Horst Stowasser - Diagnose: „Kapitalismus“

Vom Krankheitsbild eines absurden Wirtschaftssystems und der Aktualität einer anarchistischen Alternative

Krise? Was für ‘ne Krise, bitteschön? „Entscheidungssituation, Wende-, Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung“ bietet der Duden als erste Definition dieses Wortes an. Von alldem sehe ich weit und breit nichts. Leider. Hätten wir doch eine Entscheidungssituation! Aber wirklich entschieden wird nichts, alles geht im Grunde weiter wie gehabt – business as usual. Und Wendepunkt gar? Pustekuchen! Wohin denn auch? Hat irgendjemand eine wirklich andere Richtung, zu der sich alles wenden könnte? Zum Besseren – zum Guten gar?

Ratlosigkeit laboriert

Die desavouierten Wirtschaftsliberalen hocken rechthaberisch schmollend im Trotzwinkel, Banken und Unternehmer halten ungeniert die Hand auf, die Staatsführungen füllen diese generös mit Billionen, die etablierte Politik zieht ein klein wenig die Staatszügel an – und ansonsten wird laboriert. Kurzatmig, ja geradezu in asthmatischer Panik, auf den Moment bedacht: alles schön zudecken, nur nichts aufdecken, es war doch nur ein kleiner Ausrutscher, s’wird halt schon weitergehen wie bisher. Heile, heile Segen...

Und die Linke? Die frohlockt schonmal vorschnell, der Kapitalismus sei am Ende. Von wegen. In Wirklichkeit auch hier null Neues. Woher denn auch! Wollen doch die meisten verbliebenen Linken im Grunde nichts anderes, als die Positionen besetzen, auf denen früher einmal die Sozialdemokratie hockte. Und so rattert die rhetorische Gebetsmühle und sondert altbekannte Statements ab: Der Kapitalismus funktioniert nicht so recht – wir können es besser! Bonzen und Manager sind schamlos reich – her mit ihrem Geld für die Hartz-Vier-Empfänger! Die profitgeile Wirtschaft vernichtet Arbeitsplätze – wir fordern Arbeit für alle! Restriktive Steuerpolitik begünstigt bloß die Reichen – linke Konsumpolitik wird endlich wieder Wachstum bringen! Besser machen – umverteilen – Vollbeschäftigung – Wachstum... Ist da irgendwo irgendetwas Neues in Sicht? Ein Umdenken, ein Paradigmenwechsel, Visionen gar? I wo. Besser machen! Umverteilen! Vollbeschäftigung! Wachstum!

Wenn einen da nicht der Brechreiz übermannt. Oder die Verzweiflung. Weil doch recht eigentlich folgendes klar ist: Dass die menschenverachtende kapitalistische Weltunordnung nicht verbessert gehört, sondern durch etwas Besseres ersetzt. Dass asoziales Eigentum eine Obszönität ist, die nicht umverteilt werden, sondern einem System des sozialen Besitzes weichen sollte. Dass nicht volle Lohnarbeit eine dem Menschen angemessene Daseinsform ist, sondern gar keine. Dass die Chance des Überlebens auf diesem Planeten nicht auf mehr Wachstum gründet, sondern auf weniger.

Aber wer redet in einer Gesellschaft, deren Fortschrittsreligion seit Generationen „Wachstum!“ heißt, schon gerne vom Schrumpfen... Und vor allem: wer hätte dazu die passenden Modelle? Nur ganz wenige. Dabei sind soziale Modelle des wirtschaftlichen Schrumpfens heute wichtiger denn je – ihr Fehlen wird in den kommenden Jahrzehnten zu dramatischen Problemketten führen, die niemand mehr mit Reformen, Umverteilen, Arbeitspolitik und Wachstum in den Griff bekommen wird.

Also noch mal: Wo ist die Krise? Und was soll das überhaupt sein? Das Wort ergibt doch nur als Ausnahmeerscheinung einen Sinn und zwar insofern, als es vor und nach der Krise eine krisenfreie Normalität gäbe. Hier greift die Duden-Definition Nummer zwei: »gefährliche Situation«. Okay, die haben wir zweifellos. Aber worin besteht sie? Darin, dass irgendwelche irrationalen Spekulationsblasen platzen oder darin, dass wir ein hochgradig irrationales Wirtschaftssystem haben? Darin, dass sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt oder darin, dass dieses Wachstum Schritt für Schritt die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten zerstört? Darin, dass die Wirtschaft nicht für jeden Menschen einen Arbeitsplatz hat oder darin, dass die kapitalistische Lohnarbeit an sich ein brutaler Anachronismus ist, der angesichts der Entwicklung von Ressourcen und Produktivkräften zunehmend sinnlos wird?

Das System ist die Krise

Krise als »gefährliche Situation« – wenn wir diese Definition akzeptieren wollen, dann kommen wir zwangsläufig zu einer trivialen Feststellung: Die „gefährliche Situation“ besteht nicht in einer sogenannten »Währungskrise«, nicht in periodischen De- und Inflationen, nicht in Absatzkrisen von Automobilen oder steigenden Ölpreisen, sondern im System an sich: In seiner unersättlichen und inhaltsleeren Gier nach Profitmaximierung. In seiner verschwenderischen Vergeudung von Menschen, Umwelt und Ressourcen. In seiner geistlosen Unterwerfung alles Humanen, Schöpferischen und Lebenswerten unter das tumbe Diktat des Geldes.

Das heißt: Die »gefährliche Situation« besteht ständig, oder, anders ausgedrückt: Das System ist die Krise und diese Krise ist ein permanenter Zustand. Wir sprächen demnach nicht – hoppla! – von einem Ausrutscher, sondern von einer chronischen und lebensbedrohenden Krankheit. Wenn dies aber so ist – was wäre dann das, worüber sich die Welt in den letzten Monaten so furchtbar aufgeregt hat? Börsenkrach, Währungskrise, Rezession – sind das Ursachen für negative Auswirkungen, um die sich die Politik kümmern muss oder Auswirkungen deren Ursachen die Menschheit ein für alle Mal beseitigen sollte?

Hier hilft der Duden schlussendlich mit seiner dritten Definition von „Krise“, und die ist pikanterweise eine medizinische: „Schneller Fieberanfall als Wendepunkt einer Infektionskrankheit“. Ich finde, das passt. Unser gesamtes wirtschaftliches System ist die lückenlose Kette einer einzigen Krankengeschichte und das, was wir als „Krise“ bezeichnen, nichts weiter, als ein neuerlicher Fieberschub. Die Anamnese dieser Krankheit heißt Herrschaft, die Diagnose Kapitalismus und die Prognose Wendepunkt oder Tod.

Krankheit ohne Therapie

Und wie sieht es mit der Therapie aus? Es gibt keine. Zumindest nicht dort, wo heutzutage Meinungen produziert und Entscheidungen gefällt werden, in den Zentren der Macht. Was dort ausgebrütet wird, ist Hektik, Kosmetik, Hilflosigkeit und kurzsichtiger Aktionismus. Etwa so, wie wenn man eine grassierende Gürtelrose mit Nivea-Creme oder eine Amöbenruhr mit Aspirin therapieren wollte.

Da wird zum Beispiel versucht, die todgeweihte Automobilindustrie zu retten, indem man den Absatz von Automobilen kurzfristig ankurbelt – mit Bürgschaften, Steuergeschenken und Lockerung von Umweltstandards. Das ist etwa so originell, wie wenn Kaiser Wilhelm im Jahre 1910 versucht hätte, das Kutschenbaugewerbe mit Geld aus seiner Privatschatulle vor dem Niedergang zu bewahren. Auch das Auto, wie wir es kennen, ist ein Auslaufmodell, das es in dreißig Jahren nicht mehr geben wird, und das Verbrennen fossiler Energien zum Zwecke der Fortbewegung eine völlig obsolete Steinzeittechnologie. Ob wir uns anders fortbewegen, ob wir den Transport von Gütern reduzieren und vernünftiger organisieren könnten, all das ist im politischen Mainstream kein Thema.

Da werden mittels geostrategischer Kriegsszenarien und immer sophistischerer Prospektionstechniken alle Anstrengungen unternommen, sich den Zugriff auf die allerletzten Öl- und Gasvorkommen zu sichern. Dabei ist klar, dass im gegenwärtigen Wirtschaftssystem die Menschheit nicht eher ruhen wird, als bis auch das letzte Quentchen fossilier Energie verbrannt sein wird. Ob dies noch 50 Jahre dauern wird oder, wenn wir ganz, ganz tüchtig Energie „einsparen“ 100 oder 150 Jahre, ist für die Natur völlig unerheblich und spielt bei den Auswirkungen aus das Weltklima nicht die geringste Rolle. Denn hier rechnen wir in Jahrtausenden und was zählt, ist einzig die absolute Menge, egal, wie lange sie „gestreckt“ wird. Über die Absurdität unseres Energieverbrauchs an sich, über unsere Lebens-, Produktions- und Distributionsweisen jedoch macht sich in den Zentren der Macht niemand ernsthaft Gedanken.

Da wird mit allen möglichen Stimulanzen, Subventionen und Drohszenarien die Schaffung von Arbeitsplätzen angeregt und die Illusion am Leben erhalten, der Normalzustand einer Volkswirtschaft sei die Vollbeschäftigung und alles andere eine bedauerliche Ausnahme. Dabei ist es völlig offensichtlich, dass angesichts der weltweiten demografischen Entwicklung und des heutigen Produktivpotenzials ein „Arbeitsplatz an sich“ längst zu einem inhaltsleeren Unsinn geworden ist. Die merkwürdige Idee, das Recht auf eine menschenwürdige Existenz heute noch an die Ausübung von produktiver Arbeit zu koppeln, entspricht einem Weltbild, das irgendwo zwischen alttestamentarischem Dräuen und calvinistischem Puritanismus stehengeblieben ist. Die Alternativen zu diesem Anachronismus liegen auf der Hand und könnten der Menschheit ohne Weiteres eine Wirtschaftsordnung ermöglichen, in der man nur noch drei, vier Stunden am Tag arbeiten müsste, und in der Kreativität, Muße und humane Werte wieder einen dem Menschen angemessenen Stellenwert einnähmen. Aber hierüber auch nur nachzudenken ist in der Welt unserer Eliten und Entscheidungsträger als „utopisch“ verpönt.

Da wird mit Sparmaßnahmen, Haushaltsplänen und Finanzspritzen in Billiardenhöhe versucht, den Irrsinn exponentieller Wachstumsmodelle in den Griff zu kriegen, wie sie etwa für unsere Zinswirtschaft charakteristisch sind oder für die Generierung von spekulativen Luftwerten im globalen Stock-Exchange-Business. Wo doch längst evident ist, dass die in atemberaubend schnellem Tempo sich drehende Schuldenspirale von Zins und Zinseszins von niemandem jemals mehr zurückgezahlt werden kann, und es an den Börsen schon seit langem kaum noch um einen „Stock Exchange“ mit realen Waren und Dienstleistungen geht, sondern um ein schnödes Hasardspiel mit sogenannten „Werten“, hinter denen keinerlei reale Dinglichkeiten mehr stehen. Was übrigens keine Metapher ist – der Handel mit Swaps, Derivaten und Optionen war in Deutschland noch vor wenigen Jahren – mit Recht – als illegales Glücksspiel verboten. Ob und wie man solcherlei Monstruositäten abschaffen könnte, ist dort, wo die Mächtigen agieren, nirgends ein Thema – stattdessen wird „Zinspolitik mit Augenmaß“ propagiert und über „effektive Kontrollmechanismen“ des Börsengeschehens nachgedacht.

Exponentieller Nonsense

Das, was in den letzten Monaten in den Medien recht gedankenlos als „Krise“ bezeichnet wurde, ist also im Grunde nichts weiter, als das Aufplatzen der einen oder anderen Blase am Körper eines kranken Wirtschaftssystems, das statt einem Pflästerchen einer radikalen Therapie bedürfte, weil sich nämlich unter jeder Blase ein ausgewachsenes Geschwür verbirgt.

Jedes Mal, wenn eine solche Blase platzt, ist das Gejammer groß, weil es manch einen juckt und vielen anderen auch richtig wehtut. Denen nämlich, die darauf spekuliert haben, ein arbeitsloses Einkommen zu erzielen und daran geglaubt haben, ihr Geld würde sich auf wundersame Weise vervielfältigen. Die alberne Idee, Geld könne „arbeiten“ und sich von selbst „vermehren“, wurde natürlich von jenen cleveren Akteuren lanciert, die das Spiel vollständig durchschauen – jenen Profi-Zockern, die am Ende immer absahnen. Millionen einfacher Menschen haben dieses Märchen nur allzu gerne glauben wollen und dabei das Naheliegende ausgeblendet: dass für jeden Euro ihres Spekulationsgewinns am Ende irgendjemand irgendwo auf dieser Welt wird bezahlen müssen – mit Arbeit, mit Schweiß oder auch mit Blut. Kein Wunder, dass diejenigen Spekulationsdilettanten, die ihr Kleingeld beim Börsengang der Telekom oder mit Lehman-Brothers-Zertifikaten verbrannt haben, jedesmal von einer „Krise“ reden, wenn wieder mal eine jener Blasen platzt. Und dass sie tüchtig heulen, wenn sie, statt von der Ausbeutung anderer zu profitieren, selbst die Zeche bezahlen müssen.

Dabei ist es gar nicht so schwer zu verstehen, warum weder Zinseszinsen noch galoppierende Renditeperformances auf Dauer jemals werden funktionieren können. Man braucht dazu nur ein bißchen common sense – gesunden Menschenverstand. Denn beide beruhen auf der törichten Fiktion, ein exponentielles Wachstum sei möglich und normal. Dies geht, wie die berühmte Geschichte mit den jeweils zu verdoppelnden Weizenkörnern auf dem Schachbrett zeigt, weder in der Wirtschaft, noch geht es in der Natur. Unsere Umwelt lehrt uns, dass Wachstum stets in wechselwirkenden Prozessen stattfindet, die sich gegenseitig begrenzen. In der Tat kennt die Natur nur einen Fall von ungebremstem exponentiellen Wachstum: den Krebs. Der führt in der Regel zum Tod und gilt mit Recht als Krankheit. Womit wir wieder im Bilde wären – und bei jener Definition von Krise, die sich selbst als eine pathologische Situation beschreibt.

Utopisch, frech und naiv

Es kann also nicht um Wachstum gehen, sondern um Schrumpfen. Modelle sind gefragt, die weniger brauchen und mehr bieten: Weniger Verschwendung, Arbeit, Energie, Schmerz und Unterdrückung. Mehr Effektivität, Muße, Ökologie, Lebensfreude und Freiheit.

Ich sagte eingangs, dass nur ganz wenige hierzu passende Modelle anzubieten hätten. Das liegt einfach daran, dass sich nur ganz wenige mit diesen Themen beschäftigen und diese wenigen weder zu den Mächtigen zählen noch zum Mainstream. Im Gegenteil: sie gelten als Spinner und Utopisten, bestenfalls als naiv. Was ich – etwa aus dem Munde eines studierten Ökonomen – ganz entschieden als eine große Auszeichnung verbuchen würde. Denn was stünde dem Anfang einer „radikalen“ – also durchgreifenden – Therapie besser zu Gesicht, als eine gute Portion jener erfrischenden, unvoreingenommenen und respektlos-direkten Form von Naivität: geradeaus denken, respektlos hinterfragen und das Naheliegende erwägen – wie ein Kind. Wenn ich meiner elfjährigen Tochter die Ökonomie dieser Welt erkläre, erfasst sie sofort das Wesentliche: „Was für ein Schwachsinn!“ Spinner, Utopisten und Naive standen stets am Beginn großer Ideen und nachhaltiger Umwälzungen; man denke nur an die Demokraten, die vor zwei Jahrhunderten die naive Idee diskutierten, ob der Mensch nicht vielleicht auch ohne einen gottgewollten Souverän würde existieren können – vielleicht sogar besser...?

Wenn ich hier ganz dezidiert eine Lanze für den naiv-direkten Denkansatz breche, so heißt das keinesfalls, dass die wirtschaftlichen Ideen, die hierauf aufbauen, naiv im landläufigen Sinne wären. Ganz im Gegenteil: sie sind strategisch fundiert, in sich schlüssig und auch im Detail wohl begründet. Zu den wenigen, die über echte Alternativen nachgedacht haben und auch heute noch nachdenken, gehören seit jeher die Anarchisten. Sie haben dabei nicht nur ganz erstaunliche Modelle entwickelt, sondern der staunenden Welt auch praktisch bewiesen, dass ihre Vorstellungen in modernen industriellen Massengesellschaften tatsächlich funktionieren und eine leistungsfähige, humane Alternative zum gemeinen Vulgär- und Raubkapitalismus darstellen.

Allerdings sind hier drei Einschränkungen angebracht: Erstens die Tragik, dass ihr Experiment vom Faschismus militärisch niedergeschlagen wurde. Zweitens die Tatsache, dass all dies über siebzig Jahre zurückliegt.* Und drittens die Crux, dass „der Anarchismus“ heute eine vergleichsweise schwache Bewegung ist, die eher ein Schattendasein führt und sich schwer tut, wieder die Rolle eines Impulsgebers zu spielen, die sie einst partiell erfüllte.

Worin aber besteht das anarchistische Modell, was ist das Originelle an ihm?*

Die anarchistische Vision

Anarchistische Wirtschaft beruht auf einer „dezentralen Bedürfnisproduktion“. Was heißt das? Zunächst mal, dass Produzenten und Konsumenten selbst bestimmen, was sie produzieren, wie sie produzieren und wie sie die Produkte verteilen. In staatlich-kapitalistischen Strukturen wäre das kaum durchführbar – in dezentral-anarchischen Strukturen* hingegen bietet es sich geradezu an. Dort wäre ja die Gesellschaft ohnehin dezentral und selbstverwaltet organisiert, dort wären Produzenten und Konsumenten größtenteils identisch und dort bestünden günstige Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen, Arbeitsprozessen und der Auswahl dessen, was wirklich gebraucht wird. Da in einer anarchischen Gesellschaft die Arbeiter gleichzeitig auch Besitzer ihrer Produktionsmittel wären, könnte zum Beispiel die Belegschaft eines Konzerns entscheiden, ihren Giganten zurückzubauen und „umzupolen“. Der einzelne Arbeiter baut heutzutage Autos oder Kampfjets ja nicht unbedingt aus innerer Überzeugung, sondern weil er einen Arbeitsplatz braucht, um Geld zu verdienen. In einer Gesellschaft, die in allen Bereichen auf freier, bewusster Entscheidung aufbaut, dürften nach Meinung der Anarchisten gute Chancen bestehen, dass auch im wirtschaftlichen Bereich die Produzenten andere Entscheidungen träfen als heute die Konzerne. Das gleiche gälte natürlich für Landwirtschaft, Konsumgüter und Dienstleistungen.

Genau betrachtet wäre erst in dieser Bedürfnisproduktion das verwirklicht, was der Liberalismus fälschlich für sich in Anspruch nimmt – dass sich nämlich „der Markt“ frei entfaltet und gemäß den tatsächlichen Bedürfnissen der Verbraucher produziert.

Durch die dezentrale Vernetzung einer solchen Gesellschaft würden viele Waren, Produkte und Lebensmittel in der näheren Umgebung erzeugt und verbraucht. Das könnte ganz beträchtliche Transport-, Lager- und Logistikkosten einsparen. Es reduzierte den ökologischen Wahnsinn, dass viele Produkte aus reinen Gründen eines Handelsgewinns um die ganze Erde hin- und hertransportiert werden. Gleiches ließe sich für die Weiterverarbeitung von Rohstoffen erreichen, die sich heute – ebenfalls aus Gründen des Profits – überwiegend die reichen Industrieländer gesichert haben. Import und Export wären dann nur noch für Produkte nötig, die etwa nur in bestimmten Klimazonen gedeihen oder an bestimmten Plätzen hergestellt werden können. Daher dezentrale Bedürfnisproduktion.

Anarchistische Wirtschaftstheoretiker gehen davon aus, dass in einer solchen Ökonomie am Ende nur noch das hergestellt würde, was alle Menschen der Erde zum Leben, zum Vergnügen und zur Bequemlichkeit brauchen. Nicht mehr und nicht weniger. Einigen mag das jetzt bedenklich nach ›DDR-Wirtschaft‹ klingen: grau, phantasielos, einheitlich und immer knapp. In den Augen der Libertären ist das allerdings barer Unsinn: Gerade in einer anarchischen Gesellschaft werde es viel Raum für Individualität, Vielfalt und Phantasie geben, und auch ›Luxus‹ sei kein Tabu – sofern es sich dabei nicht um Protzerei auf Kosten anderer handelt, sondern um Freude am Schönen und am Genuss. In den verschiedenartigsten autonomen Mikro-Gesellschaften, aus denen die anarchische Gesellschaft besteht, könnten sich verschiedene Menschengruppen auch nach verschiedenen Konsumbedürfnissen und Lebensgewohnheiten zusammenschließen: von bedürfnislos-grau bis genussvoll-schrill. Wer mehr konsumieren wolle, habe durchaus das Recht, sich diesen Mehrkonsum zu erarbeiten. Was jedoch nach anarchistischer Meinung verschwinden soll, ist die Ausbeutung anderer Menschen, denn libertäre Wirtschaft müsse eine Solidarwirtschaft sein, die nicht auf parasitärer Lebensweise aufbauen dürfe.

Eine Ökonomie des Verzichts?

Das bedeutet aber auch, dass wir nicht nur an „uns“ denken können, sondern auch an den „Rest der Menschheit“. Eine solche Solidarwirtschaft müsste weltweit wirken, oder sie hätte ethisch versagt. Heute lebt der kleinste Teil der Menschen im Überfluss, während der größte Teil nicht einmal genug zu essen hat.

Heißt das, dass wir Verzicht üben müssen und verdammt wären, zu verarmen? Ja und nein. Verzicht üben müssen wir ganz sicherlich, aber nicht etwa deshalb, weil es nicht möglich wäre, allen Menschen ein lebenswertes Leben zu bieten, und wir darum „unseren“ Reichtum zu verschenken hätten. Wir werden so oder so gezwungen sein, den manischen Konsumgalopp zu bremsen, wie wir ihn in den westlichen Industrienationen pflegen, weil uns nämlich die Verschwendungsorgie, in der wir leben, geradewegs in katastrophale Sackgassen führt. Das hat wirtschaftliche, ökologische und demografische Gründe, und mit Anarchie überhaupt nichts zu tun. Wenn man bedenkt, dass es allein in Nordrhein-Westfalen mehr Kraftfahrzeuge gibt als auf dem ganzen afrikanischen Kontinent, wird klar, dass es nicht um moralische Fragen geht, sondern um Tatsachen: um den Irrsin unserer verschwenderischen Lebensweise, die unmöglich ein Modell für die Menschheit sein kann. In all den genannten Fällen konsumieren wir nämlich mit ungedecktem Kredit – sowohl dem Geld gegenüber als auch der Natur.

Auf den hemmungslosen Verbrauch von Energien und Ressourcen, auf Prestige-Luxus und Konsumrausch als Ersatzbefriedigung für wirkliches Leben wird die Menschheit also auf jeden Fall verzichten müssen, weil nämlich viele Reserven, aus denen wir uns bedienen, schon bald erschöpft sein werden. Ob das aber eine Verarmung bedeutet, ist zu bezweifeln. Man könnte auch das Gegenteil vermuten. Die Überwindung der Sinnleere des Alltags, des Trends zu Vereinzelung, Entfremdung und Vermassung, der immer mehr Menschen in eine Art Ersatzbefriedigung treibt.

Die Frage, vor der wir heute stehen, ist also nicht, ob wir so weiterleben können wie bisher, denn das können wir ganz eindeutig nicht. Die Alternative lautet, ob wir mit unserer Luxusyacht stilvoll in den Fluten eines bescheuerten Systems untergehen, oder ob wir unser Schiff umtakeln und einen neuen Kurs einschlagen. Dieser neue Kurs bedeutet zwar einen Verzicht auf einige Dinge und Gewohnheiten – und zwar in allererster Linie auf Verschwendung –, aber nicht eine Verarmung unseres Lebens. Wir könnten stattdessen eine völlig neue Lebensqualität gewinnen, die man nirgends für Geldkaufen kann, und vermutlich wären bei entsprechender Organisation nicht einmal Abstriche beim Lebensstandard hinzunehmen. Wie das? Durch Einsparung und Umverteilung.

Eine Ökonomie der Vernunft

Folgen wir der anarchistischen Wirtschaftsvision, so dürfen wir annehmen, dass in einer Gesellschaft der konsequenten Bedürfnisproduktion die Menschen solche Dinge herstellen werden, die sie tatsächlich brauchen und haben wollen. Diese Gesellschaft bräuchte keine Rüstung mehr, keine Raumfahrttechnologie, keine Werbung, keine künstlichen Modetrends, keine gewollt konstruierten Verschleißprodukte, keine Prestigeausgaben, keine Kriege, keinen Superluxus für die Superreichen, keinen unnützen Transport, keine Spekulationsgeschäfte, keine staatliche Repräsentation, keine reichen Sozialparasiten, die auf Kosten anderer ein arbeitsloses Einkommen genießen und so weiter... Ebenso käme sie ohne Bürokratenheere aus, weil sie sich selbst verwalten könnte, ohne Sozialhilfe und Arbeitslosengelder, weil sie ein Solidarsystem kleiner Gruppen wäre, und vermutlich auch ohne den eminent teuren Repressionsapparat von Justiz, Polizei, Strafvollzug. Auch im aufgeblähten Medien- und Kommunikationsbereich würden die Menschen vermutlich gerne auf einiges verzichten wollen.

All das aber bindet heute unglaubliche Mengen an Arbeitskraft, Kreativität, Ideen, Ressourcen, Werten und Geld. Für die Herstellung und Verteilung von Waren, Lebensmitteln und Dienstleistungen wird schon heute der geringere Teil menschlicher Arbeit aufgewendet – der größere Teil wird verschwendet und verpufft in „Leistungen“, die entweder niemand wirklich braucht, oder die auf andere Weise besser organisiert werden könnten.

Alle Jahre wieder kursieren Studien amerikanischer und europäischer Universitäten, die ausrechnen, wieviel Arbeitsstunden der Mensch bei einer konsequenten Bedürfnisproduktion noch leisten müsste, um den Bedarf aller Menschen der Erde zu befriedigen. Wohlgemerkt: aller Menschen. Und wir sprechen hier nicht nur von der bloßen Ernährung, sondern von einem anständigen Konsum- und Lebensstandard! Zur Zeit liegen diese Zahlen zwischen drei und fünf Stunden täglich, manche Anarchisten kommen mit ihren Rechenkunststücken sogar auf die phantastische Vision einer Fünf-Stunden-Woche – und nicht mal die ist bei genauerem Hinsehen von der Hand zu weisen...

Wie dem auch sei, die Welternährungsexperten der Vereinten Nationen sind sich darin einig, dass allein der weltweite Wegfall der Rüstung genügend Kräfte und Mittel freisetzen würde, um mit dem Hunger in der Welt sofort Schluss zu machen. „Warum aber tut man es dann nicht?“, fragt meine naive Tochter. Die Antwort ist ebenso einfach wie absurd: Wegen der inneren Logik unseres Wirtschaftssystems. Im Kapitalismus zahlt es sich nicht aus, den Hunger zu besiegen, und ist deshalb ökonomisch unvernünftig. Denn hungernde Menschen stellen keinen „Markt“ dar: sie sind zu arm, um zu bezahlen. Rüstung hingegen ist ein vernünftiges Geschäft, und der Supercoup, von dem jeder Rüstungsmanager träumt, ist der Krieg, weil sich dabei nämlich die teuren Waffensysteme selbst vernichten, so dass sie anschließend wieder neu gekauft werden müssen.

Angesichts dieses Irrsinnssystems zum Schluss noch einmal die Frage: Was ist eigentlich „die Krise“, von der zur Zeit so unendlich viel schwadroniert wird? Irgendwelche Zahlen auf den elektronischen Anzeigetafeln in der Wall-Street oder die ganz banale Tatsache, dass solche Zahlen überhaupt existieren und ihre kryptische „Logik“ letztendlich über unser aller Wohl und Wehe bestimmt?

Zugegeben, diese Frage ist eine rhetorische. Es ist an der Zeit, dass aus ihrer Beantwortung eine neue Realität erwächst.


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Horst Stowasser, Jahrgang 1951 (inzwischen verstorben), lebt und arbeitet in einem libertären Großprojekt in Südwest-deutschland. 1971 gründete er das anarchistische Dokumentationszentrum „Das AnArchiv“. Sein Standardwerk Anarchie! stand drei Monate nach Erscheinen auf Platz 1 der deutschen Sachbuchbestenliste. (Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven Hamburg 2007, Edition Nautilus)

* Aus nachvollziehbaren Gründen kann ich an dieser Stelle weder eine wirtschaftliche Analyse der Spanischen Revolution von 1936 leisten noch einen Abriss anarchistischer Wirtschaftstheorien oder anarchischer Gesellschaftsstrukturen liefern. Alles drei versuche ich ausführlich, auf leicht verständliche Art und mit zahlreichen Quellenangaben in: Horst Stowasser, Anarchie! Hamburg 2007, S. 397 – 410, 86 – 115 und 68 – 78.

Aus: HINTERGRUND – Das Nachrichtenmagazin, Dez. 2008

Originaltext: http://www.anarchismus.de/personen/stowasser2009.pdf


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