Thomas Kleinspehn / Gottfried Mergner - Die Mythen des Spanischen Bürgerkriegs

I.

Mythen treten immer dort auf, wo etwas zum Ausdruck gebracht werden soll, was man so genau und richtig doch nicht weiß. Mythen sind Orientierungsversuche in der Orientierungslosigkeit. So wird der geschichtliche Ort und die Wirkung der Mythenbildung beschreibbar: Mythen versuchen das Ungeklärte zu erklären oder zu deuten. Mythen verschleiern so auch das Nicht-Wissen. Damit ist jedoch über den Wahrheitsgehalt von Mythen und über ihre geschichtliche Bedeutung noch wenig ausgesagt. Dort, wo die Gewaltsiege und die Triumphzüge der Herrschenden auch die letzte Erinnerung an die Besiegten, an ihre Taten und ihre Würde auszulöschen trachten, leben in den Mythen der unterdrückte Widerstand und auch die Erinnerungen an die versäumten und verhinderten Möglichkeiten des Kampfes codiert weiter. Die Mythen verdinglichen und verkürzen sich dabei in der Regel zu Symbolen (der Kontinuität, des Widerstandes).

Die widersprüchliche Geschichte der Niederlage selbst verstummt in ihnen. Die überlebenden Hoffnungen der Besiegten aber leben in dieser verdinglichten Form fort. (1) Haben sich die Mythen zu Symbolen vergegenständlicht und so von der Widersprüchlichkeit ihrer Entstehungsgeschichte befreit - werden sie vielfältig verwendbar und beschreibbar. Die "Rote Fahne", die "Internationale", die "Heimat vor Madrid" z.B. erinnern kaum noch an die vergangenen realen Ereignisse, sondern erzeugen immer wieder die neuen Assoziationen, die in der jeweils aktuellen politischen Kultur gebraucht werden.

Die Widerstandsgeschichte geht schon deshalb häufig in den Mythos über, weil gerade sie der Erklärung bedarf und doch vorläufig nicht geklärt werden kann. Niederlagen sind selten eindeutig - im Gegensatz zum Sieg. Denn der Sieger erobert mit seinem Sieg auch die Macht zur gültigen Interpretation des umkämpften Terrains. (2) Die Besiegten stehen vor der Wahl, sich dem Sieg und damit seinen Interpretationen zu unterwerfen oder in der Erinnerung an dem "Noch-Nicht" ihrer Hoffnungen und Ziele festzuhalten. Damit gerät die widerspenstige Erinnerung an die eigenen Taten zu etwas Geist-haftem, Geisterhaftem. Doch gerade diese Phantasien, die eigenwilligen Erinnerungen, die unangepaßten Interpretationen werden zu Keimlingen späterer und neuer Versuche der Auseinandersetzung mit dem Sieger, zu Voraussetzungen der Kontinuität des Widerstandes. Deswegen sind auch diese Erinnerungen, die in den Mythen und Symbolen eingekapselt und bewahrt werden, umstrittene und begehrte Objekte.

Führer und Fraktionen der Sozialbewegung streiten sich um die Interpretation und den Gebrauch dieser Erinnerungen, wie sie auch immer wieder von den Feinden okkupiert und besetzt werden. Die Nationalsozialisten waren z.B. Meister der Okkupation und Vernichtung traditioneller Widerstandssymbolik und Widerstandsmythen. Sie dichteten Arbeiterlieder um, besetzten den "1 .Mai", den traditionellen Kampftag der Arbeiterklasse, führten in ihrer Parteifahne das traditionelle Rot der Arbeiterbewegung mit sich usw. Gleichzeitig zerrten sie die verbliebenen Erinnerungen ihrer Gegner in den Schmutz und erniedrigten ihre Opfer, indem sie ihre Symbole besudelten.

Die Mythen des "Spanischen Bürgerkrieges" waren schon ab 1936 in Spanien umkämpfte Objekte der verschiedensten Fraktionen diesseits und jenseits der Front gewesen. Seit den "Tagen der Kommune" (1871) gab es kein Ereignis für die europäische Arbeiterbewegung, das so viele, so vielfältige und so umstrittene Mythenbildungen hervorgerufen hat. Nachdem der "wirkliche Kampf" durch den Sieg der Falangisten "erledigt" war, wiederholten sich die Kämpfe in der parteilichen Publizistik und in den schriftlichen Erinnerungen der beteiligten Menschen und Organisationen in unendlichen Variationen.

Anders als in vielen Veranstaltungen, die 1987 zum 50. "Jubiläum" veranstaltet wurden, wollten wir uns in unserem Symposion zum "Spanischen Bürgerkrieg", dessen Ergebnisse hier zusammengestellt vorgelegt werden, mit den Verarbeitungsprozessen der Erinnerungen an die Jahre 1936-1939 beschäftigen. In der verfestigten Form von Mythen wurden sie noch 1988 auf dem Markt der Erinnerungsfeiern häufig unreflektiert gehandelt. Deswegen ließen wir uns von dem einzigartigen Versuch von Peter Weiss bei der Planung unseres Workshops inspirieren. Peter Weiss gelang es mit seinem Buch "Die Ästhetik des Widerstandes" (3), diese vielfältige Mythenbildung auf der einen, der besiegten Seite der Front zusammenzufassen und als eine Geschichte zu erzählen.

Es gab schon vorher - neben den Erinnerungen - wichtige wissenschaftliche Werke über den "Spanischen Bürgerkrieg" (4). Aus ihnen wurde die Haltlosigkeit vieler Mythen erkennbar - manche Mythen bekamen durch sie die Weihe wissenschaftlicher Erkenntnis. (5) Doch erst Peter Weiss versuchte, die Geschichte des "Spanischen Bürgerkrieges" als eine gemeinsame Geschichte der inneren Widersprüche des Geschehens zu erzählen. Peter Weiss rekonstruiert, erfindet, kombiniert Erinnerungsprozesse, die bislang nur vereinzelt und bruchstückhaft und untereinander kommunikationslos abgelaufen sind. Sollen aber die besiegten Hoffnungen der Kämpfer und Kämpferinnen des Spanischen Bürgerkrieges und der Menschen, die ihre politischen Hoffnungen mit ihm verbunden haben, aus der erstarrten Mythologie wieder zum politischen Leben erwachen, bedarf es der gemeinsamen politischen Erörterung dieser Erinnerungen und der in ihnen eingeschlossenen Widersprüche. Hier macht die "Ästhetik des Widerstandes" einen Anfang in der ererbten Sprachlosigkeit.

Peter Weiss rekonstruiert Orte des Geschehens und Gespräche von Menschen, die dort gehandelt haben. Er beschreibt innerliche Monologe des Zweifels und politische Diskussionen zwischen den Menschen der verschiedensten Fraktionen, die in der damaligen Realität nicht miteinander gesprochen haben, weil sich ihre jeweilige Position zu unüberbrückbaren Feindschaften verdinglicht hatte. So gelingt es ihm die Hoffnungen der betroffenen Menschen und die aus ihnen folgenden Fehler und Ideologien zum Sprechen zu bringen. (6) Das Interessante an dem Buch ist nun, daß nicht nur der Dialog über den "Spanischen Bürgerkrieg", z.B. die brutale Politik der Kommunistischen Partei und das kommunikative Versagen der Anarchisten rekonstruiert wird. Der Autor selbst verändert im Fortgang des Buches seine eigene Sichtweise.

Am Anfang des Buches erklärt und rechtfertigt die Grausamkeit und die Totalität des Faschismus jegliche Maßnahme der kommunistischen Internationale. Im Verlauf des Buches wird der Autor immer offener für die Zweifel, die durch die Kritik der anderen linken Gruppierung in die Diskussion eingebracht werden. Gleichzeitig vereinsamen und vereinzeln sich aber die einzelnen "Helden und Heldinnen" im Verlauf des Romans. Der Zweifel löst die in den Organisationen eingemauerten Sicherheiten auf, die sich nicht nur durch die Niederlagen immer deutlicher als Scheinsicherheiten offenbaren. Indem Peter Weiss versucht, die Gespräche aus ihrer jeweiligen geschichtlichen Widersprüchlichkeit heraus zu rekonstruieren, wiederholt er die zu Parolen verkümmerte historische Sprache und die vergangegen politischen Deutungen. Dadurch wird der Roman teilweise schwer erträglich, trotzdem scheint uns dies mühsame Archivieren "nicht stattgefundener Gespräche" durch die durch sie hindurchscheinenden politischen Hoffnung der beteiligten Menschen gerechtfertigt, denn es wird deutlich, daß dies Hoffnungen sind, die auch heute noch nicht "erledigt" sind. Peter Weiss verdeutlicht die Kontinuität dieser Hoffnungen auf eine befreite Gesellschaft, indem er die Erinnerungsgespräche mit der Interpretation (vor allem) zweier Kunstwerke verbindet: Mit den kaum mehr vorhandenen Spuren des Herakles auf dem Götterfries im Berliner Pergamonmuseum und dem Gemälde "Guernica" von Picasso. Dadurch gelingt es ihm, der geschichtlichen, zunehmenden Individualisierung des sozialen Widerstandes, der Auflösung und dem Versagen der traditionellen Arbeiter-Organisationen und der Entleerung ihrer sinnlos gewordenen politischen Parolen trotzdem eine allgemeine, ja kulturelle Perspektive zu weisen. Weiss verdeutlicht sein Programm am Ende seines Romans:

"Noch wollten wir festhalten an unseren Hoffnungen, denn ohne sie hätten wir nicht weitergehen können, und ich würde sehn wie wir danach immer wieder zu diesen Hoffnungen griffen, sie nie wahnwitzig nannten, obgleich alle Zeichen stets gegen sie sprachen, so wie die Hoffnung jedes Mal stärker war als das Scheitern, denn nichts anderes war diese Hoffnung ja, als die Lebenskraft selbst Manchmal war es, als zermürbe Politik unser Denken, unsre Ausdrucksfähigkeit, als müßten wir uns, wollten wir uns mit der Politik befassen, uns ihren Verstrickungen ausliefern. (...) Doch weil wir uns nun einmal für Auseinandersetzungen zur Verfügung gestellt hatten und auch nicht davon loskommen konnten, weil unsere Existenz davon abhing, würgten sie weiter an den Erklärungen, die wir als unsere ansahen, in Wirklichkeit aber die der andren waren. (...) Wir mußten durch die Politik hindurch, dieses Störende, das den Stil trübte, ließ sich ebensowenig umgehn wie die Welt der Großindustrie, die meinem Vater, bei seinem stillen Handwerk, ihre jähen Schläge versetzte." (3. Bd. S.263f.)

Mittel für den Ich-Autor ist das Schreiben - oder wie er es selbst ausdrückt "Mit meinem Schreiben würde ich sie (die zu Mythen erstarrten KämpferInnen, d.Verf.) zum Sprechen bringen, ich würde schreiben, was sie mir nie gesagt hatten, ich würde sie fragen, wonach ich sie nie gefragt hatte. (...) Ich würde mich ihnen nähern, mit meinen späteren Erfahrungen, meinem Wissen um ihr späteres Tun, und wenn ich mich dann immer noch täuschte, so stünde dies in Übereinstimmung mit ihrem Wesen, zu dem das Täuschen gehörte. Ich würde ihre geflüsterten, gemurmelten Monologe, ihre bösen Träume erraten, sie selber würden sich darin vielleicht nicht wiedererkennen, mich aber würde ich erkennen, wie ich einst darauf lauerte, ihnen Zeichen ihres Lebens aus den verwischten Gesichtern ablesen zu können." (ebd., S.265f.)

Das Buch von Peter Weiss zeigt einen Weg, wie die verdinglichten und verdrängten Erfahrungen, die Hoffnungen und Widersprüche des sozialen Widerstandes aus den Grabdenkmälern überlieferter Mythen befreit werden könnten. Dies würde Erinnerungs- und Trauerarbeit voraussetzen, die ohne die vergangenen und zukünftigen Hoffnungen des Widerstandes gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt sinnlos wäre. Auf der anderen Seite setzt Peter Weiss erst einen Anfang. Das Gespräch über "damals" hat erst begonnen. Auf viele Aspekte der damaligen Auseinandersetzungen fällt erst heute unser Blick: Uns fällt heute erst die dogmatische Erstarrung im syndikalistischen-anarchistischen, männlichen "Lager" auf, der Sachzwangopportunismus der Internationalen Brigaden und daß die Frauen immer wieder aus den politischen Entscheidungsprozessen ausgeklammert wurden. Erst heute fällt uns die Ähnlichkeit des "Heldenkitsches" auf beiden Seiten der Fronten auf. Und die mörderische Sprachlosigkeit der "überzeugten" Parteigänger in den verschiedensten Organisationen. Das vorliegende Buch will dazu beitragen, daß das Nachdenken über die widersprüchliche Wirklichkeit den Mythen weiter fruchtbar wird.

II.

Selten sind um eine soziale Bewegung in diesem Jahrhundert so viele Mythen gesponnen worden, wie um den Spanischen Bürgerkrieg. Sie sind im einzelnen so sehr aus dem Dunstkreis ihrer Erfinder zu verstehen, daß es kaum verwundert, daß sie sich z.T. diametral widersprechen. Da ist die Rede von einer "national-revolutionären Freiheitsbewegung" innerhalb der engen Grenzen einer bürgerlich, demokratischen Revolution (offizielle KPdSU-Version). Oder von der "reinen" Verteidigung der Republik gegen den Faschismus (sozialdemokratische Version). Schließlich verbinden die Anhänger der anarchistischen Tradition mit den Jahren 1936-1938 in erster Linie die Verwirklichung anarcho-syndikalistischer Ideale.

So widersprüchlich diese politischen Konstrukte auch erscheinen mögen, so folgerichtig sind sie in Form verdünnter Aufgüsse in späteren Jahren wieder aufgegriffen worden. Besonders in der Zeit der Studentenbewegung der 68er hat sich eine Diskussion wiederholt, die bereits in den dreißiger und vierziger Jahren geführt worden war. Je nach politischer Couleur wurden bestimmte Aspekte der Spanischen Revolution zur Untermauerung der eigenen "revolutionären" Theorie reklamiert, andere Bereiche dagegen völlig ignoriert: die Spanische Revolution als beliebig benutzbarer Steinbruch zur Untermauerung der eigenen mehr oder weniger dogmatischen Theorien. Damit wurden aber Mythen ihrer konstruktiven Möglichkeiten zur Verarbeitung historischer Prozesse beraubt. Ambivalenzen, Widersprüche oder gar eine kritische Analyse aus der eigenen Perspektive blieben dabei außen vor.

Das gilt für viele von uns! Mit der Distanz von dreißig Jahren galt uns Spanien als der unbestrittene Inbegriff einer libertären Revolution. Unbesehen sahen wir darin die dogmatischen Ideale verwirklicht. Trotz Sympathien für die anarchosyndikalistischen Ideen und Versuche haben wir uns beispielsweise selten gescheut auch dem hohlen Pathos eines Ernst Busch zu huldigen, wenn er die Lieder der Internationalen Brigaden auf der Schallplatte vortrug. Ernst Thälmann, Mamita mia und Durruti paßten nur vor dem Hintergrund der 68er zusammen - auf der Suche nach den Helden, die unsere Väter nicht waren.

So diente die Spanische Revolution eher als Projektionsfläche für vielerlei politische Wünsche und Utopie-Entwürfe, ihre Realität und ihr Ausmaß in seiner ganzen Breite blieb häufig unbegriffen.

Die Ereignisse in Spanien Mitte der dreißiger Jahre wiesen vor allem zwei Besonderheiten auf, die sie von ähnlichen Ereignissen unterschieden und zugleich vielleicht auch die besondere Attraktivität ausmachten: zum einen die internationale Solidarität von Freiwilligen gegenüber der spanischen Republik und zum anderen die exzeptionelle Verbindung zwischen Bürgerkrieg und einer profunden sozialen Revolution. Um beide Aspekte ranken sich besonders Mythen, in denen sich Männerphantasien ausleben und in denen die reale Unterdrückung der Frau im Alltag ignoriert wird.

Die heldenhaften Stellvertreter oder das Ausleben der Phantasien

Bereits unmittelbar nach dem Putsch Francos gegen die Republik im Juli 1936 trafen die ersten ausländischen Freiwilligen in Spanien ein. Z.T. in ihren Heimatländern vom Faschismus verfolgt, sahen viele in Spanien eine Chance, für ihre Ideale zu kämpfen. Doch diese für viele persönlich oft auswegslose Situation ließ eine explosive Mischung zwischen persönlichen und fremdbestimmten Motiven in den Vordergrund treten, bei denen die spezifischen Interessen der spanischen Republikaner selbst häufig auf der Strecke blieben.

Das wird besonders bei jenen ausländischen Kämpfern für die spanische Republik deutlich, die mit Hilfe der verschiedensten kommunistischen Parteien auf die iberische Halbinsel gekommen waren. In ihren Erzählungen, Tagebüchern und Briefen überwiegt eindeutig die militärische Seite der Auseinandersetzungen: Es ist ihr Kampf, den sie schildern, es sind ihre heldenhaften Taten und ihre kriegerischen Listen. Und - merkwürdig genug - die spanischen Milizionäre und Soldaten tauchen eher als Helfer denn als aktiv Beteiligte auf.

"Wir fanden die Unterstützung in der Miliz der katalonischen Bauern". Sätze wie dieser sind nicht selten in den verschiedenartigen Sammlungen von Erinnerungen an die Internationalen Brigaden zu finden.(7) Nicht spanische Bauern und Arbeiter kämpfen für ihre Freiheit, sondern der eigene "Kampf" wird geführt. Entsprechend abstrakt erscheint das konkrete Land, in dem sie sich aufhalten. Allenfalls "breitet" "Spaniens Himmel" noch "seine Sterne" über "unsere Schützengräben aus". Ansonsten richtet sich in dem Lied der "Thälmann- Kolonne" der Blick nach Hause und auf allgemeine Ziele: "Die Heimat ist weit, doch wir sind bereit. Wir kämpfen und sterben für dich: Freiheit". Der Held in einer unbekannten, jedenfalls unheimlichen Umgebung kann nur in verklärten Erinnerungen schwelgen oder heldenhaft vorwärtsstürmen: "Vorwärts marsch! Der Sieg ist unser Lohn".

Beides kommt z.B. in der Schilderung des deutschen Kommunisten Hanns Maaßen zusammen, der über die Gedenkfeier für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im fernen Spanien berichtet. Während der Versammlung unter freiem Himmel träumt er "Ich hob den Blick zum Gipfel der nahen Berge, und meine Gedanken schweiften zurück. Ich dachte an die Revolutionskämpfe 1918/19 in den Straßen Berlins, an die Verteidigung des Zeitungsviertels gegen die Mörder von Karl und Rosa und an die roten Matrosen im Marstall". (8) Doch der Kommandant ruft ihn in die Wirklichkeit zurück, aufrecht blickt er wieder nach vorn: "Franz Heßler trat vor und rief mit lauter Stimme: "Wladimir Iljitsch!" "Karl!" "Rosa!" Nach jedem Namensaufruf schossen die Geschütze der "Liebknecht-Batterie" Ehrensalut, insgesamt 21 Schuß. Das grollende Echo in den Bergen ringsum verklang. Die Interbrigadisten hatten ihre geballten Fäuste zum militärischen Gruß an den Mützenrand gelegt und sagten: "Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren...!" (9)

Vorwärtstürmen, Kampfesmut, abstrakte Ideale; die Wirklichkeit kommt nur als spanischer "Himmel" oder "Grollen in der Ferne" vor. Man muß oftmals schon sehr genau hinschauen, um unterscheiden zu können, auf welcher Seite der entsprechende Kämpfer steht. Zu ungebrochen sind die Eindrücke, zu sehr werden hier Vorstellungen und Motive ausgelebt, die wenig mit der spezifischen Situation Spaniens zu tun haben: Fremde in einem fremden Land. Isoliert von seiner Umwelt bestätigt sich hier jeder einzelne selber. Kampfbereitschaft, Mannesmut, Tapferkeit rücken deshalb in den Vordergrund. Demgegenüber stehen die "Heimat", die verlassen wurde, und - nicht zufällig - Frauen. Bodo Uhse, seit 1932 in der KPD und seit 1937 in Spanien an der Front schildert das besonders plastisch anhand der "Beichte" eines sterbenden Kameraden. Dieser erinnert sich kurz vor seinem Tod an die äußerst ambivalente Beziehung zu seiner Frau, die er schon in Nazi-Deutschland gleichsam mit der Untergrundarbeit "betrogen" hat. Denn er meinte sie nicht in seine politische Arbeit einweihen zu dürfen. Der Konflikt zwischen der Partei und der Frau schien unlösbar: "Auch ich konnte kein Wort herausbringen. Ich ging in unser Zimmer und warf mich aufs Bett. Ich schloß die Augen. Ich verstand die Not, die Verzweiflung und die Anklage in ihrem Blick, und es zog mir das Herz zusammen. Ich liebte sie doch; daß ich ihr wehtun mußte, schmerzte mich. Ich konnte nicht mehr ertragen, wie Geheimnis und Mißtrauen uns trennten. An diesem Abend war ich bereit, ihr alles zu sagen. Doch als sie sich dann zu mir ins Bett legte, war mit einem Mal der Schreck... wieder wach in mir, die Angst des Gejagdseins, die Angst vor Gefängnis, Marter und Tod, die Angst, das Leben zu verlieren. Des Lebens Schönstes war sie, die da neben mir lag mit grauen Augen und halb geöffnetem Mund. Ich klammerte mich an sie, ich umarmte sie." (10) Doch diese Erfahrungen bringen ihn nicht dazu, sich zu seiner Lebendigkeit zu bekennen, sondern sich abzuschotten: "Daß ich bereit gewesen war, ihr alles zu sagen, stimmte mich mir selber gegenüber mißtrauisch. Ich mußte mich also vor Käthe hüten. Ich wurde noch verschlossener, noch kälter, noch fremder zu ihr..." (11)

Die Verführung durch eine Frau scheint seine ganze politische Arbeit zu bedrohen. Nach schweren inneren Kämpfen ist die Entscheidung klar: die Partei, der Kampf im Untergrund ist wichtiger. Der Erzähler gibt die bedrohliche Frau auf, zieht weg und landet schließlich in Spanien. Doch hier, kurz vor seinem Tod bricht der Konflikt wieder auf. Erst verklärt aus der Ferne betrachtet, läßt er sich scheinbar lösen: Mut, Kampfbereitschaft als Flucht vor der Realität.

Die individuelle Seite, die Motive der einzelnen, sie wurden lange Zeit verdrängt. Die männlichen Phantasien und Ängste, die dabei auch eine Rolle spielen und jenseits aller Ideologien die Grenzen zwischen den Fronten verschwimmen lassen, gehören ebenfalls zum Kampf für die Spanische Republik. Sie zu ignorieren, bringt nur einen Teil der historischen Wahrheit ans Licht.

Die Grenzen im Alltag

Wegen ihrer Mythifizierung gerieten neben den Männerphantasien auch die Ambivalenzen der Spanischen Revolution kaum in den Blick. Denn auch hier geriet die soziale Revolution, die Kollektivierung und Sozialisierung der Produktion und Distribution nicht nur in Widerspruch zu den vermeintlichen oder tatsächlichen Notwendigkeiten des Krieges, sondern es brachen auch Widersprüche in sich auf.

Besonders die anarchosyndikalistische Bewegung, die in ihren Programmen immer wieder die Forderung erhoben hatte, den Alltag zu verändern, mußte dies spüren. So beharrten sie zwar mit Recht darauf, daß es nicht darum gehen könne, sich ausschließlich auf den militärischen Kampf gegen den Faschismus zu beschränken. Entscheidend sei ebenso die soziale Revolution voranzutreiben. Aber wie weit dies im einzelnen gehen sollte, darüber bestand Dissenz. Denn die Libertären nahmen zwar vor allem im Norden Spaniens, in Katalonien und Aragon, die gesamte Industrie in die Hand, organisierten sie nach den Prinzipien des kollektiven Anarchismus und verwirklichten damit bereits im Vorgriff auf eine radikale revolutionäre Veränderung ihre Organisationsprinzipien. (12)

Doch die Umsetzung im Alltag und in persönlichen Beziehungen sah anders aus. Das bekamen vor allem die Frauen zu spüren. So sagt etwa Emilienne Morin, die Witwe von Buenaventura Durruti: "Ja, die Anarchisten haben immer gerne von der freien Liebe gesprochen. Aber schließlich waren sie Spanier, und es ist komisch, wenn Spanier von so etwas reden. Es paßt gar nicht zu ihrem Temperament. Sie hatten das nur aus ihren Büchern. Die Spanier hatten nie etwas übrig für die Befreiung der Frau. Nicht die Bohne. Ich kenne sie in- und auswendig, und ich sage Ihnen: Die Vorurteile, die sie störten, sind sie recht rasch losgeworden, aber die ihnen paßten, haben sie sorgfältig gehütet. Die Frau gehört an den Herd! Von dieser Weisheit haben sie viel gehalten. Ein alter Genosse hat einmal zu mir gesagt: "Das ist ja ganz schön und gut mit euren Theorien, aber die Anarchie ist eine Sache und die Familie eine andere. So ist es, und so bleibt es auch."" (13)

Mit einem verkürzten Arbeitsbegriff, der sich im wesentlichen auf die Produktion bezog, schlossen die Anarchisten im Alltag gerade die Frauen aus. Sie leisteten ihrer Meinung nach keine produktive Arbeit und sollten deshalb von den Selbstverwaltungs-Organen ausgeschlossen werden. So ist es kein Zufall, daß gerade die Frauen innerhalb der anarchosyndikalistischen Bewegung eine eigene Organisation, "Mujeres Libres", gründeten. Mit ihr suchten sie nicht nur ihre eigenen feministischen Interessen durchzusetzen, sondern sie nahmen sich auch zahlreicher ansonsten vernachlässigter Bereiche an, wie der Frauenarbeit, der Erziehung und dem Schulwesen, dem Gesundheitswesen, der Prostitution und der Sexualaufklärung. (14)

Doch die Konflikte waren bereits vorprogrammiert und der Widerstand auch unter arivierten Anarchosyndikalisten war groß. Selbst eine der bekanntesten Anarchistinnen, Federica Montseny, die während der Republik zeitweilig Gesundheitsministerin in der Regierung Largo Caballero war, leugnet noch heute ein spezifisch feministisches Problem innerhalb der anarchosyndikalistischen Bewegung. (15) So blieb ein Widerspruch bestehen, der erst in der Nach-Franco-Ära thematisiert werden konnte, dort aber gerade zu neuen Konflikten führte und das Verständnis zwischen alten und neuen Anarchisten fast unmöglich machte.

Alte und neue Mythen prallten hier aufeinander. Einiges hiervon zur Sprache zu bringen, das ist das Ziel dieses Buches.

III. Editorische Bemerkungen

Mit dem vorliegenden Band wird eine Übersicht über die Vorträge über die Mythen des "Spanischen Bürgerkrieges" zusammengestellt, die auf einem Symposion im Januar 1987 an der Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg zur Diskussion gestellt wurden.

Der Beitrag von Carlos Ossorio/Gisela Hänel-Ossorio führt in die Geschichte Spaniens vor dem Bürgerkrieg ein.

Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit den wichtigsten Bereichen der Mythenbildung: Die "Internationalen Brigaden", die Politik der "Anarchosyndikalisten", die politische Auseinandersetzung während des Krieges und die Rolle der "Frauen" im Krieg.

Schmidtke und Baumann zeigen in ihren "regionalkundlichen" Beiträgen auf, daß die politische Mythenbildung das Land selbst und seine Bewohner ausgeblendet hat.

Görling beschreibt, warum der "Spanische Bürgerkrieg" für die Linke und für ihre politische Phantasie so wichtig wurde.

Aus einer Ausstellung des Museums für Gestaltung Zürich über das politische Plakat im "Spanischen Bürgerkrieg", die wir in Oldenburg während des Symposions zeigen konnten, haben wir einige Beispiele zur Illustration ausgewählt. Die Repros und Dias wurden uns freundlicherweise vom Leiter der Plakatsammlung, Karl Wobmann, und der Abteilung Fotodokumentation des Museums für Gestaltung Zürich zur Verfügung gestellt.

Die Dokumentation weist leider Lücken auf; denn einige Beiträge wurden für den Druck nicht zur Verfügung gestellt. Vor allem fehlen Beiträge über die KP und ein Beitrag zur Musik. Auch auf die neuesten Forschungsergebnisse zu der Entstehungsgeschichte von "Guernica" und zu dem späteren Schicksal der Spanienkämpferinnen mußten wir leider verzichten. Die abgedruckten Beiträge sind - dem Thema entsprechend - uneinheitlich, stehen aber miteinander in einem Diskussions-Zusammenhang. Diesen Kontext muß der kritische Leser, die Leserin weitgehend selbst hersteilen. Aus finanziellen Gründen war es uns nicht möglich, die vielfältige und teilweise spannende Diskussionen auf dem Symposion mitabzudrucken.

Das Symposion wurde vorbereitet und organisiert von Heribert Baumann, Thomas Kleinspehn, Gottfried Mergner und Hans Wüst. Darüber hinaus danken wir dem "Allgemeinen Studentenausschuß" und der "Hochschulgruppe ausländischer Studierender" an der C.v. Ossietzky-Universität in Oldenburg für die Unterstützung des Symposions und der Drucklegung.

Mythen des spanischen Bürgerkriegs - Beiträge


Fußnoten:
1) Die "Pariser Kommune" von 1871 ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Auf der einen Seite blieb sie bis heute in der Erinnerung als ein vorweggenommener Prototyp der "Diktatur des Proletariats" (K. Marx). Auf der anderen Seite wird in der Erinnerung völlig ausgeblendet, daß ihre Niederlage auch eine der ersten Niederlagen der internationalen Solidarität der jungen europäischen Arbeiterbewegung war. Weder von Großbritannien oder gar vom Siegerstaat Deutschland kam wirksame Hilfe "vom Volk" den Pariser Aufständischen zu.
2) Siehe Michel Foucault, Dispositive der Macht, Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Merve-Verlag, Berlin 1978, vor allem S.21-54.
3) Zitiert nach: Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstandes, Roman, 1-bändige Ausgabe, Frankfurt 1983.
4) Vgl. z.B. Thomas, Hugh, The Spanish Civil War, Harmondsworth 31977; Broue, Pierre/Timime, Emile, Revolution und Krieg in Spanien, Frankfurt 1968; Brenan, Gerald, Die Geschichte Spaniens (1950), Berlin 1978; Borkenau, Franz, The Spanish Cockpit, Aim Arbor 1971; Leval, Gaston. Espagne libertaire, Paris 1971
5) Die DDR und die ihr folgsame DKP-Wissenschaft hüten aus politischer Starrheit ihre mit wissenschaftlichen Weihen versehenen Mythen. Eigentlich sollte der große, alte Mann der DKP, Schleifstein, mit seinem Beitrag, den er auf dem Symposion gehalten hatte, in diesem Buch zu Wort kommen. Schleifstein hatte in der Diskussion erstmalig einem Teil der DDR-Geschichtsschreibung, die Stalin als "Retter Spaniens" feiert und die Auseinandersetzungen innerhalb der "Internationalen Brigaden" vertuscht, widersprochen. Leider haben wir bis zum (verlängerten) Redaktionsschluß, trotz wiederholten Versprechungen, seinen Beitrag nicht bekommen können.
6) Es sind die äußeren Gründe, die die Menschen ausrichten und deformieren. Sie dienen zur Rechtfertigung jeglichen Verbrechens auf beiden Seiten der Fronten. Sich immer wieder auf sie zu berufen, ist nicht realistisch sondern nur opportunistisch. Dazu ein Zitat aus dem Buch: "Die Stärke des Feinds fordre unsern völligen Gehorsam. Rücksichtslosigkeit, auch Brutalität, sagte Ayschmann, seien zeitweise zu verfechten, doch müsse dabei eine Gegenkraft aufrecht erhalten werden, sonst ginge uns ein Zynismus ins Blut, der uns einmal dran hindern würde, am Aufbau des Neuen mitzuwirken." S.207
7) Vgl. z.B. Brigada Internacional ist unser Ehrenname..., Berlin (DDR) 1974; Erich Hackl/C. Timón Solinis, Hg., Geschichten aus der Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs, Darmstadt/Neuwied 1986
8) Brigada, a.a.O., S.197    _    >    '
9) a.a.O., S.197
10) Hackl/Solinis, a.a.0., S.239
11) a.a.O.
12) Vgl. z.B. die Dokumente zur Kollektivierung und Sozialisierung in: Gerlach, Erich / Souchy, Augustin, Die soziale Revolution in Spanien, Berlin 1974; Ökonomie und Revolution. Texte von Diego Abad de Santillan und Juan Peird, hrsg. von Thomas Kleinspehn, Berlin 1975
13) Emilienne Morin, in: Enzensberger, Hans Magnus, Der kurze Sommer der Anarchie, Frankfurt 1972, S.96
14) Vgl. Mary Nash, Mujeres libres. Die freien Frauen in Spanien 1936-1978, deutsche Ausgabe von Thomas Kleinspehn, Berlin 1979
15) Vgl. Augusti Pons, Converses amb Federica Montseny, Barcelona 1977, S.19ff.

Aus: Thomas Kleinspehn / Gottfried Mergner (Hg.): Mythen des Spanischen Bürgerkriegs. Trotzdem-Verlag, 1996. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Trotzdem-Verlags.


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