Gerhard Senft - Zum Verhältnis von Anarchismus und Ökonomie
Wirtschaft gestalten am Rande und mittendrin
Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschien das Buch des bekannten Wirtschaftsforschers Friedrich August Hayek „The Road to Serfdom“ („Der Weg zur Knechtschaft“), das er den „Sozialisten in allen Parteien“ widmete. Hayek analysiert darin die sozioökonomischen Megatrends der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und gelangt zu dem Schluss, dass die faschistischen Regierungen bei der Umgestaltung der Wirtschaftsordnung in Europa vielfach auf „sozialistische Vorarbeit“ zurückgegriffen hätten. (Hayek 1976, S. 118, S. 122f) Ausführlich beschäftigt er sich mit dem Wesen des „nationalen Sozialismus“, um den Nachweis einer Wesensverwandtschaft von faschistischem und sozialistischem Gedankengut zu erbringen. (Hayek 1976, S. 111ff, 173ff) Einer der Autoren, auf den sich Hayek bezieht, ist der Tat-Kreis-Initiator und „Edelnazi“ Ferdinand Fried, der in seiner Schrift „Die soziale Revolution“ (1942) die Entwicklungen seiner Zeit – Entstehung großer wirtschaftlicher Konglomerate, Zunahme der staatlichen Lenkung, Ablösung der Unternehmer durch die Manager, Bedeutungsgewinn der Hochtechnologie – beschrieben und mit recht eigenwilligen Interpretationen versehen hatte. (Hayek 1976, S. 185)
Übereinstimmend ist bei Fried und Hayek die Neigung feststellbar, eine im Wesen des Kapitalismus grundangelegte Umwälzung einer halluzinierten Herausbildung sozialistischer Wirtschaftstrukturen zuzurechnen. Die wahrgenommenen Veränderungen mögen in einigen Punkten einem „preußischen“ Sozialismus-Modell und damit einem Zerrbild entsprochen haben, ganz gewiss aber nicht dem Sozialismus an sich. (vgl. Kühnl 1993, S. 58ff) Hayek verzichtete in seinem Buch völlig auf die Behandlung des libertären Sozialismus bzw. des Anarchismus, der ihm aus seiner Wiener Schaffensperiode zumindest peripher bekannt gewesen sein muss. Ähnlich ignorant verhalten hatte sich bereits Ludwig Mises, der Lehrer und Förderer Hayeks, als er zu Beginn der 1920er Jahre sein umfangreiches Werk „Die Gemeinwirtschaft“ vorlegte. (Mises 1922) Mises ging es damals ebenfalls um eine theoretische Widerlegung des Sozialismus, und auch er lieferte mit der Vernachlässigung des libertären Sozialismus ein nur fragmentarisches Betrachtungsergebnis, wie der österreichische Anarchist Pierre Ramus 1923 zu Recht feststellte. (Ramus 2001, S. 93ff)
1. Der libertäre Sozialismus nach 1945
In den Ländern der westlichen Welt waren die sozialen Gegebenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg nur schwer vergleichbar mit jenen von 1918. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Arbeiterschaft sehr selbstbewusst hervorgetreten, die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften wuchsen sprunghaft an, eine Reihe sozialpolitischer Erfolge konnte so errungen werden. Die weit reichenden Emanzipationshoffnungen waren geweckt durch die Einflüsse der Russischen Revolution und der Rätesysteme in Deutschland bzw. Ungarn. In Italien kam es zu zahlreichen Unruhen und Streiks, die ihren Höhepunkt im Herbst 1920 erreichten, als die Arbeiterinnen und Arbeiter die Fabriken in den Industriebezirken besetzten. Im ländlichen Raum wurden zahlreiche Güter von der Landarbeiterschaft übernommen und in Kooperativen umgewandelt. Ein dichtes Netz sozialistischer Konsumgenossenschaften sorgte für die Verteilung der produzierten Güter. Auch in Österreich standen Betriebsübernahmen durch die Arbeiterschaft und die Sozialisierung von Unternehmen auf der Tagesordnung. (Abendroth 1975, S. 87ff)
Völlig anders hingegen gestalteten sich die Dinge nach 1945. Dem Faschismus war die weitgehende Zerschlagung der Arbeiterbewegung gelungen. Im Vordergrund stand für die Menschen der ökonomische Wiederaufbau, an den in den 1950er Jahren das so genannte Wirtschaftswunder anschloss. Das Investitionsklima gestaltete sich bis in die 1960er Jahre günstig, der Kapitalstock wuchs, die Arbeitslosigkeit blieb gering, inflationäre Prozesse hielten sich in Grenzen. Mit der Modernisierung der Wirtschaft fand der Fordismus – gekennzeichnet durch ein steigendes Lohnniveau, einem in Gang kommenden Massenkonsum, sozialstaatliche Absicherungsmaßnahmen und garantierte Wohlfahrtsrechte – seine Ausbreitung. Vieles schien nun möglich, mit dem Einrücken smarter Technokraten in die Schaltstellen der Gesellschaft wurde der Fortschrittsglaube zu einer Art neuer Religion. (Senft II, S. 9f)
Die in der Zwischenkriegszeit noch lebendige Kultur des libertären Sozialismus gehörte ohne Zweifel zu den Opfern der faschistischen Ära: „Verfolgung, Vertreibung, Deportation, Gefängnis, Hinrichtungen und die hohen Opfer im Widerstand hatten die Zahl aktiver Anarchisten dahinschmelzen lassen.“ (Stowasser 1995, S. 332) Eine größere libertäre Restinsel bestand in Südwestfrankreich, wohin sich zahlreiche Überlebende der Spanischen Revolution der 1930er Jahre zurückgezogen hatten. Exilgruppen der spanischen Anarchosyndikalisten fanden sich auch in Nordafrika, in Australien oder in Lateinamerika. In Italien verhinderten interne Querelen und Fraktionskämpfe eine Wiederbelebung der unter Mussolini verbotenen Organisationen. Wichtige Impulse kamen jedoch aus Großbritannien, aus den Niederlanden und der Schweiz sowie aus den Vereinigten Staaten. Eine zentrale Rolle spielte Schweden, wo die 1910 gegründete syndikalistische Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC) mit ihren etwa 30.000 Mitgliedern auf eine stetig gewachsene Infrastruktur zurückgreifen konnte. Von der „Auslandshilfe“ der SAC profitierte vor allem der Anarchismus in Deutschland. Dort bemühten sich versprengte Libertäre im Rahmen der Föderation Freiheitlicher Sozialisten (FFS), der Nachfolgeorganisation der alten Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD), um eine inhaltliche und organisatorische Neuorientierung. (Stowasser 1995, S. 331ff)
2. Vom „revolutionären“ zum „pragmatischen Anarchismus“
Die gesellschaftlichen Veränderungen fanden auch im anarchistischen Wirtschaftsdenken nach 1945 ihren Niederschlag. So stellt Augustin Souchy fest, dass der westliche Kapitalismus durch vermehrte staatliche Eingriffe und Fördermaßnahmen wie dem US-Marshallplan eine erstaunliche Regenerationsfähigkeit entwickelt habe und daher mit einem „Zusammenbruch“ im Sinne marxistischer Theoretiker so bald nicht gerechnet werden könne. (Souchy I, S. 25ff) Der in den Vereinigten Staaten sesshaft gewordene Rudolf Rocker zeigt sich überzeugt, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem jedoch nichts von seiner negativen Dynamik eingebüßt habe. Besonders in der Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten und im ausgedehnten Rohstoffbedarf der industrialisierten Länder sieht er eine weiterhin schwelende Kriegsgefahr. Die Unfähigkeit der westlichen Welt, geeignete Umgangsformen mit ehemaligen Kolonien in Afrika, Asien oder Lateinamerika zu entwickeln, betrachtet Rocker als zusätzlichen Faktor der Instabilität. (Rocker I, S. 13f) Es gehe nun darum, so Rocker, sich von konfliktträchtigen ideologischen Mustern wie dem Malthusianismus („Der Tisch ist nicht für alle gedeckt“) und dem Sozialdarwinismus („Kampf ums Dasein“) zu verabschieden, um mit den vorhandenen Ressourcen einen vernünftigen „Wohlstand für Alle“ sicherzustellen. Keine andere Form menschlichen Handelns bringe eine solch gewaltige sinnlose Verschwendung hervor wie der Krieg. (Rocker I, S. 15)
Interessant ist die Einschätzung des Kapitalsektors bei Rudolf Rocker. Kapital, so führt er aus, sei nicht mehr und nicht weniger als „vorgeleistete Arbeit“, kombiniert mit den vorhandenen natürlichen Ressourcen. Jedes moderne ökonomische System sei auf Kapital angewiesen, zu verurteilen seien jedoch die ungleich verteilten Verfügungsrechte, was zu einer einseitig orientierten Profitwirtschaft, zur Ausbeutung der „Have-Nots“ führen müsse. (Rocker I, S. 16) Fritz Linow präzisiert: Nicht erst „die Trusts und Kartelle, die Preisabreden und Marktregelungen“, sondern bereits das „unhaltbare private Besitzrecht an den Produktionsmitteln macht die Wirtschaft zur Monopolwirtschaft“. (Linow II, S. 3)
In derartige Überlegungen einbezogen werden auch die mit der Umwälzung der Eigentumsverhältnisse (Stichwort: Shareholder) und Entscheidungsbefugnisse (Stichwort: Manager) verbundenen Tendenzen in Richtung großbetrieblicher Strukturen und Zusammenhänge. Helmut Rüdiger bezieht sich in seinen Betrachtungen auf den US-amerikanischen Autor James Burnham, der im Juni 1941 sein Buch „The Managerial Revolution“ vorgelegt hatte. (Rüdiger II, S. 51) Burnham behauptet darin die Entstehung einer Gesellschaftsformation, in der Manager und technische Experten als neue „herrschende Klasse“ auftreten. Das Managementprinzip – so seine Prognose – werde sich auf allen Ebenen durchsetzen und zur einer „total verwalteten Gesellschaft“ führen. (Burnham 1951, S. 42f) Während Ökonomen wie Joseph A. Schumpeter (1980, S. 213ff) Veränderungselemente wie dieses als Mittel einer effizienter organisierten Wirtschaft und als Vorbote eines „sozialistischen Systems“ deuteten, warnten die Anarchisten vor überhand nehmenden Kontrollzwängen in der Gesellschaft. (Rüdiger III, S. 74)
Unisono wird auf libertärer Seite davor gewarnt, sich im Diskurs um den Sozialismus rein auf die „Magenfrage“ zu beschränken. Das sozialistische Denken habe primär zu tun mit den Ideen der Gleichheit und der sozialen Integration, mit den Zielen eines selbstbestimmten Lebens und dem allseitigen Wohlbefinden des Individuums in der Gesellschaft. „Sozialismus“, so stellt Fritz Linow fest, „ist die Vereinigung der Produzenten in genossenschaftlichem Geist und ein System der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, welches in echter Demokratie den Bürger in einer zweckentsprechend gegliederten Gemeinde zum Träger der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Initiative macht.“ (Linow IV, S. 48) Die von anarchistischer Seite vorgeschlagene selbstverwaltete Gesellschaft besteht somit als ausdrücklicher Gegenentwurf zum Technokraten-Modell à la Schumpeter. Vergleichbar den staatskapitalistischen Systemen in Osteuropa gerate die Gesellschaft unter technokratischen Bedingungen mehr und mehr in den Vormundschaftsbereich einer Managerelite, die – getrieben vom kapitalistischen Profitmotiv – jede Lebensäußerung zentralistisch und bürokratisch zu erfassen versuche. – Ein neuer Totalitarismus sei die Folge. (Linow V, S. 53)
Dass auch in den Gewerkschaften das den ursprünglichen Ideen der Arbeiterbewegung zuwiderlaufende Managementprinzip Einzug gehalten habe, muss in einem Umfeld, das noch von den Traditionen des Syndikalismus und des Gildensozialismus geprägt ist, als besonders bedenklich eingestuft werden. (Linow II, S. 11f) Funktionäre systemkonformer Gewerkschaften – so zeigt sich Fritz Linow überzeugt – seien inzwischen Teil einer zentralistischen Unterwerfungsordnung geworden; kein „Mitbestimmungsrecht“ könne darüber hinwegtäuschen. (Linow III, S. 10, 12) Nicht eine statistiklastige „Kommandowirtschaft“ könne das Ziel sein, bekräftigt Rocker im Gedankenaustausch mit Linow, sondern eine ökonomische Ordnung, die Gestaltungsfreiheit, Raum für Experimente sowie die Begegnung von Produzenten und Konsumenten unter herrschaftsfreien Bedingungen ermögliche. (Rudolf Rocker im Brief an Fritz und Lisa Linow vom 29. 8. 1949, S. 5, Archiv: Hans Jürgen Degen) „Dezentralisation und Föderalismus in der Wirtschaft, auf jedem Gebiete des sozialen Lebens, ist heute das Gebot der Stunde.“ (Ebd., S. 4) Solche Ausführungen sind jedoch nicht als Absage an planwirtschaftliche Elemente zu lesen. Rudolf Rocker: „Wie man kein Haus bauen kann, ohne einen bestimmten Plan zu haben, so ist auch das Wirtschaftsleben ohne Planung nicht denkbar.“ (Ebd., S. 6) Aber, ergänzt Linow, „wir verstehen unter Planwirtschaft etwas anderes als die kapitalistischen Konzernpolitiker und die Machthaber des Ostens. Wir verstehen darunter eine Wirtschaft, in der nicht der Mensch zum Sklaven der Planung wird, sondern wo die Planung bei den Bedarfsträgern beginnt, um an die Produktionsstätten weitergegeben zu werden. […] Bedarf und Erzeugung müssen miteinander in Übereinstimmung gebracht werden, und wenn die Erzeugung in Produktionsgenossenschaften geübt wird, dann dürfte es sich als notwendig erweisen, den Bedarf in den Verbrauchsgenossenschaften zu organisieren.“ (Linow I, S. 60)
Die formulierten Vorstellungen wiesen durchaus Realitätsnähe auf, wie die Planification in Frankreich, eine spezifische Variante der Wirtschaftsplanung, seit 1946 zeigte. Diese hatte nichts gemein mit der Planwirtschaft in Osteuropa, sondern bestand in erster Linie aus einer mittelfristigen Finanz- und Investitionsplanung. Voraussetzung war, dass vor allem der Bankensektor unter öffentliche Kontrolle gestellt war. Im Gegensatz dazu blieben die Entscheidungsspielräume des Produktionssektors weitgehend unangetastet. Der erste 1946 verabschiedete Plan gab Prioritäten für Problembereiche wie Energie, Verkehr, Bauindustrie und Landwirtschaft vor. Mit wachsendem Erfolg wurde die Planification zu einem Aushängeschild des französischen Weges einer gelenkten Modernisierung. Ab Mitte der 1950er Jahre verlor die Planification zwar nach und nach an Bedeutung, als Ort des sozialen Dialogs oder als Prognose- und Beratungsstelle blieb sie jedoch bis 1974 erhalten. (Pütz 1979, S. 43ff)
Im Gegensatz zur französischen Planification weist die libertäre Wirtschaftsprogrammatik deutlich stärker in Richtung dezentraler und föderalistischer Strukturen. Als relativ häufig zitiertes Referenzmodell taucht bei den Anarchisten nach dem Zweiten Weltkrieg die israelische Kibbuzökonomie auf. (Souchy II, S. 8) Wirtschaften beginnt im lokalen Rahmen, übergeordnete Zusammenhänge sind aber nicht weniger wichtig. Auf der Basis des Föderationsprinzips wird für Helmut Rüdiger (1949!) sogar ein vereintes Europa vorstellbar. (Rüdiger I, S. 64ff) „So viel Plan wie möglich – so viel Markt wie nötig“, scheint dabei das Motto der Libertären zu lauten. Ein völliger Marktverzicht sei jedoch auszuschließen, wie etwa der schwedische Syndikalist Bengt Hedin anmerkt. Marktwirtschaftliche Elemente hätten durchaus ihren Nutzen (z. B. Preis als Knappheitsindikator), nur dürfe der Markt nicht von kapitalistischen Produzenten beherrscht werden. In jedem Fall aber sei die Selbstregulierung des Marktes einem staatlichen Dirigismus vorzuziehen. (Hedin 1953, S. 24ff)
3. Brüche und Wendepunkte
In der Literatur wird die anarchistische Lehre zumeist als ein Ideenkonglomerat mit einer gemeinsamen Zielausrichtung, nämlich der Herrschaftsfreiheit, beschrieben. Die Klassiker des Anarchismus zeigen hinsichtlich ihrer Wirtschaftsauffassungen ein breites Spektrum unterschiedlicher Denkansätze:
- Individualistischer Anarchismus: Marktwirtschaft, Antimonopolismus, autonome Geldschöpfung (Benjamin R. Tucker)
- Mutualistischer Anarchismus: Genossenschaftsprinzip, gegenseitige Hilfe, Tauschgerechtigkeit, Föderalismus (Pierre-Joseph Proudhon)
- Kollektivistischer Anarchismus: kollektive Produktion, individuelle Entlohnung (Michail A. Bakunin)
- Kommunistischer Anarchismus: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen (Pjotr A. Kropotkin)
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte vor allem das Proudhonsche Gedankengut ungebrochen weiter. War es doch der französische Anarchist gewesen, der in eine breite Auseinandersetzung mit der klassischen Nationalökonomie eingetreten war, und der die Basis einer den Anforderungen einer funktionellen Demokratie entsprechenden Wirtschaftsordnung geliefert hatte. Allerdings fehlte es nach 1945 an einer umfassenden Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen akademischen Wirtschaftslehre, die in einen temporeichen Prozess der Ausdifferenzierung eingetreten war (Arbeitsmarkttheorie, Außenwirtschaftstheorie, Geldtheorie, etc.). Man konnte und man kann den Wirtschaftswissenschaften vieles anlasten – etwa unrealistische Annahmen beim Menschenbild oder hinsichtlich der Markttransparenz, bedenkliche Gradmesser des Wohlstandes (z. B. Bruttosozialprodukt), mit dem Profitmotiv gekoppelte mechanistische Vorstellungswelten –, die Weichenstellung in Richtung Programmatik bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Theorie, das Ausklinken aus dem ökonomischen Diskurs stellte aber ein hausgemachtes Problem des libertären Lagers dar. Immer deutlicher zeigte sich, dass den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen nur begrenzt mit der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts begegnet werden kann. Personen wie der analytisch begabte Rudolf Rocker wurden immer mehr zu Ausnahmeerscheinungen. In den 1950er Jahren machte sich das Fehlen einer Nachfolgegeneration bereits schmerzlich bemerkbar; die anarchistische Bewegung drohte zu vergreisen.
Erst im Gefolge des Jahres 1968 wurde wieder ein Auftrieb für die libertäre Ideenwelt spürbar. Was als Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg begonnen hatte, mündete in einen Kampf gegen das Autoritätsprinzip – insbesondere in den Bereichen Erziehung und Bildung –, gegen sexuelle Repression oder für Minderheitenrechte. In den Vereinigten Staaten, in Westeuropa, aber auch im sowjetischen Herrschaftsbereich setzten tief greifende gesellschaftliche Veränderungen ein. Das frisch entfachte Interesse am Anarchismus wurde von den Altanarchisten allerdings mit zum Teil erheblicher Skepsis aufgenommen. Die 68er-Bewegung verstand sich in erster Linie als Kulturbewegung, deren Zielausrichtung in ökonomischer Hinsicht jedoch nicht klar erkennbar war. Der Anarchismus wurde nun vielfach zu einem romantischen „Gefühls-Anarchismus“, dessen Unvereinbarkeit mit einem stringenten ökonomischen Theoriegebäude auf der Hand lag. Mit einer gewissen Folgerichtigkeit wurden Denkansätze benachbarter Strömungen als „Lückenfüller“ übernommen. So kam es auf der einen Seite zum Crossover zwischen „Bakunin“ und „Marx“, auf der anderen Seite erfolgte eine Annäherung an die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells, dessen Anhängerschar überwiegend eine sozialliberale Orientierung angenommen hatte. (Senft I, S. 213ff)
Freilich gab es noch die Analysen des Italieners Luciano Lanza, Herausgeber des Blattes „A-rivista anarchica“, der unermüdlich die Bedeutung des wirtschaftlichen Sektors betonte. Eine seiner zentralen Thesen lautet: Herrschaft ist als eine Art „anthropologische Grundkategorie“ zu betrachten. Das Prinzip der Herrschaft verfolgt den Menschen seine gesamte Geschichte hindurch, wobei herrschaftliches Handeln besonders in dem Bestreben zum Ausdruck kommt, innerhalb der Gesellschaft die strategisch „günstigste“ Position zu besetzen. So geht die Herrschaft heute weltweit von einem hegemonial positionierten ökonomischen Sektor aus. Nur von dort aus sei der einzelne Mensch uneingeschränkt zu kontrollieren, zu manipulieren und zu unterwerfen. (Lanza I und II)
Angesichts solcher auf den ersten Blick nicht gerade ermutigender Einsichten war es wenig überraschend, dass der Utopismus wieder einen gewissen Zuspruch erlebte. Eine vor allem im deutschsprachigen Raum beachtliche Popularität erreichte der Entwurf „bolo’bolo“ des Züricher Ökonomen und Philosophen P. M., der an die Vorstellung einer aus vielen kleinen autonomen Gemeinschaften bestehenden Welt anschließt: „bolo“ steht für eine sich selbst versorgende Kommune, „bolo’bolo“ für ein Netz derartiger Gemeinschaften, wobei die „bolos“ auf Tauschbasis miteinander verkehren. Unzweifelhaft ist der Autor von der Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft und von der Möglichkeit einer gemeinsamen Regulation der Märkte überzeugt. Grundlage der politischen Entscheidungsfindung ist nach P. M. die Vollversammlung im „bolo“, übergeordnete Belange werden mittels delegierter Räte zwischen den Gemeinschaften ausverhandelt. (P. M. 1983) „bolo’bolo“ stand paradigmatisch für verschiedene Anliegen, wie sie seit Mitte der 1970er Jahre innerhalb der Autonomenszene formuliert wurden. Weder parteipolitisch noch sonst formal organisiert zielten die Autonomen auf Herstellung selbstbestimmter Freiräume, indem sie auf aktionistischem Wege die wunden Punkte des modernen Kapitalismus aufzeigten. Im Umfeld der sehr heterogenen Szene formierten sich die Hausbesetzerbewegung, die AKW-Gegner oder verschiedene Antifa- und Friedensgruppen. (Gross; Schultze 1997, S. 147ff )
4. Was ist eigentlich „Anarchokapitalismus“?
Das eigenartige an dieser Entwicklung war, dass gerade zu einem Zeitpunkt, als der libertäre Bezug zur ökonomischen Theorie abhanden kam, Personen aus dem Forschungsestablishment ihr Interesse für die „Anarchie“ zu bekunden begannen. Mitte der 1970er Jahre erschien James M. Buchanans Buch „Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan“, etwa zeitgleich trat Robert Nozick mit seinem Werk „Anarchy, State and Utopia“ („Anarchie, Staat, Utopia“) hervor, in dem er einen Minimal- bzw. Nachtwächterstaat zu begründen versucht, der sich auf den Schutz der Rechte und des Eigentums seiner Bürger beschränkt. Argumentativ vertritt Nozick darin u. a. die Position, dass jede mittels freien und einvernehmlichen Austauschs zwischen mündigen Personen herbeigeführte Verteilung von Gütern gerecht sei, selbst wenn durch diesen Prozess gravierende Ungleichheiten und somit auch Machtdifferenzen entstehen. (Nozick 1974, S. 150ff) Mit dem klassischen Anarchismus hatte all dies nicht mehr das Geringste zu tun. In Wahrheit handelt es sich bei Buchanan und Nozick um konservative Ideologen, ebenso wie bei dem 1976 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichneten Milton Friedman, der uns auf diversen Internetforen bis heute als „liberaler Anarchist“ präsentiert wird.
Durchaus ähnlich gelagert erscheinen die Dinge im Fall des so genannten Anarchokapitalismus. Hierbei handelt es sich um eine sozialphilosophische Konzeption, die für einen freien Markt, für das Privateigentum und für freiwillige vertragliche Bindungen innerhalb der Gesellschaft eintritt, wobei staatliche Institutionen und Eingriffe ausgeschlossen sind. Der Begriff Anarchokapitalismus geht auf den nordamerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Murray N. Rothbard zurück, der Elemente des klassischen Liberalismus, der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und der Programmatik der US-Libertarians zu verbinden versucht. (Rothbard 1978) Im Zentrum der Herrschaftskritik Rothbards – der sich selbst als „Right-Wing Intellectual“ definiert – steht der Staat, sonstige gesellschaftliche Machtverhältnisse spielen bei ihm nur eine untergeordnete Rolle. Rätselhaft bleibt die Konnotation dieser oder ähnlicher Theoriegebilde mit dem Begriff des Anarchismus. Aber vielleicht stand nur das Vorhaben im Raum, einer inzwischen endlos abgeleierten wirtschaftsliberalen Kennmelodie ein paar wuchtige „Beats“ hinzuzufügen, um damit ein dynamischeres Erscheinungsbild zu erzeugen …
Die „anarchokapitalistische“ Position passte ideologisch jedenfalls ausgezeichnet in die Umbruchszeit der späten 1970er Jahre, in die Phase der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklungen, in der „Keynesianische“, also interventionistische wirtschaftspolitische Bewältigungsversuche nicht mehr so richtig zu greifen schienen. Dem verlangsamten Wirtschaftswachstum, den sinkenden Produktivitätszuwächsen und dem durch die Erdölkrisen ausgelösten Preisgalopp sollte mittels angeblich neuer wirtschaftspolitischer Vorgaben zu Leibe gerückt werden. Mehr Vertrauen in die Marktkräfte wurde gefordert, die Nachfrageorientierung in der Wirtschaftspolitik sei durch eine Ausrichtung an so genannten Supply-Side-Economics (angebotsorientierte Ökonomie) zu ersetzen. Der private Wirtschaftssektor mit seiner Innovationskapazität wäre stark genug, alles wieder ins Lot zu bringen. In der Phase gesättigter Massenmärkte schürte die Verkündung einer neuen („postindustriellen“) deregulierten Dienstleistungsgesellschaft erhebliche Hoffnungen. Weltweit machten sich die Staatsführungen daran, Liberalisierungs-, Privatisierungs- und Flexibilisierungsprogramme auf breiter Ebene durchzusetzen. Doch weder die brutal vollzogene „Rückkehr ins Dienende“ auf dem Wege des „Outsourcings“ und im Zuge der Steigerung der Zahl der „Ich-AGs“, noch die Versprechungen einer „New Economy“ haben auf wirtschaftlicher Ebene etwas zum Besseren bewegt – viel mehr muss heute vom Gegenteil ausgegangen werden. (Hamelink 2000, S. 173)
5. Umrisse einer libertären Ökonomie
Zweifellos wohnten dem Aktionismus, mit dem der Anarchismus im Gefolge der Bewegung von 1968 die Aufmerksamkeit auf sich zog, zahlreiche aufklärerische Momente inne. Nicht nur der Anarchosyndikalismus erlebte nun seine Wiederauferstehung. (Drücke 1998, S. 190ff) Aufsehen erregend wirkten auch die konsumkritischen Aktivitäten aus dem Umfeld der Situationistischen Internationale. Einen legendär gewordenen Auftritt lieferte etwa eine Londoner Künstlergruppe, die als Weihnachtsmänner verkleidet in einem Kaufhaus Spielzeug an sich nahm und an die anwesenden Kinder verteilte. Die herbeigerufene Polizei nahm den Kleinen die Waren wieder ab und verhaftete – unter den fassungslosen Blicken der Kinder – die Weihnachtsmänner.
Nicht zu vergessen sind verschiedene „realwirtschaftliche Projekte“, die als Hoffnungsträger einer libertären Linken fungierten. Im Jahr 1971 wurde in Dänemark die Freistadt Christiania als alternatives Siedlungsprojekt ins Leben gerufen. Die autonome Kommune umfasst ein ca. 34 ha großes Gebiet, das im Kopenhagener Stadtteil Christianshavn liegt. Hier gelang der Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur, alle erforderlichen Dienste, von der Straßenreinigung über die Post bis hin zu Kindergärten und Schulen, bestehen bis heute in selbstorganisierter Form. (Bischoff 1995) In Portugal machte die Nelkenrevolution 1974 den Weg frei für eine in etlichen Bereichen vom Geist des iberischen Anarchosyndikalismus angeregte Umgestaltung der Wirtschaft. In zahlreichen Fabriken bildeten sich räteähnliche Strukturen, noch vor dem Einsetzen der großen Agrarreformen war es unter dem Motto „A terra aquem a trabalha“ („Das Land denen, die es bearbeiten“) zu spontanen Landbesetzungen und zur Bildung genossenschaftlicher Zusammenschlüsse gekommen. In den Städten wie im ländlichen Bereich wurden basisdemokratisch organisierte Kommunalräte installiert. Konsumgenossenschaften, gewerbliche Produktionskollektive sowie Assoziationen im Baugewerbe oder im Wohnbaubereich ergänzten die bestehende Wirtschaftsstruktur. (Senft III, S. 19ff)
Die meisten der einstigen Hoffnungsgebiete sind inzwischen wieder in der kapitalistischen Normalität angekommen. Dennoch bleiben vom letzten Viertel des 20. Jahrhunderts genug gedankliche Ansätze, deren Weiterentwicklung lohnend erscheint. Als ein vielbeachteter Kritiker des modernen Kapitalismus trat Noam Chomsky hervor. In seiner Auseinandersetzung mit dem Machtphänomen in der Wirtschaft übernahm er mehrere Kritikpunkte der amerikanischen Schule des Institutionalismus. Die Idee eines vollkommenen Wettbewerbes hält er demgemäß für eine Chimäre, die bestimmende Rolle in der Wirtschaft habe eine anonyme Führungsschicht übernommen, die aus dem engen Zusammenspiel von Großunternehmen und staatlichen Institutionen hervorgegangen sei. Die Gesellschaft werde von einer Elite manipuliert, um die Fertigungskapazitäten der Konzerne auszulasten und Absatzziffern zu steigern. So gehe es heute nicht mehr darum, für den Verbrauch zu produzieren, sondern für die Erzeugung zu konsumieren. (Chomsky 2004, S. 258) Widersprüche ortet Chomsky auch im Zusammenhang mit dem spekulativen Kapital, dessen Anteil an dem für internationale Transaktionen zur Verfügung stehenden Kapital zwischen 1970 und Mitte der 1990er Jahre von 10 auf 95 Prozent angewachsen sei. (Ebd., S. 447f) Politische Steuerungsmaßnahmen seien so gegenüber Spekulationsbewegungen immer unwirksamer geworden. Anarchisten sind seit jeher gegen den nationalen Protektionismus aufgetreten (Rocker II, S. 53), doch Chomsky hat auch gegenüber der Freihandelsdoktrin seine Vorbehalte. Er weist insbesondere darauf hin, dass die ursprünglichen Vertreter der Freihandelidee nur von einer Mobilität der Güter, nicht hingegen von einer Mobilität des Kapitals ausgegangen waren. Chomsky plädiert heute dafür, die sozialen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zu verteidigen, und er reiht sich damit unter die so genannten revisionistischen Anarchisten ein. (Chomsky 2004, S. 409)
Einen wertvollen Diskursbeitrag lieferte der Sozialökologe Murray Bookchin mit seiner Darlegung des Begriffs der ökonomischen Knappheit. (Bookchin II, S. 1ff) In den Wirtschaftswissenschaften wird Knappheit als ein relativer, nämlich auf des Menschen letzte Ziele bezogener Begriff verstanden, wobei diese Ziele in ihrer Vielfältigkeit einen Mittelaufwand erforderten, der weit über jeden erdenklichen Vorrat an Hilfsquellen hinausgehe. Daher das gebetsmühlenartig wiederholte Credo der Fachgelehrten: „Wir leben in einer Welt der knappen Güter.“ In diesem Punkt wählt Bookchin einen anderen Zugang. Mit Hilfe qualitativ neuer Technologien sei es inzwischen möglich geworden, mit vermindertem Arbeitsaufwand Subsistenzmittel und Luxusgüter in großer Zahl zu erzeugen, wobei sich gleichzeitig mit den freigewordenen Energien die gesellschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten im Hinblick auf eine erhöhte Lebensqualität vervielfacht hätten. Bookchin erkennt darin eine neue Art von Reichtum: „zum erstenmal in der Geschichte stehen wir an der Schwelle einer Nach-Mangelgesellschaft.“ (Bookchin I, S. 10) Die Kritik Bookchins am technokratischen Modernisierungskonsens relativiert seinen im Grunde technologiefreundlichen Standpunkt keineswegs. Er ist nur von den Vorteilen einer radikalen Dezentralisierung der gesellschaftlichen Strukturen überzeugt; es gehe darum, regionale Ressourcen wieder verstärkt zu nutzen und das lokale Wirtschaften im Interesse einer verringerten Umweltschädigung zu fördern. Auch bedeute eine am Motto „small and diversity are beautiful“ (Ebd., S. 69) ausgerichtete Produktion eine zukunftsfähigere Wirtschaft für die Dritte Welt. Bestätigt wird Bookchin neuerdings durch Frithjof Bergmann, der ebenfalls eine erhöhte Konvivialität in den neuen Technologien zu erblicken vermeint. (Bergmann 2004, S. 193ff) Bereits heute – erläutert Bergmann – werde der Computer immer mehr eingesetzt, einen eigenen und unabhängigen Lebensstil zu kreieren. Eine „zweite Ökonomie“ jenseits der industriellen Massenfertigung werde in Zukunft auf dem dezentral installierten „Personal Fabricator“ beruhen, einer kleinen Werkbank, die mit Laser und Wasserjet Materialien zu bearbeiten und in beliebige Formen zu bringen vermag. Solcherart würden auch überschaubare Gemeinschaften künftig in die Lage versetzt, mehr oder weniger komplizierte Güter in Eigenregie auf lokaler Ebene herstellen zu können. (Ebd., S. 317ff)
In enger Kooperation mit Murray Bookchin entwickelte Janet Biehl ihre Thesen zu einem neuen revolutionären Feminismus. (Biehl 1991, S. 46) Der radikale Feminismus steht, im Einklang mit der gesamten Frauenbewegung, für die Distanz gegenüber patriarchalen Werthaltungen und Rollenzuweisungen, die in der Sphäre der Ökonomie als geschlechtsspezifische Segregation zum Ausdruck kommen. Als typisch ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass keine der gängigen Arbeitsmarkttheorien die besonderen Problemlagen von Frauen – Aspekte der Berufswahl, Einkommensdiskriminierung, spezielle Krisenbetroffenheit – adäquat widerspiegelt. Vom bürgerlichen Flügel der Frauenbewegung unterscheidet sich der radikale Feminismus durch seine Nähe zum Anarchismus, von dem er nicht nur das Verständnis von sozialer Hierarchie und Autorität, sondern auch das revolutionäre Element übernimmt. (Lohschelder 2000, S. 158) Janet Biehl setzt ihre Hoffnungen auf ein Zukunftsmodell: Schaffung einer kommunalen Ökonomie, die eine den lokalen Bedürfnissen angepasste sinnvolle Arbeit ermöglicht; hier liege die Chance für eine gleichberechtigte und vollwertige Teilnahme von Frauen am wirtschaftlichen Leben. (Biehl 1991, S.26)
Hinzuweisen ist schließlich auf Kurt Zube, der den Anarchismus mit einer Reihe sozialliberaler Positionen (v. a. Theodor Hertzka, Franz Oppenheimer) verknüpft. In seinem 1977 veröffentlichten Manifest tritt er für die „gleiche Freiheit Aller“ (Zube 1977, S. 236) und somit für die Ausschaltung sämtlicher „staatlicher und privater Machtpositionen“ ein. (Ebd., S. 181) In ökonomischer Hinsicht thematisiert er vor allem den Produktionsfaktor Grund und Boden sowie das herrschende Geld- und Kreditsystem. Jedes Verfügungsrecht über den Boden, das über die persönlichen Nutzungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten hinausgehe, sei problematisch. Das Privateigentum an einem nicht beliebig erweiterbaren, aber von jedem Menschen benötigten Faktor trage nämlich grundsätzlich eine Sperr- und damit eine Monopolfunktion in sich. Der eingeschränkte Zugang zum Boden führe in der Konsequenz zu beträchtlichen sozialen Defekten, zur privaten Abschöpfung der Grundrenten und der Bodenwertsteigerungen sowie zu Spekulationsgewinnen auf Kosten der Gesamtheit. (Ebd., S. 243f) Von noch größerer Auswirkung sieht Zube das vom Staat an die Notenbanken übertragene Recht der Geldschöpfung. Die ausgegebenen Banknoten seien nämlich nicht nur mit einem Annahmezwang, sondern auch mit dem Privileg der Zinsforderung ausgestattet, sodass von einer „direkt vom Staat ausgehenden […] monopolistischen Ausbeutung durch Konkurrenzausschluß“ gesprochen werden könne. (Ebd., S. 249f) Zube plädiert für die Bildung „autonomer Rechts- und Sozialgemeinschaften“ (Ebd., S. 260), antimonopolistisch ausgerichtete „offene Betriebsassoziationen“ sollten „den freien Zugang zu den Produktionsmitteln“ sichern. (Ebd., S. 267ff) Die ungehinderte Geldschöpfung durch die Bürgerinnen und Bürger könnte – so Zube – zu einem Kreditsystem führen, in dem der Zins bzw. der Profit des Finanzkapitals gegen Null tendiert. (Ebd., S. 325) Viele der bekannten Phänomene der kapitalistischen Marktwirtschaft, von Arbeitslosigkeit bis zu den zahlreichen Mangelerscheinungen, wären mit solchen Maßnahmen zumindest zu mildern. (Ebd., S. 295)
6. Ausblick
Zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA am 1. Jänner 1994 begann der Aufstand der Neo-Zapatisten im mexikanischen Chiapas. Manche sehen darin die erste „postmoderne Revolte“ bzw. ein Aufbegehren, das mit den Ordnungsvorstellungen und Zielen der mit dem Industriesystem verbundenen Moderne nicht mehr übereinstimmt. (Bewernitz 2005, S. 132) Zu den Merkmalen postmodernen Denkens gehört, dass die Grundlagen der Erkenntnistheorie als unzuverlässig angesehen werden – „Fragend schreiten wir voran“, ist daher ein zentrales Motto des neo-zapatistischen Politikverständnisses (Ebd., S. 125) –, die Geschichte erscheint nicht mehr zielgerichtet, wodurch auch der Fortschrittsgedanke seine Bodenhaftung verliert. Die Neo-Zapatisten stehen in Opposition zu allen neokonservativ-wirtschaftsliberalen Politikvorstellungen, wobei sie für „Land, Freiheit und Gerechtigkeit“, für eine weitergehende Demokratisierung sowie für die Anerkennung der Rechte und der Kultur der Indígenas eintreten. (Huerta 2001, S. 76 ff, S. 84) Das beachtliche Echo, das die Neo-Zapatisten ausgelöst haben, ist nur ein Hinweis auf einen länderübergreifenden Perspektivenwechsel, der ökologischen Fragen und neuen sozialen Bewegungen einen höheren Stellenwert zuordnet.
Jenseits eines Verständnisses von Freiheit, das nur eine warenförmige Individualität kennt, haben sich mittlerweile zahlreiche Projekte herausgebildet, die auf nicht-hierarchische, zwangsfreie und sozial gerechte Zusammenhänge in der Gesellschaft hinarbeiten:
- Komplementärwährungen: Förderung regionaler Entwicklungszusammenhänge. (Bartussek 2007, S. 191ff)
- Tauschkreise: Erweiterung des Angebots sozial orientierter Leistungen. (Schridde 1999, 101ff)
- Genossenschaftliche Selbsthilfe: Ausbau wirtschaftlicher Nischenbereiche. (Sywottek 2003, S. 8)
- Solidarische Ökonomie: Vorzeigebeispiele sind hier die Kost-Nix-Läden. (Uhl 2007, S. 10f)
Klar ist, dass keinem der angeführten Projekte die System überwindende Kraft innewohnt. Aber die Gesellschaft lernt durch Experimente, und so besteht die berechtigte Hoffnung auf eine Ökonomie, die sich nicht mehr verhält wie eine Armee im Feindesland. Eine solche Ökonomie ist angewiesen auf eine erneuerte Wirtschaftstheorie, die bereits in der Wortwahl achtsam verfährt. Manche Ausdrücke vermitteln sehr viel, etwa wenn Märkte erobert, feindliche Betriebsübernahmen abgewehrt oder neue Währungssysteme im Gleichschritt eingeführt werden. Neue analytische Zugänge könnten auch helfen, zu einem fundierten Begriff von sozialer Gerechtigkeit zu gelangen, der sowohl Reziprozitätsmechanismen als auch dem Solidaritätsprinzip entsprechenden Raum gibt. (Bewernitz 2005, S. 128f) Die beste Voraussetzung für eine gelingende Praxis ist, so wissen wir, eine gute Theorie.
Bibliographie:
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- Bartussek, Ruth: „Die Alchemie des Geldes.“ Ein Ausflug in die Welt der Komplementärwährungen, in: Senft, Gerhard (Hg.): Zwischen Zeiten & Unzeiten, Gedenkschrift für Ludwig Stadelmann, Leipzig 2007
- Bergmann, Frithjof: Neue Arbeit, Neue Kultur, Freiamt im Schwarzwald 2004
- Bewernitz, Torsten: Karl Marx und andere Gespenster oder: Eine neue Internationale der Hoffnung. Dekonstruktivismus als die dem Zapatismus angemessene Theorie, in: Mümken, Jürgen (Hg.): Anarchismus in der Postmoderne. Beiträge zur anarchistischen Theorie und Praxis, Frankfurt/M 2005
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- Bischoff, Klaus: Chistiania. Der Kampf um eine alternative Gesellschaft, Berlin 1995
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Dieser Text erschien zuerst in: Degen, Hans Jürgen / Knoblauch, Jochen (Hg.) - Anarchismus 2.0. Bestandsaufnahmen. Perspektiven. 1. Auflage 2009, Stuttgart, Schmetterling Verlag, Seite 72-90.
Originaltext: http://www.systempunkte.org/article/wirtschaft-gestalten-am-rande-und-mittendrin