Erich Mühsam - Revolutionäre Moral (1928)
Als Karl Marx in seiner "Inauguraladresse" 1864 der "arbeitenden Klasse Europas" zum ersten Mal an Hand nüchternen Tatsachenmaterials die Perspektive der geschichtlichen Gegebenheiten und die aus ihnen resultierenden Aufgaben der werktätigen Massen aufzeigte, rief er zum Schluß der Arbeiterklasse die Pflicht ins Gedächtnis, sich gegen die diplomatischen Intrigen der internationalen Politik "zu gleichzeitiger und öffentlicher Anklage zu verbinden und die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts zu proklamieren, die, wie sie die Beziehungen von Privatpersonen regeln, auch die obersten Gesetze des Verkehrs der Nationen untereinander sein sollen. Der Kampf für solch eine auswärtige Politik ist eingeschlossen in dem allgemeinen Kampfe für die Befreiung der Arbeiterklasse".
Hier ward also für die Politik sowohl im internationalen Verkehr der Regierungen als auch im Emanzipationskampfe des Proletariates die Forderung aufgestellt, "die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts" innezuhalten, nach denen sich auch alle privaten Beziehungen regeln müssen. Man möchte glauben, daß diese Gesetze in der Tat so einfach seien, wie Marx hier vorauszusetzen scheint. Er hält jede Erklärung, welche Gesetze im einzelnen vom privaten Leben auf das öffentliche übertragen werden müßten, um "einfach" Moral und Recht zu sichern, für überflüssig. Er spricht nicht von besonderer proletarischer Moral, von proletarischem Recht im Gegensatz zu bürgerlichen Auffassungen, sondern anerkennt eine allen Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Gesamthaltung, gemeinsame ethische Pflicht des Anstands und zählt die Beaufsichtigung der Regierungspolitik im Verkehr mit andern Regierungen, ob sie der Wahrung des sittlichen Rechts entspreche, zu den Aufgaben der Arbeiterklasse im "allgemeinen Kampfe" für ihre Befreiung.
Die in dieser Kundgebung zum Ausdruck kommende Ethik hätte die Hervorhebung im Grunde kaum nötig; denn sie ist so selbstverständlich, für jedes gesunde und unverdorbene Empfinden so weit abgelegen von problematischen Zweifeln, daß es genügen sollte, das Zitat, neben vielen ähnlichen Zitaten andrer Lehrer der Arbeiterklasse, gelegentlich zu erwähnen, um den im Parteienkampf eingerissenen Übeln Sitten der gegenseitigen rüden Beschimpfung, Verleumdung und Verächtlichmachung, die sogar leider am ärgsten zwischen den benachbarten proletarischen und revolutionären Gruppen im Kampf gegeneinander im Gebrauch sind, entgegenzuwirken. Es muß jedoch ausgesprochen werden, daß grade Karl Marx selber, schlimmer als irgend ein in der Geschichte beträchtlicher andrer Mensch desselben oder des feindlichen Lagers, "die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts" sein ganzes Leben hindurch dauernd auf das gröblichste und widerwärtigste verletzt hat und daß sich seine eigene Methode, "die Beziehungen von Privatpersonen zu regeln", zum Vorbild einer öffentlichen Umgangsmoral verdammt schlecht eignen würde. Ja, eben im Zusammenhange mit der Inauguraladresse berichtete er in einem Brief an Friedrich Engels vom 4. November 1864 von der Aufnahme seines Entwurfs bei dem Komitee, das ihn mit der Ausarbeitung des Statuts der Internationalen Arbeiter-Assoziation beauftragt hatte, folgendes: "Meine Vorschläge wurden alle angenommen vom Subkomitee. Nur wurde ich verpflichtet, in die Einleitung der Statuten zwei 'Pflicht'- und 'Recht'-Phrasen, dito 'Wahrheit, Moral und Gerechtigkeit' aufzunehmen, was aber so plaziert ist, daß es keinen Schaden tun kann."
Marx hält also jeden Hinweis auf Pflicht, Recht, Wahrheit, Moral und Gerechtigkeit in einem an die internationale Arbeiterschaft gerichteten Manifest für bloße Phrase. Er ist so frei von derlei Begriffsbelastungen, daß er gegen seine Überzeugung, um seine Auftraggeber nicht vor den Kopf zu stoßen, sich zu einem Appell an das sittliche Empfinden überwindet und den "Schaden", den er davon fürchtet, durch entsprechende "Plazierung" abzuwenden sucht.
Beschäftigt man sich mit den vier Bänden, die den Briefwechsel zwischen Marx und Engels enthalten (Herausgeber A. Bebel und Ed. Bernstein, Verlag von J. H. W. Dietz Nachf, GmbH.), so blickt man schaudernd in einen Abgrund von Intrige, Gehässigkeit und Zynismus und erkennt klar die tieferen Ursachen, warum die Arbeiterbewegung bei aller wissenschaftlichen Reife in die trostlose Parteiverödung geraten mußte, in der sie heute mehr denn je stagniert. Mit Engels söhnt einen ja immer wieder die fast beispiellose Hingabe seiner freundschaftlichen Empfindungen für Marx aus, eben die Betätigung moralischer Tugenden, die er selbst, verstrickt in einer Art geistigen Hörigkeit gegen Marx, im revolutionären Kampf der Arbeiterklasse mit dem gleichen Hohn wie jener als phrasenhafte Schwäche und verwaschene Sentimentalität beiseite tritt. Karl Marx aber, dessen gigantische geistige Leistung, dessen ungeheure Energie und überragende Bedeutung als Theoretiker und Forscher auf dem Gebiete der politischen Ökonomie gewiß nicht verkannt, dessen Verdienste als Förderer und Wegbahner der revolutionären Sendung des Weltproletariats auch durchaus nicht verkleinert oder geleugnet werden soll, bietet in seinem moralischen Charakter nicht die geringste Eigenschaft, die eine persönliche Verehrung über sein abstraktes Wirken hinaus rechtfertigen könnte.
Der Nutzen, den er durch die höchst scharfsinnige Aufhellung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge gestiftet hat, verblaßt neben dem Schaden an der Seele des revolutionären Proletariats, der ihm zur Last fällt. Grade als Persönlichkeit von ungewöhnlicher Stärke des Verstandes und des Willens, die sich ihrer suggestiven Macht auf die Umwelt voll bewußt war, ist ihm seine gierige autoritäre Eitelkeit als unsühnbares Verbrechen an der Idee des revolutionären Sozialismus anzurechnen. Sein scheußliches Beispiel hat die ganze ihm anhängende Führerschaft infiziert, sodaß aus Ränken und Perfidien ein ausgebildetes politisches System wurde. Die besten Kräfte, die der Sache der proletarischen Emanzipation ergeben waren, wurden Opfer des Systems, und wenn man die Schandbarkeiten verfolgt, unter denen nacheinander und teilweise gleichzeitig Männer wie Proudhon, Lassalle, v. Schweitzer, Bakunin, Willig, Schapper, alle zu leiden hatten, die in irgend einer Situation, in irgend einer Auffassung anderer Meinung als Marx zu sein wagten, wenn man ferner die Nachfolge Marxens am Werke der Verunglimpfung und Lästerung jedes über die Schullehre hinauslangenden Geistes beobachtet, von Engels angefangen über Wilhelm Liebknecht und Bebel weg zu den Autoritären und Autoritäten der russischen Revolution marxistischer Observanz, Lenin, Trotzki, Sinowjew, Bucharin, Stalin, dann wundert man sich nicht mehr über die kleineren Geister in den marxistischen Parteien und Gruppen, deren "Kampf" kaum mehr in etwas anderem besteht, als in schmählichem Dreckschmeißen auf die nächste Nachbarschaft.
Jeder sucht mit der Laterne in des andern Portefeuille nach Schmutz, und ist dort nichts zu finden, so leuchtet er ihm noch hinter die Hosentür. Die Erinnerung daran aber, daß ein Kampf um geistige Dinge nicht mit unsauberen Mitteln geführt werden kann, begegnet bei allen Unrat-Schüfflern überlegenem Gelächter. Pflicht, Moral und Wahrheit sind nach Marx bloße Phrasen, gut genug, um sie von dem zu verlangen, der abweichender Meinung ist. Das eigene Verhalten bestimmt sich nur nach Zweckmäßigkeitserwägungen; Entrüstung über die Gemeinheit andrer erwächst allenfalls aus der Berechnung des erlittenen Schadens an materiellem Wert oder an Prestige und wird sonst nur vorgetäuscht, um der politischen Spekulation wegen dem kleinbürgerlichen Bedürfnis des Anhangs nach "Pflicht"- und "Recht"-Phrasen, dito "Wahrheit, Moral und Gerechtigkeit" Genüge zu tun.
Zum ersten Male legt uns eben ein Marxist ein Werk über Marx vor, das die seelische Erbärmlichkeit, von der seine geistige Leuchtkjaft verdunkelt und vielfach entwertet wird, weder verschweigt, noch verfälscht oder beschönigt. Die Biographie von Otto Rühle "Karl Marx. Leben und Werk" (Avalun-Verlag, Hellerau bei Dresden 1928) bildet eine sehr wertvolle Ergänzung zu Franz Mehrings "Karl Marx. Geschichte seines Lebens" (Leipziger Buchdruckerei A.-G. 1918). Denn während Mehring durchaus die Geschichte der Zeit und ihre Beinflussung durch die Wirksamkeit der Arbeit und der Lehren von Karl Marx in den Mittelpunkt seiner Darstellung hebt und die persönlichen Eigenschaften des Mannes nur nebenbei und, wo eine Rechtfertigung ganz unmöglich wird, mit bedauernder Milde gegen den bewunderten Lehrer aufzeigt, geht Rühle im Gegenteil überall von der Persönlichkeit aus, deren Charakterdefekte bei aller Bejahung des gedanklichen Werkes scharf gekennzeichnet werden. Die Erklärungen aus der individuellen Beschaffenheit von Herkunft, Jugendmilieu und körperlicher Konstitution, mit denen der Individualpsychologe Rühle die Wesensart Marxens dem Verständnis näher zu bringen sucht, mögen falsch oder richtig sein; es mag stimmen oder nicht, daß die Überheblichkeit, Rigorosität, Ränkesucht, Ungerechtigkeit, die Abwesenheit jedes ethischen Regulativs in der Polemik auf ein konstantes Unsicherheits- und Minderwertigkeitsgefühl zurückzuführen waren: Deutungen sind noch keine Entschuldigungen, und es hat auch außer Marx produktive Menschen gegeben, die jüdischer Abstammung, stoffwechselleidend und ewig in Geldnot waren, ohne deshalb vor jedem Anspruch an die Moralität des Charakters kläglich zu versagen. Rühles Analyse, so interessant sie ist, so einleuchtend und richtig viele ihrer Aufstellungen und Rückschlüsse sind, krankt an dem Fehler aller Systematik, der Einseitigkeit. Die individualpsychologische Betrachtungsweise kann als Hilfsmittel zum Urteilen ihren hohen Wert haben; als universaler Gradmesser für Tiefe, Wärme und Dichtigkeit in die menschliche Seele gesenkt, muß sie eher verwirren als klären, eher verdunkeln als erhellen.
Es scheint geboten, Marx` persönliches Gebaren nicht allein vom Komplex seiner subjektiven Bedingtheiten aus, den physischen und materiellen Leiden und der neurotischen Natur, zu betrachten, sondern auch von gewissen theoretischen Aufstellungen seiner eigenen Geistesarbeit her. Es ist nämlich zu bestreiten, was Rühle in seiner sonst vortrefflichen Beschreibung der materialistischen Geschichtsauffassung behauptet, diese Auffassung habe "nie ... die Macht von Ideen ignoriert, die Bedeutung des Seelischen im Ablaufe der Geschichte unterschätzt." Eben dies hat die materialistische Betrachtung immer getan. Sie hat nie die Wechselwirkung von geistigen, seelischen und materiellen Einflüssen im Leben erkannt und wahr haben wollen, sondern stets der Ideologie gehuldigt - und um eine reine Ideologie handelt es sich hier trotz aller materialistischen Begriffe -, daß, wie Rühle selbst Marx` Auffassung richtig definiert "die Entwicklung der Ökonomie den Wandel der Gesellschaftsverfassungen, Staatsformen, Sozialgebilde, Ideologien und Ideale veranlaßt, bedingt und nach sich zieht." Es ist aber gleichzeitig so, daß auch Erkenntnisse, Ideen und sittliche Einsichten, die aus ganz andern als ökonomischen Vorgängen herrühren können, die materielle Situation der Menschen, ihr gesellschaftliches Verhalten und selbst "das Wechselspiel der gegenseitigen Bedingtheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entscheidend zu bestimmen vermögen." So gesehen wird grade das Charakterbild von Karl Marx zum Beispiel eines Reflexes der ideologischen Welt auf die Realität der Menschen und Dinge.
Von ethischen Normen als Triebkräften im revolutionären Kampfe hielt Marx, wie gezeigt, so wenig, daß er schon den Hinweis auf Pflicht, Ehre, Wahrhaftigkeit und Recht in einem grundsätzlichen Manifest an die Arbeiter als schädlich ansah und das Engels gegenüber offen aussprach. Seine Handlungen und persönlichen Manifestationen entsprechen diesem sittlichen Niveau vollständig, dürfen daher sehr wohl als Anwendung einer bewußt negativen Moral auf die Lebensführung eines beinahe einzigartig schroff und kalt denkenden Individuums angesehen werden. Unter dem Eindruck der Nachricht vom Tode Lassalles, eines Mannes, der ihn glühend verehrte, ihm trotz hundert Verletzungen treu blieb, ihm fortwährend aus Geldkalamitäten heraushalf, schreibt er an Engels (7. September 1864): "... daß es schwierig ist zu glauben, daß ein so geräuschvoller, beunruhigender, drangvoller Mensch nun maustot ist und ein für alle Mal das Maul halten muß". Den "Todesvorwand" Lassalles nennt er "eine der vielen Taktlosigkeiten, die er in seinem Leben begangen hat." Die Perfidien gegen Schweitzer, die Lumpereien gegen Bakunin zeigen erst recht den "verhängnisvollen Zug seines Wesens, alle Fragen der Politik, der Arbeiterbewegung, der Revolution unter dem Gesichtswinkel seiner persönlichen Geltung zu sehen, in abschreckendster Kraßheit" wie sich Rühle im Zusammenhang mit den niedrigen Anwürfen ausdrückt, in denen "Marx, ausgerechnet der in tausend dunkle Geldaffären verwickelte Marx, der sein ganzes Leben lang vom Geld andrer gelebt hat", die Beschuldigung des Betrugs und der Korruption gegen Bakunin richtete, "einen der genialsten, heroischsten und faszinierendsten Revolutionäre, die die Geschichte kennt."
Aber es ist eben fraglich, ob Rühles Annahme, Marx habe alle Fragen der Politik und Revolution nur "unter dem Gesichtswinkel seiner persönlichen Geltung" gesehen, zur Erklärung seiner schmachvollen Seelenroheit ausreicht. Die suggestive Wirkung der Geistigkeit dieser, bei allem riesenhaften, Persönlichkeit kann sich doch nur auf seine Weltanschauung erstreckt haben. Wollte man die Charaktermängel tatsächlich einfach von seiner Unterwertigkeitsangst herleiten, die ihrerseits hauptsächlich von Judentum und Furunkulose genährt gewesen sei, dann bliebe doch das Rätsel ungelöst, woher denn bei der gesamten Nachfolge von Karl Marx grade die angeblich aus der physischen Konstitution stammende Immoralität im Ideenkampfe die stärkste Suggestionskraft und Vererblichkeit zeitigen konnte. Engels litt nicht an den Verdauungsleiden des Freundes, hat auch in jüngeren Jahren und sein ganzes Leben hindurch in der herrlichen menschlichen Treue gegen Marx hohe ethische Tugenden an den Tag gelegt und beteiligte sich dennoch an den schmierigen und unwürdigen Intrigen zur Vernichtung politischer Gegner. Selbst Frau Jenny Marx, eine im Grunde durchaus edle und mütterliche Natur, hat entsetzlich häßliche Briefe gegen Menschen geschrieben, die gesinnungmäßig wo anders standen. Und dann folgten die Marxisten aller Richtungen und aller Länder und wendeten so niedrige Mittel in der politischen Kontroverse, zumal gegen Revolutionäre an, die die Begriffe der Treue, Ehrlichkeit und Wahrheit nicht für Phrasen hielten, die man durch geschickte Plazierung daran hindern müsse, Schaden zu tun, daß sie dadurch alles kameradschaftliche Zusammenwirken gegen Kapitalismus, Reaktion und Staat vergiftet und bis auf den heutigen Tag sabotiert haben. Diese Erscheinung ist mit den Darmdepressionen von Karl Marx nicht erklärt-; sie ist nur zu erklären mit der Marxschen Lehrmeinung selbst, daß die Moral in der Politik keine Stätte habe, daß aller soziale Kampf aus ökonomischem Interesse gespeist sei und daß nur materielle Ziele Gegenstand geschichtlicher Kämpfe sein dürften.
Der wirkliche Grund der schrecklichen Erfolglosigkeit des Proletariats in seinem Ringen um Befreiung aus den Fesseln der ökonomischen Unterdrückung ist die Verunreinigung seiner Kampfmittel durch die jede Idealität der Gesinnung verachtende Dogmatik des Marxismus. An die Stelle des lebendigen geistigen Vorwärtsstrebens, der kameradschaftlichen Diskussion über Revolution, Sozialismus, persönliches und kollektives Verhalten, des Versuchs, Lehren und Prinzipien in dauernder kritischer Forschung und Erprobung kräftig und aktionsfähig zu erhalten, ist die Erstarrung in Dogma und Kirchlichkeit getreten und statt der Wandlung von Ideen im Tempo des fortgeschrittenen Denkens und Urteilens ist eine Anpassungstaktik an grade die staatlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten erfolgt, deren Ausrottung Zweck und Pflicht der proletarischen Revolution sein muß. Die Parteien und Organisationen verkapseln sich schlimmer und schlimmer in den trübsten Kastenegoismus, betrachten sich als Selbstzweck und richten ihr Gebaren nirgends nach den "einfachen Gesetzen der Moral und des Rechts", sondern nach dem scheußlichen Grundsatz der englischen Tories: Recht oder Unrecht - meine Partei! Aus der Marxschen Methode, den unbequemen Kritiker, zumal wenn seine Kritik ehrlich und klug ist, mit persönlichen Schmähungen, Verleumdungen, Kränkungen und Schädigungen mundtot zu machen, ist eine Seuche geworden, die leider schon über die marxistischen Keise hinaus sogar antiautoritäre Elemente ergriffen hat. Der proletarisch-revolutionären Bewegung tut aber nichts mehr not als die Umkehr zur Moral; Anstand im Verhalten, Mut zum Bekennen, Toleranz gegen die andre Meinung, Wahrhaftigkeit in der Werbung für die Idee, Selbstverantwortlichkeit und kritische Gewissenhaftigkeit sind die Voraussetzungen zu solcher Umkehr.
Proletarier, am allermeisten Jungproletarier, die sich von irgend einer Obrigkeit die Moral der Wahrhaftigkeit verbieten lassen, sind für die Revolution verloren. Zur Moral der Wahrhaftigkeit aber gehört die Aufrichtigkeit der Kritik. Außerhalb der Kritik steht niemand und nichts. Es ist an der Zeit, vor allen Dingen den Marx zu kritisieren, der den Geist der proletarischen Moral verlachte; den Marx, der die Unmoral anwandte, um seine Autorität über den Willen des Weltproletariats zu setzen; den Marx, der in die Führerschaft der marxistischen Parteien kroch und sie zum August 1914 und nach Weimar führte; den Marx, der sich im revolutionären Rußland breitmachte und dort alle seine Sünden gegen Bakunin nicht mehr nur gegen alle Bakunins, sondern schon gegen die Trotzkis und Sorins wiederholt; den Marx, der guten deutschen revolutionären Arbeitern den Schlagring in die Hand gab als Argument gegen die Klagen besorgter Kommunisten, die die Umschmeichelung eines asiatischen Despoten von Beauftragten revolutionärer Arbeiter nicht gut finden; den Marx, der seinen führenden Nachfahren die Macht über unkritische Menschen vermacht hat, Personen, die gestern als vorbildliche Genossen gefeiert waren, heute als Lumpen, Verräter und Renegaten zu denunzieren und morgen wieder, wenn sie sich würdelos dem Befehl der brotgebenden Autorität unterworfen haben, als treue Genossen mit Führervollmachten ausgestattet, loszulassen, um Charaktere zu verderben.
Der Geist der Morallosigkeit im revolutionären Lager muß ausgerottet werden. Morallosigkeit ist Kritiklosigkeit. Kritiklosigkeit ist Unfreiheit. Unfreiheit ist Tod.
Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 9, Juni 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)