Hans Peter Duerr - Der anarchistische Mythos (1973)

"Uns stösst der Kasernenkommunismus ab. Wir weisen diese Gleichheit zurück, die man mißt, die man aufzwingt, die man dekretiert. Wir weisen sie zurück, weil sie den Menschen auf das Schlimmste entwürdigt, zur vollständigen Abstumpfung seiner Gefühle führt, seine Persönlichkeit zerstört und ihn nur zu einem weiteren kleinen Rädcheu im sozialen Getriebe macht. Deshalb wollen wir, die wir uns auch "Kommunisten" nennen, nicht, dass man uns mit den Kommunisten der letzten Stunde in einen Topf wirft." (Angel Pestana)

"Die Ideen von Marx-Engels", schrieb Paul Lafargue, dessen Schwiegervater Marx einst über ihn sagte, er werde von seinen anarchistischen Ideen wohl erst dann ablassen, wenn er ihm mal eins über die Rübe gegeben habe, wirken lebendig im Hirn der Sozialisten weiter. Die einen diskutieren scholastisch über die Richtigkeit der Werttheorie und der materialstischen Geschichtsauffassung an und für sich. Die anderen folgen dem Beispiel des Diogenes, welcher die Bewegung dadurch nachwies, dass er ging. Auch als die Anarchisten gingen - oder genauer gesagt, als Guillaume und Genossen aus dem Sitzungssaal hinausgeworfen wurden - haben sie sich in augenfälliger Weise als eine, wenn auch nie besonders einheitliche Bewegung nachgewiesen. Alle Uniformität und "Totalität" waren bereits William Godwin verhaßt, der nie seine Skepsis gegenüber grösseren Wohngemeinschaften überwinden konnte, weil es ihm schwerfiel, sich vorzustellen, dass alle seine Kameraden Lust hätten, mit ihm um 12 Uhr mittags zu frühstücken, oder gar Proudhon, dem sogenannten "enfant terrible des Sozialismus", der einmal dem liberalen Nationalökonomen Bastiat anvertraute, er habe wohl manchmal Lust, ins Paradies zu kommen, allein, er befürchte dort, dass alle Leute einer Meinung seien, und er niemanden fände, mit dem er sich streiten könne, oder dem, wie Herzen berichtet, ein Engländer versicherte, er sei ein grosser Bewunderer seines Systems, worauf Proudhon erwiderte: "Was denn für ein System?"

Während ein Mann wie der von Marx hochgeschätzte Josef Dietzgen, den jener mit den Worten: "Dies ist unser Philosoph" auf dem Haager Kongreß vorstellte - ohne jeden Anflug von Ironie schreiben konnte: "Dieser rastlosen Zerfahrenheit gegenüber ist die internationale Sozialdemokratie stolz darauf, einen "letzten Grund" zu haben,auf den sich alles gründet, einen wissenschaftlichen Grund für alles, systematische Weltweisheit zu besitzen. Wir bekunden unsere prinzipielle Über1egenheit praktisch und offenbar durch die geschlossene Einhelligkeit unserer Bestrebungen und Forderungen. Im allgemeinen, in Prinzipien und Theorien stehen wir einig, geschlossen, Mann an Mann, weil wir das haben, was Alt-und Neukatholiken, Reformierte und Aufgelärte haben möchten: wir haben System. Der Anfang und das Ende aller Weisheit ist uns genau bekannt!" - waren für Pjotr Kropotkin oder Errico Malatesta die Uniformität der Tod und der Wille zum System ein gefährlicher Zwitter aus verhohlener Angst und dem Willen zur Herrschaft, dem Willen, nichts neben sich zu dulden als das, was man selber ist.

Aldous Huxley hat mit Hecht betont, dass das philosophische System - auf das etwa die Idealisten, "die Preussen des Gedankens", wie Bakunin sie nannte, aus waren - das Äquivalent der totalen Herrschaft ist. Feyerabend- vgl. seinen Beitrag in diesem Band - und, indessen etwas zweideutig Adorno, sind ihm hierin gefolgt. Wie das Einzelne anscheinend nur mit Mühe anders gedacht werden konnte, als das Moment des "Ganzen", das im Einzelnen nur zu sich selber komme, so schien das menschliche Individuum nur das zu sein, in dem ein "Allgemeines" sich "repräsentiere": Für Hegel werden die Menschen lediglich "durch den Staat in ein objectives Daseyn gebracht" kommen "durch ihn erst zu ihrer Wahrheit und Verwirklichung", für Marx, der selber die bis zum heutigen Tage geglaubte Mär in Umlauf setzte, er sei es gewesen, der gegen das linkshegelianische Wolkenkuckuksheim der aparten allgemeinen Wesenheiten zu Felde gezogen sei, ist der Mensch nur "das sujektive Dasein der gedachtenen und empfundenen Gesellschaft für sich", - man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie Stirner auf diese Botschaft reagiert hätte - und für Rousseaus Contrat Social kann derjenige, dem man in der "freien Gesellschaft" das Fell über die Ohren zieht, getröstet sein: "Wer immer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, wird von der Gesellschaft dazu gezwungen. Das bedeutet nichts anderes, als dass man ihn zwingen wird, frei zu sein."

Etwas weniger höflich, aber umso offenherziger wiederum Hegel: "Es kann auch sein, dass dem Individuum Unrecht geschieht, aber das geht die Weltgeschichte nichts an, der die Individuen als Mittel in ihrem Fortschreiten dienen." (Wo gehobelt wird, da fliegen Späne). Aber das hat jemand anderes gesagt. Karl Kautsky schließlich entwarf in diesem Sinne die marxistische schöne neue Welt: "Aber die öffentliche Meinung wirkt in einer klassenlosen Gesellschaft als ein ausreichendes Mittel der Polizei, der öffentlichen Befolgung der sittlichen Normen. Das Individuum ist der Gesellschaft gegenüber so nichtig, dass es garnicht die Kraft hat, ihrer einmütigen Stimme zu trotzen. Diese wirkt völlig erdrückend." Kein Anarchist hätte ihm widersprochen.

Man sagt für gewöhnlich, der Anarchismus gehe vom Individuum aus, der Marxismus von der Gesellschaft. Daran ist soviel Wahres wie Irreführendes. Denn ob man das Individuum "hypostasiert", zu einem Ding macht, oder die Gesellschaft, das läuft aufs selbe hinaus (wie auch in der Philosophie Nominalismus und Platonismus nur die zwei Seiten derselben falschen Münze sind). Was die Anarchisten ablehnen, das ist einerseits die Vorstellung, das Individuum sei so etwas wie die Funktion sozialer Verhältnisse, also letztlich nur ein Schnittpunkt von Relationen, dasjenige was die "Gesellschaft" oder das "Gattungswesen" nur "exemplifiziere" (oder wie immer das die Metaphysiker von Spinoza bis Marx und die Epigonen ausgedrückt haben mögen), andererseits die Doktrin, das Individuum sei eigentlich eine "fensterlose Monade", die immer erst ihre Fenster öffnen müsse, um mit anderen Individuen in Kontakt zu treten.

Vielmehr bezieht sich der Begriff "Gesellschaft" auf das, was wir tun - und eben deshalb auch auf das, was wir nicht tun. "Gese1lschaft" - das sind keine Regeln, denen der Mensch folgt, wie die Lokomotive ihren Schienen folgt. Viel eher sind die Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise zueinander verhalten, dasjenige, was wir meinen, wenn wir von "sozialen Regeln" sprechen, und das ist nichts, was uns gegeben wäre, oder was lediglich in uns zum Vorschein käme. So wie ein Mensch kein Wesen ist, das sich aus Bewusstsein und Körper zusammensetzt, sondern schlicht ein Wesen, das sich bestimmter Dinge bewusst ist, so wie irgendein Gegenstand nicht aus "Form" und "Inhalt" oder "Materie" zusammengesetzt, sondern ein in irgendeiner Weise gestaltetes Ding ist, so stehen sich auch nicht zwei Wesen, "Gesellschaft" und "Individuum" gegenüber, die sich etwa wechselseitig beeinflußten. Das dialektische "einerseits-andererseits" (das beispielsweise im sogen. Basis-Überbau-Problem immer wieder bemüht wird) ist ganz unsinnig. Wer ein bißchen schwanger ist,  ist schwanger.

Natürlich hat die Vorstellung, die "Gesel1schaft" sei etwas "ausserhalb von einzelnen Menschen" - z.B.etwas "Transzentales", wie der Marxist Max Adler dachte - ihren handfesten Grund; Leben wir grossenteils in Herrschaftsbeziehungen, können wir keine Autonomie entfalten, dann muss uns dasjenige, was wir selber tun, als eine "fremde Macht" entgegentreten, wie Marx das in seiner Analyse der kapitalistischen Gesellschaft ganz richtig erkannt hat, was ihn freilich nicht daran hinderte, in seiner eigenen Gesellschaftstheorie die Menschen zu einer "subjektiven Manifestation" eines "Gattungswesens" zu verdinglichen.

Was immer man mit Grund an Stirner auszusetzen haben mag — vor einer lediglich "materialistisch umgestülpten" hegelschen Metaphysik hätten Marx und seine Nachfolger sich wenigstens abhalten lassen können, nachdem sie den Einzigen gelesen hatten. Nun wird man vielleicht entgegenhalten, solche Überbleibsel idealistischer Philosophie seien für den Marxismus praktisch bedeutungslos, und einige Genossen, wie Daniel Guérin sind ja auch davon überzeugt, er ließ sich mit einigen Abstrichen und einer anarchistischen Würze versehen in einen "libertären Kommunismus" verwandeln. Aber handelt es sich hier nur um philosophische Schnörkel, die man einfach weglassen kann? Oder stehen diese Grundkonzeptionen in direktem Zusammenhang mit dem, was von Bakunin über Rocker bis zu Korsch als "jakobinische" und "absolutistische" Bestandteile des Marxismus angeprangert wurde?

Wie der einzelne, konkrete Mensch nur dem "Gattungswesen" gewissermassen das Fleisch gibt, so verkümmert auch für Marx (und nicht erst für den "mechanistischen" Vulgärmarxismus) der Proletarier zum Vollstrecker eines vorgezeichneten Schicksals, demgegenüber das, was er selber will, zu einem zweitrangigen "Epiphänomen" deklariert wird. So geht es für Marx nicht darum, "was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist, und was es diesem Sein gemäss geschichtlich gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eigenen Lebenssituation, wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig unwiderruflich vorgezeichnet" - oder, in den Worten des Meisters: "Der objective Wille ist das an sich in seinem Begriffe vernünftige, ob es von einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht" (Hegel).

Aber gerade darum geht es, um das, was die wirklichen Menschen, nicht irgendwelche Abstraktionen im metaphysischem Schattenreich, "sich einstweilen vor- stellen", was ihre wie auch immer verdrängten, verborgenen und vergessenen Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen ausmachen, auch wenn dies nicht gerade in  die Zwangsvorstellungen einer selbsternannten Avantgarde oder der linken Chiceria passen mögen.

Freiheit und Autonomie sind weder "unwiderruflich vorgezeichnet", noch etwas, das von denen aufgetragen werden kann, die sich dazu berufen fühlen, anderen ihre "objektive Situation" zu dechiffrieren. "Der Freigegebene", schrieb Marx Stirner, "ist eben nichts als ein Freigelassener, ein libertinus, ein Hund, der ein Stück Kette mitschleppt, er ist ein Unfreier im Gewande der Freiheit, wie der Esel in der Löwenhaut". (Vor diesem Satz, bemerkt Robert Hepp in seinem beachtenswerten Buch über Selbstherrlichkeit und Selbstbedienung, werden ganze Bibliotheken voll "Emanzipationsliteratur" zu Makulatur).

In welcher perversen Weise jenen Lämmern die sich in die Obhut ihrer neuen Hirten, den Exegeten ihres "welthistorischen Schicksals" begeben, auch noch vorgegaukelt wird, sie würden so wenig beherrscht, wenn sie beherrscht werden, wie der Freie Bousseaus seine Freiheit verliere, wenn er zu ihr genötigt wird, das wird dann offenkundig, wenn es gilt, die sogenannte "Übergangsperiode" der "Diktatur des Pro1etariats" zu rechtfertigen. So zitiert beispielsweise Stalin, den wir ja auch heute nicht länger auf Demonstrationsplakaten zu missen brauchen, im Jahre 1926 Lenin: "Die Partei saugt sozusagen die Avantgarde des Proletariats in sich auf, und diese Avantgarde verwirklicht die Diktatur des Proletariats". Dazu führt er aus: "In dem oben angeführten Zitat aus der Rede Lenins auf dem 2. Kongreß der Komintern identifiziert Lenin keineswegs die führende Rolle der Partei mit der Diktatur des Proletariats. Er spricht bloss davon, dass "nur die klassenbewusste Minderheit (d.h. die Partei, Josef Stalin) die breiten Arbeitermassen leiten und führen kann", dass wir also eben in diesem Sinne "unter der Diktatur des Proletariats im Grunde genommen die Diktatur seiner organisierten und klassenbewussten Minderheit verstehen".

Wenn man "im Grunde genommen" sagt,so heisst das noch nicht (Hervorhebung von mir H.P.D.!) "vollständig". Dann fährt er mit einer billigen Augenwischerei fort: "Kein einziger wichtiger Beschluss der Massenorganisationen des Proletariats kommt ohne leitende Weisungen der Partei zustande. Das ist völlig richtig. Doch bedeutet das, daß die Diktatur des Proletariats sich in den leitenden Weisungen der Partei erschöpft? Bedeutet das, dass man die leitenden Weisungen der Partei aus diesem Grunde mit der Diktatur des Proletariats identifizieren kann? Natürlich nicht. Die Diktatur des Proletariats besteht aus den leitenden Weisungen der Partei, plus der Durchführung dieser Weisungen durch die Massenorganisationen des Proletariats, plus ihrer Unsetzung in die Tat durch die Bevölkerung".

Was sich anhört wie ein Ausschnitt aus einem schlechten Kabarett, das heisst übersetzt so: Ist die Herrschaft eines Herrn über seine Ochsen Herrschaft? Natürlich nicht! Denn die Herrschaft des Herrn besteht aus der Herrschaft des Herrn, aus der Durchführung der Befehle der Sklaven, plus Durchführen des Karrenziehens durch die Ochsen. Also ist es deutlich, dass die Ochsen nicht beherrscht werden.

Vielleicht ist das Schlechte an den Menschen weniger, dass sie so schlecht sind, sondern, dass sie sich bisweilen zuwenig Gedanken darüber machen, dass manche Dinge, die sie tun und die für den Augenblick sogar sinnvoll sein mögen, sich mit der Zeit verselbständigen und eine "eigene Dynamik" entwickeln können. Indessen sollte man soche Ideen wie die der Planung und Kontrolle gleichfalls nicht über Gebühr aus der Flasche rufen.

Wenn man so manchen Psychoanalytiker und linken Theoretiker liest oder hört, dann kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass hier die alten idealistischen Ideen der "totalen Selbstdurchsichtigkeit" und "totalen Selbstkontrolle" fröhliche Urständ feierten. Als ob es erstrebenswert wäre, all seine Motivationen, alles das, "was hinter unserem Rücken vor sich geht" ans Licht "ins Bewusstsein" und damit unter Kontrolle zu bringen, oder als ob wir darauf aus sein sollten, alles Fremde "zur Heirat" zu machen, wie Bloch es als die Sehnsucht ausgibt, die in uns sei (wie wenn uns nicht gerade das Fremde deshalb anzöge, weil es das Freude, Unbekannte ist, das, was wir nicht selber sind).

Neuerdings hat J.Cattepoel die "Idee der anarchistischen Revolution" als eine "Mythos entlarvt", da in ihr, so steht zu lesen, "ein bestimmtes historisches Ereignis in ein verbindliches übergeschichtliches Heilgeschehen" umgedeutet werde. Da hat der Anarchismus-Kritiker einmal tief ins ideologiekritische Handbuch geschaut. In der Tat sind die Anarchisten insofern "mythisch", als sie nicht glauben, dass der Pithecanthropus Pekinensis wesentlich unglücklicher gewesen ist als wir, weil der die diversen Früchte der Indstriegesellschaft nicht gekostet hat, und als sie kaum annehmen, die Vergangenheit sei finster und die Zukunft hell und freundlich. Sie bewahren sich zumindest eine Einsicht des Mythos, daß nämlich, wie Malatesta und Landauer sagten, die Menschen zu allen Zeiten die Möglichkeiten haben, glücklich und frei zu sein, auch dann, wenn Glück und Freiheit noch auf keinen marxistischen Terminkalender freigegeben sind. Daß uns das, was besagter Pithecanthropus als Freiheit empfände, wohl nicht sonderlich zu befriedigen vermöchte, dürfte uns solange nicht kümmern, solange wir kein Pithecanthropus sind. Es ist ja schließlich seine Freiheit, nicht die unsrige.

Den Kommunismus als das aufgelöste und sich als diese Auflösung wissende "Rätsel der Geschichte" zu bezeichnen, wie Marx das getan hat, ist ja wohl nun doch etwas zu happig. Es mag durchaus sein, dass die Anarchisten weniger in welthistorischen Perspektiven denken und auch etwas weniger Hegel gelesen haben, aber das wird daran gelegen haben, dass sie sich eher darum gekümmert haben, was heute, was hier und jetzt zu tun ist, damit die Menschen freier, autonomer und glücklicher werden können.

Den offiziösen Ideologen der "Arbeiter-und Bauernstaaten" freilich fällt mittlerweile immer noch nichts besseres ein, als uns mit ihren ewigen "Durchhalte-Parolen" auf die Nerven zu gehen. Wolfgang Harich, der irgendwann doch auch einmal bemerken dürfte, dass in seinen Staate die freien Geister so selten geworden sind wie die Steinböcke, preist in seiner "Abrechnung mit dem Anarchismus" gerade diejenigen, die soviel von der Geschichte reden und so wenig aus ihr gelernt haben: "Die progressive Richtung des allgemeinen Trends ist nicht zu verkennen: Sich den M.L. anschließen heißt, die Notwendigkeit von Organisiertheit und Disziplin erkannt zu haben, heißt zähe Kleinarbeit, fern von publicity auf sich nehmen, heißt Verbindung mit der Arbeiterklasse suchen."

Und Jean Grave, der, wie Harich sich herablässt zu sagen, bisweilen so argumentiere, daß "kein Marxist sich dessen zu schämen brauche", wird vorgeworfen, er sei doch etwas zu ungeduldig, wenn er mit grundsätzlichen Veränderungen nicht ein paar Jahrzehnte warten wolle: "Das  dominierende Motiv anarchistischen Denkens und Handelns, die revolutionäre Ungeduld, tritt darin mit der monumentalen Naivität zutage, die zu den untrüglichen Merkmalen alles Klassischen gehört".

Der Genosse Souchy verwahrt sich in seinem Beitrag zu diesem Band gegen diesen Vorwurf der "Ungeduld" und vertritt die Auffassung, Ungeduld könne man nur dem vorhalten, der dann revoluzzt, wenn es seiner eigenen Vorstellung nach noch garnicht soweit ist (wie etwa Lenin, dem, als er sich aus taktischen Gründen einmal für die Räte stark machte, der alte Bolschewik Goldenberg mit dem Verdacht kam, er wolle sich auf den seit vierzig Jahren verwaisten Thron Bakunins setzen. Der Verdacht war unbegründet). Aber, wenn man die Leute, die feststellen, dass die Zukunft immer in der Zukunftliegt, "Ungeduld" zur Last legt, dann sollte man sich nicht scheuen, sich zur "revolutionären Ungeduld" zu bekennen.

Wir haben keine sonderliche Lust, alle Jahre wegzuwerfen für eine Zukunft hinter den Wolken oder nach dem Motto "Ihr sollt's mal besser haben" dahinzuwelken, wenn wir, wie zu vermuten ist, nur einmal leben. "Une révolution que l'on se sacrifie pour elle, est une revolution a la papa" stand einst im Mai an einer Mauer in Paris. (Victor Hugo schrieb einmal an Sainte Beuve: "Pflücken wir nicht im Mai die Früchte, die erst im August reif sind". Das hat die KPF den Pariser enragés im Mai 68 gepredigt. Im August hat sie dann das Obst sterilisiert). "Es gibt ja für uns nur den Augenblick", so Landauer, "opfert doch nicht die Wirklichkeit der Chimäre! Wollt Ihr das rechte Leben, so lebt es eben jetzt!"

"Es gibt", so erreicht uns indessen von Harich die Kunde, "keinen einzigen Bereich menschlicher Praxis, in dem Handlungen, die zur Verwirklichung eines beliebigen Zwecks unternommen werden, selbst bereits Merkmale dieses Zweckes aufweisen müsste. Man begibt sich senkrecht auf seinen Füssen zu dem Bett, in dem man waagrecht liegen und die Füsse ausruhen will, und man unterzieht sich - ein hier näherliegender Vergleich - schmerzhaften chirurgischen Eingriffen, um schmerzhafte Krankheiten loszuwerden". Das heißt im Klartext: Laßt die KP-Chirurgen an den Operationstisch, und die Freiheit wird, wie Kropotkin es ausdrückte, "wie Manna vom Himmel fallen".

Auch ein bestelltes Buch sollte freilich nicht so geschriebenn sein, dass man es mit seiner eigenen Parodie aus den Witzseiten von Pardon verwechseln könnte.

Aber auch in einem anderen Punkt liegen die Anarchismus-Kritiker mit ihrem "Mythologie-Verdacht" weniger schief, als sie es selber glauben mögen. Nämlich darin, dass für viele Anarchisten die revolutionären Akte und die ständigen Revolten den Charakter des mythischen und antiken Festes haben, oder zumindest Züge aufweisen von dem "Augenblick", in welchem, Karl Kerény es sagt, nicht die Zeit still steht, aber sich "verwandelt" - in illo tempore. So schildert Bakunin die Februarrevolution in Paris: "Um es kurz zu sagen, ich sog mit allen meinen Sinnen, mit allen Poren die berauschende Atmosphäre der Revolution ein. Sie war ein Fest ohne Anfang und Ende, ich sah alle und niemanden, weil sich alles in der zahllosen feiernden Menge verlor, ich sprach mit allen und entsinne mich nicht mehr, was ich, was man mir sagte, denn bei jedem Schritt drangen neue Eindrücke, neue Abenteuer, neue Nachrichten auf einen ein. Unaufhörlich kamen Nachrichten aus dem übrigen Europa, die nicht wenig dazu beitrugen, den allgemeinen Taumel zu erhalten und zu bestärken: "On se bat à Berlin, le roi à pris la fuite, après avoir prononcé un discours! - On s'est battu à Vienne, Metternich s'est enfui, la République y est proclamée! Toute l‘Allemagne se souléve. Les Italiens ont triomphé à Milan, à Venise, les Autrichiens ont subi une honteuse défaite! - La république y est proclamée, toute L'Europe devient République. Vive la République! - Es schien, als vollziehe sich eine Umwälzung in der ganzen Welt. Das Unwahrscheinliche wurde gewöhnlich, das Unmögliche möglich, das Mögliche und Gewöhnliche aber war sinnlos geworden. Mit einem Wort: die Gemüter befanden sich in einem Zustande, so daß, wenn jemand gesagt hätte: 'Le bon Dieu vient d'etre chassé du ciel, la république y est proclamée!', würden alle es geglaubt haben, und niemand wäre erstaunt gewesen".

Und wie Dionysos nicht nur die Freuden und den Taumel brachte, die Töchter des Mynas rief, mit dem rasenden Gott zu tanzen, um die heiligen Bande von Zucht und Ordnung zu zerreißen, sondern auch der leidende Gott, der stirbt ohne jemals von Apollo bezwungen zu sein - "Und siehe" schreibt Nietzsche, "Apollo konnte ohne Dyonysos nicht leben!" - so ist auch für Proudhon die Revolution nicht allein "ein Fest, ein Liebeslied, eine Hymne auf das Glück", sondern es heisst auch: "Zu welcher Stunde auch immer das Signal gegeben wird, ist der Mensch bereit. Denn er ist immer im Tod, das heißt im Leben und in der Liebe".

Bakunin, von dem Bloch zu berichten weiß, er habe "das Feuer in den Bünden und Gewerkvereinen" gehalten, habe eine "gefährliche leere Begeisterung gelehrt" und "wilden Wald, freie Steppe und südrussisches Räuberleben eingetragen, oder eher noch eingesungen", schrieb aus dem Kerker an Zar Nikolaus I.: "Meine Natur hat immer ein tief verwurzeltes Laster: meine Liebe zu phantastischen, ungewöhnlichen, unerhörten Abenteuern, die unbegrenzte Horizonte eröffnen. Ich fühlte, in einem alltäglichen und ruhigem Kreise müßte ich ersticken. Gewöhnlich begehren Menschen nach Ruhe und sehen in ihr das höchste Gut. Aber Ruhe brachte mir Verzweiflung, meine Seele war in ständiger Bewegung, sie verlangte Tat, Bewegung im Leben."

Aus dieser "revolutionären Ungeduld" der Anarchisten hat man aber auch jedesmal versucht, Kapital zu schlagen, wenn es darum ging, jemanden zu finden, der die Kastanien aus dem Feuer holen sollte. "In Zeiten der Revolution", gab Sinojew im Jahre 1920 seinen italienischen Genossen zu bedenken, "ist Malatesta besser als d'Aragona. Sie machen die dümmsten Sachen, aber es sind Revolutionäre. Wir haben Seite an Seite mit den Syndikalisten und den Anarchisten gegen Kerenski und gegen die Menschewiki gekämpft. Auf diese Weise haben wir Tausende von Arbeitern mobilisiert. In Zeiten der Revolution braucht man Revolutionäre. In revolutionären Zeiten müssen wir uns ihnen nähern und einen Block mit ihnen bilden", was wohl als eine höflichere Variante dessen aufzufassen ist, was einmal ein französischer Republikaner über Bakunin sagte: "Am ersten Tag der Revolution ist dieser Mann Gold wert, am zweiten muß man ihn erschießen".

Auch der junge Mussolini bemerkte: "In friedlichen Zeiten ist ihr Einfluß begrenzt, aber in Zeiten, da im Volk eine unruhige Stimmung herrscht, können sie von großem Einfluß sein, weil sie logisch, kühn und uneigennützig sind."

Und nach der Revolution? Plechanow sagte es mit wünschenswerter Offenheit: "Wenn das Proletariat (sprich: die KP) Herr der Situation sein wird, wird es nur die Augenbrauen zu runzeln haben, um alle "Genossen" zur Ruhe zu bringen, es wird nur zu hauchen brauchen, und der anarchistische Staub wird verschwinden."

Hier sieht man in der Revolution nichts als ein Mittel zum Zweck, und es scheint ganz gleichgültig zu sein, welcher Akteure man sich auf welche Weise bedient. Was zählt, ist der Effekt. Man geht ja auch schließlich senkrecht ins Bett, in dem man nachher waagrecht liegt. ... "Strikes for the hell of it", wie der Genosse Bookchin in seinem Beitrag schreibt, kleine Revolten, die überall aufflackern, Veränderungen des alltäglichen Lebens, in der Art und Weise wie man denkt und fühlt, wie man spricht, sich kleidet und sich bewegt - das ist jedoch die Revolution, in der die unzähligen Hypotheken, die bis in unsere Triebstruktur hinein auf uns lasten, sich abbauen können.

Adorno hat einmal gesagt, die Freiheit einer "kritischen Philosophie" sei nichts anderes, als das Vermögen, ihrer Unfreiheit zum Laut zu verhelfen. Alles andere arte in "Weltanschauung" aus, und für uns, die wir in der "falschen Welt" lebten, sei die "richtige" wohl unerträglich, da wir für sie "zu beschädigt" seien.

Man kann sich freilich auch etwas darin sonnen, ein kaputter Typ zu sein und dies zu einer geradezu "metaphysischen Tatsache" hochstilisieren, und dabei die realen Möglichkeiten zu vergessen, die man hat, frei und glücklich zu werden. Das hätten Adorno und Horkheimer von einer anderen "negativen Theologie", den Zen-Buddhismus erfahren können, daß nämlich das rechte Leben nicht "transzendent" ist. (Enzensberger grenzt in seinen Beitrag die "neuen" von den "alten" Anarchisten ab und meint über die letzteren "sie brauchen keine Drogen". Nun, wir auch nicht. Aber wir sind ganz gerne bekifft).

Dieser Band ist Paul Goodman gewidnet. Als wir ihn im August 1972 fragten, ob er einen Beitrag zur Anthologie schreiben wolle, hatte er nur noch ein paar Tage zu leben. Er war jemand, der, wie der von Mussolini ermordete Carlo Rosselli, von sich sagte, er sei ja eigentlich nur ein Liberaler, oder ein "jungsteinzeitlicher Konservativer", jeden geistigen, politischen, oder industriellen Leviathan abgeneigt. Einen deutschen Linksintellektuellen, der weiß, was er seiner Tradition schuldig ist, und den heute Lenins Satz, nur der könne das Kapital verstehen, der vorher Hegels Logik studiert habe, endlich die Legitimation gibt, neben seinen blassen Kapital-Kursen noch langweiligere Hegel-Seminare abzuhalten, mag Goodman etwas wenig "sophisticated" erscheinen, weil er eher an Problemen wie "banning cars from Manhattan" oder einer hunanen Städteplanung interessiert war als an einer "transzendentalen Deduktion materialistischer Kategorien" à la Habermas oder Sohn-Bethel, oder an der Ausarbeitung der Grundprinzipien einer linken Kaderpartei.

Ein Landsmann Goodnanns hat einmal bemerkt, die deutschen Intellektuellen welcher Schattierung auch inner, redeten stets "mit Begeisterung von dem Gesamtbild", von der "großen Ordnung", der "großen Übersicht", dem "Allgemein-Gültigen", und empfänden "ein gewisses Unbehagen" gegenüber allem, was sich nicht unter universelle Formeln subsumieren liesse. Goodmann war das, was man hierzulande etwas schulterklopfend "pragmatischer Anarchist" nennt, und von dem man zu sagen pflegt, daß es so etwas halt auch geben müsse, wenn ihn auch die Aura einer umfassenden Theorie fehle. (Dies gilt gerade wieder für unsere Tage, in denen uns einmal mehr, um mit Marx zu sprechen, der Weltgeist in die "Kritik" gerutscht ist, und in denen auch das fadeste Traktätchen in der linken Bücherschwemme es nicht unter einer "kritischen emanzipatorischen Theorie" tut).

Theodore hat Goodmann einmal so charakterisiert: "Wo die gängige akademische Haltung unter der Maske begrenzter Fachweisheit geziert, zurückgezogen und auf Verteidigung bedacht ist, tritt Goodman als ganzer und verletzlicher Mensch auf, als wollte er sagen, "die Wahrheit ist ebenso eine Sache dessen, was ich bin, wie dessen, was ich weiß. So will ich Euch also zeigen, was ich bin". Sally Goodman fand "nur ein altmodisches Liebeslied" unter seinen Sachen, mit dem handschriftlichen Vermerk "Change title". Ich bin dieser Aufforderung nicht nachgekommen, weil mir der Titel irgendwie zu passen scheint, ohne dass ich genau sagen könnte, warum. Mag sich jeder den Titel dazu denken, der ihm gefällt.

Dezember 1973

Anmerkung: Vorabdruck des Vorwortes zu Unter dem Pflaster liegt der Strand: Anarchismus heute, Band 1, Karin Kramer Verlag, Berlin 1974 mit Beiträgen von Noam Chomsky, Christa Dericum, Murray Bookchin, Augustin Souchy, Hans Magnus Enzensberger, Paul Goodman, Paul Feyerabend, Martin Puder, Daniel Guerin, Kent Taylor und Hans Peter Duerr

Originaltext: Zeitgeist. Zeitschrift für sozialen Fortschritt - freien Sozialismus - Kultur und Zeitgeschehen. Nr. 26/27, März-Juni 1974 (16. Jahrgang), Hamburg. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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