man hat uns zu den Sitten der Barbaren zurückgeführt, die, in Ermangelung von Urteilskraft, Akklamation und Wahl benutzten. Man hat ein materielles Symbol für die wahre Formel der Souveränität gehalten. Und man hat den Proletariern gesagt: Wenn ihr stimmt, werdet ihr frei, werdet ihr reich sein; dann werdet ihr über das Kapital, das Erzeugnis und das Gehalt bestimmen, dann werdet ihr, wie ein neuer Moses, Wachteln und Manna vom Himmel regnen lassen; ihr werdet wie Götter sein, denn ihr werdet nicht mehr arbeiten, oder,wenn ihr arbeitet, werdet ihr so wenig arbeiten, daß es so gut wie gar nichts ist.
Was man auch tue und sage, das allgemeine Wahlrecht, ein Beweis der Uneinigkeit, kann nur Uneinigkeit hervorbringen. Und mit dieser elenden Idee, ich schäme mich für mein Vaterland, regt man seit siebzehn Jahren das arme Volk auf! Dafür haben Bürger und Arbeiter in siebzig Banketten im Chor die Marseillaise gesungen, um sich, nach einer ebenso glorreichen wie gesetzmäßigen Revolution, einer Sekte von Doktrinären zu überlassen. Sechs Monate lang sind die Abgeordneten der Opposition wie verabschiedete Komödianten durchs Land gezogen, und was haben sie uns als Frucht ihrer Benefizvorstellungen an Stelle des politischen Vorrechts mitgebracht? Das politische Bodengesetz! Unter diesem Banner der Zwietracht wollen wir die Initiative des Fortschritts beibehalten, in der Eroberung der Freiheit allen Nationen als Vorkämpfer voranschreiten, die Harmonie auf dem Erdball inaugurieren. Gestern sahen wir mitleidig auf die Völker herab, die sich nicht, wie wir, zu den Höhen der Verfassung hinaufzuschwingen vermochten. Heut beklagen wir sie noch, obgleich wir hundertmal tiefer gesunken sind; mit hunderttausend Bajonetten würden wir ausziehen, um sie zu bewegen, die Wohltaten des demokratischen Absolutismus mit uns zu teilen. Und wir sind die große Nation! O, schweigt still; und wenn ihr weder große Dinge tun noch große Gedanken aussprechen könnt, so bewahrt uns wenigstens den gesunden Menschenverstand.
Ob ihr nun acht Millionen Wähler oder achttausend habt, darum wird eure Volksvertretung, was sie auch für Eigenschaften hat, nicht mehr und nicht weniger wert sein.
Ob ihr nun neunhundert Abgeordnete festsetzt oder neunzig, darum wird das Gesetz, das sie machen, sei es plebejisch oder bürgerlich, nicht besser und nicht schlechter sein.
Wenn ich auf die Nationalversammlung einige Hoffnung gründe, so tue ich das weniger wegen ihres Ursprungs und der Zahl ihrer Mitglieder, als auf Grund der Ereignisse, die nicht verfehlen können, sie zu beraten, und auf Grund der allgemeinen Vernunft, die der Nationalversammlung sein wird, was dem Photographen das Licht ist.
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In der Monarchie sind die Handlungen der Regierung eine Entfaltung der Autorität, in der Demokratie Begründungen der Autorität. Die Autorität, die in der Monarchie der Ursprung der Regierung ist, ist in der Demokratie das Ziel. Es folgt daraus, daß die Demokratie unvermeidlich rückschrittlich ist und sich widerspricht.
Versetzen wir uns an den Ausgangspunkt der Demokratie, den Augenblick der allgemeinen Wahl. Alle Staatsbürger sind gleich und unabhängig. Die Zusammenfassung der allgemeinen Gleichheit ist der Ausgangspunkt der Macht: sie ist die Macht selbst in ihrem höchsten Ausdruck, in ihrer Fülle.
Nach dem demokratischen Grundsatz sollen alle Staatsbürger teilhaben an der Bildung des Gesetzes, an der Regierung des Staates, an der Verwaltung der öffentlichen Ämter, an der Diskussion des Budgets, an der Ernennung der Beamten. Alle sollen befragt werden und ihre Meinung äußern über Krieg und Frieden, Handels- und Bündnisverträge, koloniale Unternehmungen, öffentliche Arbeiten, festzusetzende Belohnungen, aufzuerlegende Strafen; alle endlich sollen dem Vaterland ihre Schuld abtragen als Steuerpflichtige, Geschworene, Richter und Soldaten.
Wenn die Dinge diesen Verlauf nehmen könnten, wäre das Ideal der Demokratie erreicht; sie hätte eine normale Existenz, sie würde sich, wie alles, was Leben und Entwicklung hat, ganz in dem Sinne ihres Prinzips entwickeln. So wird aus der Eichel die Eiche und aus dem Embryo das Tier; und so sind die Geometrie, die Astronomie und die Chemie die Entwicklung einer kleinen Zahl von Elementen ins Unendliche.
Ganz anders verhält es sich mit der Demokratie, die, den Autoren zufolge, nur im Augenblick der Wahlen und zur Bildung der gesetzgebenden Gewalt ganz rein existiert. Sowie dieser Augenblick vorüber ist, zieht sich die Demokratie in sich selbst zurück und beginnt ihre antidemokratische Arbeit; sie wird Autorität. Die Autorität war das Idol von Guizot; sie ist auch das Idol der Demokraten.
Es ist in der Tat nicht wahr, daß die Staatsbürger in irgendeiner Demokratie an der Bildung des Gesetzes teilhaben: Dies Vorrecht ist den Volksvertretern vorbehalten.
Es ist nicht wahr, daß sie über alle inneren und äußeren öffentlichen Angelegenheiten beraten; das ist das Vorrecht nicht einmal mehr der Volksvertreter, sondern der Minister. Die Staatsbürger veranlassen die Geschäfte; die Minister allein entscheiden darüber.
Es ist nicht wahr, daß jeder Staatsbürger ein öffentliches Amt bekleidet: Diese Ämter müssen als unproduktiv so sehr wie möglich eingeschränkt werden und schließen also von Natur die überwältigende Mehrheit der Staatsbürger aus. Früher, bei den Griechen, nahm jeder Bürger ein vom Staatsschatz bezahltes Amt ein; in dieser Beziehung wurde das Ideal der Demokratie in Athen und Sparta verwirklicht. Aber die Griechen lebten von der Arbeit der Sklaven, und der Krieg füllte ihren Schatz auf; die Abschaffung der Sklaverei und die immer steigende Schwierigkeit in der Kriegführung haben die Demokratie bei den modernen Völkern unmöglich gemacht.
Es ist nicht wahr, daß die Staatsbürger an der Ernennung der Beamten teilhaben; zudem ist diese Teilnahme wie die vorhergehende unmöglich, weil sie die Anarchie im schlechten Sinne des Wortes zur Folge haben würde. Sondern die Regierung ernennt ihre Untergebenen, bald ganz willkürlich, bald nach gewissen Zulassungs- und Beförderungsbedingungen; die Ordnung und Disziplin der Beamten, die Zentralisierung erfordern das so ...
Endlich ist es nicht wahr, daß alle Staatsbürger am Rechtswesen und am Kriege teilhaben: als Richter und Offiziere sind die meisten ausgeschaltet; ihrer Pflicht als Geschworene und gemeine Soldaten entziehen sie sich, wo sie können. Mit einem Wort, da die Hierarchie in der Regierung die erste Bedingung der Regierung ist, ist die Demokratie ein Hirngespinst.
Die Begründung, die alle Autoren dafür geben, verdient, daß man sie prüfe. Das Volk, sagen sie, ist infolge seiner Unwissenheit außerstande, sich selbst zu regieren; und wenn es zu regieren verstände, könnte es sich doch nicht regieren. Es können nicht alle zu gleicher Zeit befehlen und herrschen; die Gewalt muß in den Händen von einigen wenigen liegen, die sie in aller Namen und durch Abordnungen aller ausüben.
Sei es Unwissenheit, sei es Ohnmacht, genug, nach der demokratischen Theorie ist das Volk unfähig, sich zu regieren: nachdem sie sich die Souveränität des Volkes zum Prinzip gemacht hatte, endet die Demokratie wie die Monarchie mit der Erklärung der Regierungsunfähigkeit des Volkes.
So verstehen es unsere Demokraten, die, einmal an der Regierung, nur daran denken, die Madit in ihrer Hand zu sichern und zu festigen. So hat es die Menge verstanden, die die Tore des Rathauses stürmte und Ämter, Geld, Arbeit, Kredit und Brot forderte! Das ist ganz unser Volk, monarchisch bis ins Mark, die Macht anbetend, ohne individuelle Tatkraft und republikanische Initiative, gewohnt, alles von der Gewalt zu erwarten und nichts ohne den Zwang der Gewalt zu tun. Wenn uns die Monarchie nicht von oben kommt, wie einstmals, oder vom Schlachtfelde, wie im jahre 1800, oder auf dem Wege der Verfassung, wie im Jahre 1814 oder 1830, rufen wir sie auf öffentlichem Platze, zwischen zwei Barrikaden, in einer Wahlversammlung oder bei einem patriotischen Bankett aus. Trinkt auf das Wohl des Volkes, und die Menge wird euch krönen! Wie, ist denn das Königtum das Ziel und die Demokratie das Mittel?
Die Autoren mögen darüber denken, wie sie wollen, die Republik ist der Demokratie genauso entgegengesetzt, wie die Monarchie. In der Republik herrscht und regiert jeder, denkt und handelt das Volk wie ein Mann, sind die Volksvertreter Bevollmächtigte mit Zwangsmandat, die nach Belieben abberufen werden können, ist das Gesetz der Ausdruck des einmütigen Willens; es gibt keine andere Hierarchie als die Solidarität der Dienste, keine andere Aristokratie als die der Arbeit, keine andere Initiative als die der Bürger selbst.
Das ist die Republik, das ist die Volksherrschaft!
Quellnachweis: Der Ausschnitt dieses Textes wurde der 1868 erschienen Arbeit "Solution du probleme social" entnommen, die 1920 gekürzt ins Deutsche übersetzt im Band "Proudhon und der Sozialismus" (Verlag P. Cassirer) auf den Seiten 82 - 111 erschien. Der hier digitalisierte Text ist weiter gekürzt und befindet sich dort auf den Seiten 92 - 111.
Aus: Rammstedt, Otthein (Hg.): Anarchismus. Grundtexte zur Theorie und Praxis der Gewalt, Westdeutscher Verlag 1969. Gescannt und bearbeitet von www.anarchismus.at