Erich Mühsam - Frauenrecht (1910)
Der folgende Text Erich Mühsams löste eine Debatte mit Gustav Landauer aus - dessen Replik ist hier zu finden.
Unter den zahllosen Problemen, die die liberale und sozialdemokratische Presse solange zu wälzen pflegt, bis sie völlig platt geworden sind, ist eines der beliebtesten die "Frauenfrage", will sagen: die Abschätzung der Rechte des Weibes im gegenwärtigen Staat oder in einer künftigen Gesellschaft. Es ist gar nicht zu leugnen, daß dieses Problem überall, wo Menschen zusammen leben, von ungeheurer Wichtigkeit ist, und ebensowenig ist zu leugnen, daß es unter dem Nudelbrett der öffentlichen Meinungsmacherei zu einem saftlosen Fladen dürftiger politischer Forderungen zerquetscht worden ist.
Wo öffentlich über die Rechte der Frauen diskutiert wird, hört man zwei Parteien einander überkreischen. Die eine schreit: die Frau gehört wie der Mann ins öffentliche Leben, auf die Hochschule, in den Erwerb, ins Parlament und an die Regierung! — die andere zetert: nein! die Frau gehört heute noch wie von jeher an den Kochherd, zum Strickstrumpf, vor das Waschfaß und ins Ehebett! Daß diese zweite Partei mit ihrem Kriegsruf des rechtgläubigen Spießertums die Zustimmung der meisten Frauen findet, ist ganz natürlich. Ordnen, putzen, den Hausstand verwalten und sich dafür vom Mann ernähren lassen, ist herkömmlicher Beruf des Weibes, ist nett und bequem. Wozu am alten Brauch rütteln? — Daß aber auch die Partei derer, die den idealen Zustand der Gesellschaft darin sehen, daß die Frauen den Männern gleich mitten im Kampf des Erwerbs, der Diskussion, der Öffentlichkeit stehen sollen, daß auch diese Partei großen Zulauf von Frauen hat, ja von Frauen jetzt geleitet wird, ist ganz unnatürlich.
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Wer Augen im Kopf hat, sieht, daß die Beteiligung der Frauen am Erwerbsleben — als Arbeiterin, Buchhalterin, Juristin usw. — in der Not unserer sozialen Verhältnisse begründet ist, und wer ein Gefühl hat für die menschliche Würde, auf die die Frau Anspruch hat, muß Verhältnisse herbeiwünschen, die ihr die Freiheit gewährleisten, zu sein und zu tun, was ihre Natur verlangt.
In diesen Blättern ist der Gegenstand, den ich erörtern will, verschiedene Male gestreift worden, und es ist die Aufforderung ergangen, Meinungen, die von den dort geäußerten abweichen, im "Sozialist" auszusprechen. Ich folge dieser Aufforderung. Denn eine Reihe von Gedanken, die der Artikel "Tarnowska" (No. 7) von gl. enthielt, sind meine Überzeugungen keineswegs und es würde mir im hohen Maße bedenklich erscheinen wenn die Tendenzen, die darin ausgesprochen werden, als Bekenntnisse des Sozialismus aufgefaßt würden.
Ich möchte in Gegenteil stark unterstreichen, was in No. 16 in dem Artikel "Vorläufiges zum Neumalthusianismus" von ab. gesagt wurde: "Der Sozialismus ... hat mit den Angelegenheiten der Lust so wenig zu tun, wie mit den vorübergehenden Erfordernissen der Not; er empfiehlt Palliativmittel weder in der Gesetzgebung noch im Ehebett noch im Lager der freien Liebe." In der Tat kann es unmöglich Aufgabe des Sozialismus sein, sich den Angelegenheiten der Lust gegenüber auf den Boden einer puritanischen Sexualmoral zu stellen.
Diese Angelegenheiten sind durchaus persönlicher Natur, sind abhängig von Temperament und Gefühl der Einzelnen und können weder von den Begriffen verwerflich und häßlich, noch von den Begriffen krank und dekadent getroffen werden. Daß die Funktionen des Geschlechtsverkehrs mit Lustempfindungen verbunden sind, rechtfertigt in gar keiner Hinsicht das Bestreben, jegliche menschliche Geschlechtsbetätigung auf die Zweckübung der Fortpflanzung zu beschränken. Wer das will, muß logischerweise die Enthaltsamkeit aller unfruchtbaren Frauen verlangen. Ich glaube aber, dass wir bei der Beurteilung dieser sehr schwierigen und sehr delikaten Frage nicht vergessen sollten, dass der Austausch von körperlichen Lustempfindungen zwischen Menschen der stärkste und innigste Ausdruck von Liebe ist. Liebe aber ist auch da vorhanden und will sich auch da äussern dürfen, wo etwa eine schwache Konstitution oder andere zwingende Gründe die Erzeugung von Kindern nicht empfehlen. Die Bewegung die heutzutage den Sozialismus anstrebt, hätte viel Ursache sich in diese diffizile Angelegenheit vorerst garnicht einzumischen. Wir sollten uns hüten, solange wir in der gegenwärtigen, in allen ihren Einrichtungen und Urteilen ganz ungesunden Gesellschaft leben, beurteilen zu wollen, was unter starken und gesunden, unter sozialistischen Verhältnissen im intimsten Privatleben der Einzelnen als Verfallserscheinung zu bezeichnen wäre und was als kräftige Eigenart.
Am meisten sollten wir uns hüten, denen, die in unseren Reihen stehen, ihre Angelegenheiten der Liebe und Lust — das sind Dinge, in denen die Menschen aus guten und reinlichen Gründen am empfindlichsten und am schamhaftesten sind — mit Zensuren zu versehen.
Hier ist der monogamen Ehe eifrig das Wort geredet worden, und es soll nicht bestritten werden, dass sie in vielen Fällen wirklich die Einschätzung als schönheitsvolle Einrichtung und Grundlage von menschlicher Kultur verdient, dann nämlich, wenn sich die Ehe auf eine gegenseitige Liebe und Innigkeit stützt, die nicht durch Plötzlichkeiten und Zufälligkeiten gestört wird. Nun wäre es aber sehr gewagt zu behaupten, dass der Mensch — Mann wie Weib — monogamisch veranlagt sei, und daß daher die glückliche Durchführung der Ehe als sittliche Forderung über den Menschen aufzustellen sei. Es gibt in beiden Geschlechtern Individuen mit dem auf eine Person konzentrierten Geschlechtswillen und solche mit dem Hange zur Abwechslung. Es ist eine ganz willkürliche Forderung, die die Staaten aus hauptsächlich erbrechtlichen Gründen aufstellen, die aber mit dem Sozialismus nicht im Entfernesten zu tun hat, daß die Menschen, die mit einander in nahen Verkehr getreten sind, einander "treu" zu bleiben haben. Ob wirklich der Sozialismus sich dereinst auf Ehen und Familien aufbauen wird, das ist eine Frage, die wir heute schwerlich werden entscheiden können, eine Frage, die von überzeugten Sozialisten nicht nur unserer Tage schon sehr ernsthaft angezweifelt worden ist. Mindestens ist hier die Berufung auf die Vergangenheit verfehlt.
Denn kaum je hat es eine Zeit gegeben, in der die Ehe wirklich und als Einrichtung ein Gefüge der Freiwilligkeit war. Im Altertum hatten die Männer fast überall das Recht, mehrere Frauen zu haben, und bis in unsere Tage hinein ist die Frau in diesem Gefüge der entrechtete Teil und der Mann hat die unbedingte Herrschaft im Hause. Ganz widerwärtige Bestimmungen haben sich bis in die Gegenwart gerettet, und die empörendsten sind gerade die, die unter dem Vorwande der Heiligkeit der Ehe und Familie der Mutter das Recht über ihre Kinder rauben — und nicht nur das Recht über ihre Kinder, sondern diese selbst werden dem Manne zuerkannt, wenn die Gatten nicht mehr beisammen bleiben wollen und die Frau als der "schuldige" Teil erkannt wird. So gewiß es richtig ist, daß alle Liebe frei ist, so gewiß ist es wahr, daß die Freiheit in der Liebe noch sehr zu erkämpfen ist, besonders für die Frauen.
Somit ist "freie Liebe" recht wohl ein Frauenrecht, das man lieber beanspruchen sollte, als jene kümmerlichen politischen Rechte, von deren Nichtigkeit man sich doch wohl bei ihrer Ausübung durch die Männer hätte überzeugen können. Die Erziehung zur Selbständigkeit in den eigensten Dingen, die Verfügung über den eigenen Leib, ungehindert von den moralischen Intriguen der Gesellschaft, die Befreiung von der öffentlichen Kontrolle der Unberührtheit, die unbedingte Anerkennung des Menschen im Weibe, das wären Frauenrechte, für die auch wir Sozialisten uns mit recht viel Eifer einsetzen könnten, ohne daß uns die Intensität der Fleischeslust, die bei vermehrter Freiheit der Frauen bewirkt werden könnte, dabei zu interessieren brauchte.
Eduard von Hartmann hat das gute Wort gefunden: "Die Frauenfrage ist eine Jungfrauenfrage". Tatsächlich ist die ängstliche Hütung der Jungfernschaft bis weit über das Mannbarkeitsalter der Mädchen hinaus das verruchte Mittel der Männer, die Frauen als Fleischware ihren Gelüsten hörig zu machen. Die Deflorierung der Frau hat die Bedeutung einer moralischen Entwertung erlangt, damit das Weib Zeit ihrer Lebens nur einem Manne — und zwar in der Eigenschaft als Ehefrau zu Willen sei. Wer sexuelle Angelegenheiten mit solchen der Reinlichkeit in Verbindung bringen will, der, meine ich, sollte an diesen traurigen Verhältnissen nicht vorbeisehen.
In dem Artikel "Tarnowska" wurde heftig gegen das Bestreben geeifert, die Vaterschaft in der Gestaltung des Liebes- und Familienlebens abzuschaffen. Es wurde behauptet, daß die Kreise, die solches verlangen, "durchaus von entarteten, entfesselten und entwurzelten Weiblein regiert werden", und es wurde ihnen vorgeworfen, daß sie "das Mutterrecht, auf deutsch: die kultur- und würdelose Schweinerei begründen" wollten. Mir persönlich gilt das Mutterrecht als eine heilige Menschheitssache, und ich will als Antwort auf den zitierten Satz nur ein paar Worte hersetzen, die (lange vor dem Erscheinen des theoretischen Wortes über "Mutterrecht" von Bachofen), nämlich im Jahre 1820, Rahel von Varnhagen, die feine, kluge, überaus empfindsame Freundin Goethes in ihr Tagebuch schrieb: "Kinder sollten nur Mütter haben, und deren Namen tragen; und die Mutter das Vermögen und die Macht der Familie: So bestellt es die Natur; man muß diese nur sittlicher machen ... Fürchterlich ist die Natur darin, daß eine Frau gemißbraucht werden kann, und wider Lust und Willen einen Menschen erzeugen kann. — Diese große Kränkung muß durch menschliche Anstalten und Einrichtungen wieder gutgemacht werden und zeigt an, wie sehr das Kind der Frau gehört. Jesus hatte nur eine Mutter. Allen Kindern sollte ein ideeller Vater konstituiert werden, alle Mütter so unschuldig und in Ehren gehalten werden wie Maria."
Verdient die Frau, die so fühlt, wirklich den Namen eines entarteten, entfesselten und entwurzelten Weibleins? Mir scheint, hier ist ein wirklicher Anhalt, wo es den Frauen an Rechten fehlt und wo auch die Männer anzusetzen haben, die dem andern Geschlecht zu Freiheitsrechten verhelfen möchten.
Um Irrtümer zu vermeiden: Mit den Forderungen der Neumalthusianer habe ich so wenig wie die, die meiner Meinung sind, irgend etwas zu schaffen. Die Verhinderung von Geburten hat nur eine Bedeutung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Wer nicht mehr will, als unter den obwaltenden Verhältnissen den Frauen ein erträgliches Leben ermöglichen, der wird allerdings bedenken müssen, ob nicht eine Einschränkung der Kinderzahl in sehr vielen Fällen, wo die Möglichkeit der Ernährung beengt ist, anzuraten ist (gegen das Verbot der Kinderabtreibung mit den grauenhaften Strafen, die seine Verletzung bedrohen, wird man schon aus Gründen der Menschlichkeit laut protestieren müssen). Aber alle diese Dinge haben ganz und gar nichts mit Sozialismus, ganz und gar nichts mit der Befreiung des Frauengeschlechts zu tun. Im Gegenteil: Kinder gebären ist der heilige und natürliche Beruf der Frau.
Mögen sie soviele gebären dürfen, wie ihr mütterliches Herz ersehnt; mögen sie ein Leben führen können, das ihnen die Vermehrung des Volks um starke, gesunde, kluge und lebensfrohe Kinder ermöglicht; und mögen sie ihre Kinder haben, von welchem Vater, von welchen Vätern sie selber wollen! ... Dann werden wir von Frauenfreiheit und von Frauenrecht reden dürfen!
Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 18, 15.9.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.