Erich Mühsam - Der fünfte Stand (1910)
Ich habe seinerzeit in diesen Blättern auseinandergesetzt, wie die Sozialdemokratie in ihrem Ehrgeiz, im Gegenwartsstaat mitzutun, als Rad in der Maschine anerkannt zu werden und den Interessen der Arbeiter zu nützen, indem sie sie aus Proletariern zu Kleinkapitalisten zu machen sucht, wie sie in diesem Bestreben den „vierten Stand" nach unten hin begrenzt hat, und wie sie diejenigen Elemente der Gesellschaft, deren Wesensart sich in das Gefüge des Staatsbetriebes nicht einordnen läßt, verächtlich als "Lumpenproletariat" erledigt. Ich habe auf die Möglichkeiten hingewiesen, diese Elemente aus ihrer menschlichen Verlassenheit aufzuwecken und ihrer traurigen Leere durch die Bezeigung menschlicher Achtung und durch die Zuführung freiheitlicher Ideen Inhalt zu geben. Ich habe dargetan, wie gerade der Sozialistische Bund diese Menschen, die keine kapitalistische Arbeit aufzugeben haben, um Kulturarbeit leisten zu können, brauchen könnte, wenn sie die neuen Gedanken erst in sich aufgenommen hätten, und ich habe erzählt, wie ich begann, das Wort der unerzwungenen freudigen Arbeit, der gegenseitigen Hilfe, der Gemeinsamkeit und des Sozialismus in ihre Herzen zu führen.
Daß der Gedanke, von dem ich mich leiten ließ, richtig war, davon bin ich heute noch so fest überzeugt wie am Anfang. Ich glaube heute noch so fest wie ehedem, daß in vielen dieser "Lumpen" Fähigkeit und Bereitschaft genug ist, Ideale aufzunehmen und ihnen zu dienen. Wenn der Erfolg meines Wirkens jetzt einem Fiasko gleicht, beweist das nichts gegen die Richtigkeit der Überlegung, daß die Menschen des fünften Standes auch Menschen sind, deren menschliche Kräfte, geeignet verwertet, Nützliches und Gutes wirken können. Das Fiasko verurteilt nur meine Taktik. So, wie ich heute das Ergebnis meiner Vagabunden-Agitation übersehe, glaube ich, daß mein größter Fehler in dem Mangel an Unterscheidung zwischen dem Charakter, dem Alter, der Erfahrung und der Intelligenz meiner Zuhörer bestand.
Ich hatte von Anfang an keinen Zweifel, daß sich zu meinen Vorträgen auch Leute einfinden würden, die ohne Gewissen und Bedenken ihren persönlichen Augenblicksvorteil verfolgten. Ich war darauf gefaßt, vor unverhältnismäßig vielen Spitzeln zu sprechen und wußte, daß vielleicht die Mehrzahl unsrer Gäste gegen ein kleines Trinkgeld zum Judas an uns allen zu werden bereit sei. Ich hätte mich auch keinen Moment gewundert, wenn einmal einem der Anwesenden die Uhr oder das Portemonnaie aus der Tasche gezogen worden wäre, und ich habe manchmal im Stillen gelacht, wenn ich merkte, daß dieser oder jener nur zu uns kam, weil er meinte, er werde wohl ein Abendbrot oder einen Schoppen Bier geliefert bekommen.
Diese Bedenken — und noch viel schlimmere — erwiesen sich als sehr begründet. Trotzdem erkläre ich noch jetzt und mit allem Nachdruck, daß auch Männer darunter waren, die mit offnen Augen und Ohren dasaßen, die durch das Neue, was sie erfuhren, bereichert wurden, deren Sehnsucht Nahrung erhielt, und die freudig und mutig in unsre Bahnen einbogen. Hätte der liebe Gott die Welt so eingerichtet, daß die Erfahrungen vor den Aktionen da wären, so hätte ich nach den ersten zwei Zusammenkünften drei oder vier der Leute ausgewählt und hätte sie in besonderen Vorträgen in die Absichten des Sozialistischen Bundes näher eingeführt. Die übrigen hätte ich vielleicht zu verschiedenen Kursen in den Anfangsgründen des elementaren Wissens gesammelt, und diejenigen, die sich als geistig aufnahmsunfähig erwiesen, hätte ich ganz ferngehalten. Leider kam mir die Erfahrung, daß ich so hätte verfahren müssen, erst zu spät, erst als die Unterlassung zum Scheitern meines Vorhabens geführt hatte.
Ich gab mich dem Wahn hin, ich dürfe, unter Berücksichtigung ausschließlich des Fassungsvermögens der Reifsten unter den Leuten, von Woche zu Woche fortfahren, die Zwölf Artikel des S. B. zu kommentieren. Ein Mittel zu prüfen, wie weit das, was ich vortrug, verstanden wurde, wußte ich nicht. So kam es, daß ich von der Mehrzahl der Hörer in allen Punkten vollständig mißverstanden wurde.
Wenn ich ihnen sagte, daß ich ihre Existenz, so wie sie sei, als Produkt der bestehenden Wirtschaftsführung anerkenne, daß sie Opfer der Staatsordnung seien, und daß der Begriff "Verbrechen" ein schwererer Vorwurf gegen die Gesellschaft sei, die sie ermögliche, als gegen die Menschen, die zu ihrer Begehung gezwungen werden, so wurde das als eine Aufforderung möglichst viele Verbrechen zu begehen, aufgefaßt. Sprach ich davon, daß sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit schon in der Betätigung kleiner Gefälligkeiten, Abgeben von Brot und Geld an die Kameraden, gegenseitige Handreichungen bei irgend einer Beschäftigung und dergl. erweise, so hieß es später, ich habe geraten, keine Einzeldiebstähle, sondern Banden Einbrüche vorzunehmen.
Ermahnte ich, man solle die eigene Person nicht niedrig einschätzen, man solle Menschenbewußtsein haben und sich nicht in seiner äußerlichen Armseligkeit ducken und verächtlich vorkommen, so hatte ich nachher zum Morden, Brandstiften, Stehlen und Rauben "gutes Gewissen" gemacht. Dieses Falschverstehen, das durch die Unterhahltungen nach den Vorträgen von einem zum andern suggeriert worden zu sein scheint, beschränkte sich bezeichnender Weise auf die ganz jungen Leute, die kamen.
Ich kann jetzt — nach Kenntnis eines großen Teils der Aussagen, die die jungen Burschen vor dem Untersuchungsrichter abgaben — ganz typische Wiederholungen von Phantasie-Assoziationen feststellen. Da ich es für richtig hielt, den Menschen einen festen Begriff zu geben, mit dem sie sich in ihren neuen Bestrebungen bezeichnen könnten, nannte ich uns oft mit dem Namen "Anarchisten", wobei ich "Anarchie" in Übereinstimmung mit den Zwölf Artikeln als "Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit" definierte und das Wort oft und ausführlich ausdeutete. Das half garnichts: die Assoziation: Anarchisten-Bomben saß zu fest, und so wurde dem Richter erzählt, ich 'hätte von Dynamit und Attentaten, Höllenmaschinen und ähnlichen Dingen gefaselt. Alle diese Sachen sind, soweit ich mich erinnere, während aller Versammlungen überhaupt nicht gestreift worden.
Ferner fiel mir auf, daß diese jungen Leute offenbar darauf bedacht waren, mich vor dem Richter zu belasten. Es schien mir, als ob sie hofften, dadurch sich selbst beliebt zu machen, und besonders bemerkenswert kam mir vor, wieviel mehr die renommistischen Redensarten eines schwer psychopathischen Phantasten, der über mich, meine Freunde, die Vorträge und Zusammenkünfte das Blaue vom Himmel log, auf seine Altersgenossen wirkten als meine Darlegungen. Der junge Mann hatte offenbar nachher stets seine Freunde um sich gesammelt und ihnen meine Vorträge wiederholt, ausgeschmückt mit vielen abenteuerlichen Zutaten von der Natur, wie sie die Anklage meinen Absichten unterschob.
Aber seine Romantik blieb haften, meine Überzeugungsversuche nicht. Erschreckend groß scheint allgemein im fünften Stande der Prozentsatz der Geisteskranken, Phantasten, Hysteriker usw. zu sein. Es bleibt eine offene Frage, ob der Geisteszustand dieser Armen sie von der Beteiligung am allgemeinen Gesellschaftsleben ausschließt und dem Elend der Herbergen preisgibt, oder ob die Entsetzlichkeit des Lumpenlebens mit seinen Polizeiverfolgungen, Hungerchikanen und seiner seelischen Not die Gemüter in Verwirrung bringt.
Ich hatte also vor mir ein Auditorium von Psychopathen, dummen Jungen, geldgierigen Deklassierten und daneben ein paar wirklich famose Kerle, die ihr Vagabundenleben in bewußtem Gegensatz zu der herrschenden Gesellschaft führten und neugierig und selbst manchmal begeistert den neuen Einsichten Raum gaben, die sich vor ihnen auftaten.
Ein Beispiel mag den Charakter dieser Menschen bezeichnen. In der ersten Rede, die ich den neuen Freunden hielt (und die hier in ihrem wesentlichsten Teil abgedruckt war), hatte ich wiederholt für die Lumpenproletarier das Wort "Kunden" gebraucht. Nachher protestierten zwei der Leute: Sie seien keine
Kunden. Unter Kunden verstehe man Handwerksburschen, die von Ort zu Ort ziehen und um Arbeit fragen. "Wir sind Vagabunden oder Lumpen!" — Aus dieser Aufklärung sprach ein prachtvoller Stolz. "Wir suchen keine Arbeit, wir wollen nicht für die Herren' arbeiten!" Die so sprachen und fühlten, — gerade die waren keine geborenen Faulpelze, grade die sehnten sich nach Arbeit, nur nach einer solchen, die ihrer persönlichen Ehre und Selbstbestimmung nicht zu nahe trat. Die waren meinen Worten zugänglich, und wenn auch sie manches von dem, was ich wollte, mißverstanden (man begreife doch, wie schwer es ist, sich diesen oberbayrischen Dialektsprechern in gebildetem Norddeutsch verständlich zu machen), — den Kern der Dinge begriffen sie, den Wert der sozialistischen Idee sahen sie ein, das Wort Anarchismus füllte sich ihnen mit Ethos und Menschenwert.
Ich wurde in der letzten Zeit oft gefragt, ob ich nach den bösen Erfahrungen, die ich gemacht habe, nicht endlich genug hätte und ob ich den Versuch, mit diesem Material zu arbeiten, nicht lieber aufgeben wolle. Ich antwortete: Nein! — Und wenn ich noch ein Dutzendmal mit dem Wagnis Schiffbruch leiden sollte, — die paar Menschen, denen ich wirklich etwas Neues geben konnte, die sich durch mich bereichert fühlten, die werden mir immer wieder Mut geben, unter möglichster Vermeidung früherer Fehler von Neuem anzufangen.
Der irrende Ritter Don Quichote befreite die Galeerensklaven von ihren Fesseln. Nachher verprügelten sie ihn, weil er verlangte, sie sollten nun hingehen und seine holde Dulcinea schön von ihm grüßen. Nennt mich getrost einen Don Quichote! Sind die Gefesselten, die ich befreien möchte, undankbare Ruderknechte, so bleiben ihre Ketten doch widerwärtig und meinen Augen ein Greuel. Und am Ende bin ich der Meinung, daß die sozialistische Freiheit, die sie mir grüßen sollen, nicht bloss ein leeres Phantom ist wie die selige Dulcinea von Toboso.
Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 13, 1.17.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.