M. Kanfer - Marx und Bakunin als Symbole!
Wie bekannt, sucht sich ein Teil des Syndikalismus in Frankreich vom Anarchismus loszumachen. Der Theoretiker dieser unabhängigen Syndikalisten ist Hubert Lagardelle, den unser Pariser Bruderblatt "Les Temps Nouveaux" einen reichen Doktor nennt und damit eben seinen Standpunkt kennzeichnet.
Diese Polemik greift ins Persönliche zu stark hinein und ist darum sehr unerquicklich; zur Entschuldigung ist aber vorzubringen, daß Lagardelle sich hie und da einer gewaltsamen Verkennung des Anarchismus schuldig gemacht hat. Der Anarchismus ist für ihn nämlich Sache des Menschen oder der Menschheit, während der Syndikalismus ein Produkt des Klassenkampfes des Proletariats sein soll (Les Document du Progres, Avril, 1908). Er behauptet also dasselbe von dem Anarchismus, was der deutsche bürgerliche Prof. W. Sombart, der in dem Anarchismus einen rationalen, utopischen, die Entwicklungsgesetze außer acht lassenden Sozialismus sieht. Das andere Mal bezeichnete er den Syndikalismus als den Sozialismus der Institutionen und vergißt, hinzuzufügen, welche Institutionen gemeint sind.
Der Sozialismus der Institutionen schmuggelt durch ein Hintertor den Staat wieder hinein, der durch das offene Haupttor herausgeprügelt wurde. Wird der Staatssozialismus etwas anderes, wenn er der Sozialismus der Institutionen genannt wird?
Ich war daher sehr neugierig auf Lagardelles Broschüre über Bakunin. Diese gewaltige Persönlichkeit war doch zweifellos ein Anarchist und grosser Anhänger der sozialen Revolution, die das Proletariat durch Klassenkampf (sozialen Generalstreik) herbeiführen sollte. Dieser flammende Revolutionär, der überall da war, wo für Freiheit gekämpft wurde, dieses lautere, reine Herz, dieser im wahren Sinne des Wortes sittliche — weil aktive — Mann, muß sich jetzteine Amputation gefallen lassen, muß jetzt als Kronzeuge des Syndikalismus dienen. Er, der immer dieser Meinung war, daß Anarchismus und Freiheit identische Begriffe sind, daß Anarchismus protestantischer Klassenkampf ist, der das glänzende Pamphlet "Die Einschläferer" gegen die Bremser der sozialen Revolution geschrieben hat, wurde feierlich als "Vater des Arbeiteranarchismus" erklärt. "Arbeiteranarchismus" — ein Himalajaunsinn, ein Paradoxon, das so dumm ist, daß es aufhört, Paradoxon zu sein und zum Armutszeugnis für die Braucher und Gebraucher dieses Wortes wird. Der Sozialismus und Anarchismus sind wirklich eine rein menschliche Sache, und darin hat Lagardelle Recht, aber der Weg dazu führt zum Klassenkampfe — allerdings im nicht-marxistischen Sinne — zum sozialen Generalstreik, zum Antimilitarismus. Wo und wann hat sich der Anarchismus von solchem Klassenkampf losgesagt? Der Sozialismus und Anarchismus sollen den Menschen frei machen, und darum sind sie eine Weltanschauung. Aber in der jetzigen Raubtiergesellschaft, können sich nur diejenigen frei fühlen, für die keine Magenfrage existiert, die ökonomisch selbständig und unabhängig sind.
Lagardelle faßt Bakunin als Menschen der Tat auf. Sein Werk ist von seiner Persönlichkeit heraus zu verstehen, sonst ist es ein Fragment. Bakunin war kein Philosoph, sondern ein fanatischer Freiheitssucher, er selbst nannte sich "un amant fanatique de la liberte" und betrachtet die Freiheit als das einzige Milieu, "in welchem die Intelligenz, die Würde, das Glück der Menschheit sich entwickeln können". Lagardelles Darstellung von Bakunins Leben ist wenig interessant. Nach Nettlaus grundlegendem Werke ist es fast unmöglich, etwas Neues über Bakunin zu bringen. Interessant ist nur, wie sich Lagardelle der Notwendigkeit, ein Urteil über das Verhältnis zwischen Karl Marx und Bakunin zu fällen entziehen will. Er zitiert, was Bakunin über Marx gesagt hat: "Zwischen mir und Marx konnte keine Intimität entstehen. Er hat mich einen sentimentalen Idealisten genannt und hat Recht; ich habe ihn einen perfiden, hinterlistigen Ehrgeizling genannt und habe auch Recht gehabt." Dabei hat Bakunin Marx sehr geschätzt und geehrt als einen Mann der Wissenschaft und seinen Opfergeist für das Proletariat bewundert.
Wie gesagt, bringt Lagardelle hier sehr wenig Neues. Nur einen interessanten Brief des französischen Historikers Michelet, der in der französischen Zeitschrift "La Revue" vom 15. Mai 1907 zum ersten Mal abgedruckt wurde, finden wir.
Der Brief lautet: "Wisse, teurer Freund", schreibt Michelet an Herzen, "daß in diesem Hause, wo ich noch nicht das Glück hatte, Dich zu empfangen, der erste Platz einem Russen Bakunin gehört. Das Bild ist doppelt kostbar, doppelt teuer, doppelt tragisch für mich, weil es von der Hand der sterbenden Frau Herzen gezeichnet wurde. Heiliges Bild, geheimnisvoller Talisman, welcher mein Auge erfreut, mein Herz mit Rührung, meine Seele mit Tränen erfüllt und in mir ein Meer von Gedanken erweckt. Da ist der Osten, da der Westen: die Verbrüderung der Nationen. Da ist der Westen: Der echte Degen, der unerschrockene Soldat, welcher der erste erwachte eine Stunde vor Februar. Er schrieb mit der Spitze seines Degens an die "Reformer" einen Aufruf zum Zweikampfe zwischen sich und Nikolaus. Da der Orient: Die legitime Opposition des heiligen Rußlands gegen eine Regierung, die es martert, die Anstrengung das Volk von der macchiavelistischen Bahn, wohin der Zarismus es führte, zurückzuleiten, um ein Friedenswerk zwischen Europa und Asien zu stiften.
Dieses Bild endlich, teurer Freund, ist die Bürgschaft der Allianz, das Gut, die große Erinnerung an eine Aufopferung, die die ganze Welt umfaßt und sie zu einer Familie macht. Rußland, weiß man, ist von den Deutschen unterdrückt, aber am Tage, an welchem der germanische Ruf erscholl: Wer will mit uns für Deutschlands Freiheit sterben, erschien ein Russe in der ersten Reihe, und kein deutscher Patriot zeigte sich vor ihm. Wenn Deutschland Deutschland sein wird, so wird man diesem Russen einen Altar dort errichten."
Als Kommentar dieses Briefes bringe ich in Erinnerung, daß Marx Bakunin immer als Panslavisten bezeichnet hat und der niederträchtigen Kampagne, die Borkheim zuerst in der Pariser "Zukunft" und dann später Liebknecht und Bebel in Deutschland gegen Bakunin geführt hatten, nicht fern stand, bewußt oder unbewußt dem russischen Gesandten in Paris Kisselew einen Dienst erweisend, (*) Bakunin war ein Panslavist im edelsten Sinne des Wortes, d.h.: ein grimmiger Zarenhasser (er war doch der erste, der das Signal "Narod" gegeben hat und das sogenannte "Narodniekie" geschaffen) dabei auch für eine Verständigung der slavischen freien Völker gegen den expansiven Pangermanismus, von welchem Marx sich nie vollständig befreit hat, was durch seine Stellungnahme gegenüber den Slaven hinlänglich bewiesen worden ist.
Viel stärkere Worte der Entrüstung findet Lagardelle um Bakunins Ausschließung aus der Internationale zu brandmarken. Der Beschluß der Juraföderation auf dem Kongreß zu La Chaux-de-Fonds, der sich von jeder parlamentarischen Tätigkeit losgesagthatte, hat es dem Generalrat der Internationale (lies Marx!) so angetan, daß alle Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um Bakunins Exkommunikation durchzusetzen.
Unedel und geradezu niederträchtig war es, daß Marx die Affaire Netschajeff — über diesen gewaltigen Revolutionär hat die Neuzeit auch schon mehr Licht verbreitet (die russische Zeitschrift "Byloje" (**) — ausgeschlachtet, um Bakunin zu diffamieren.
Viel interessanter ist, wie wir schon gesprochen haben, der zweite Teil der Broschüre, der über Bakunin als Theoretiker berichtet. Nach Lagardelle soll Bakunin ein Eklektiker gewesen sein, seine Gedanken sollen nur eine mehr oder weniger gelungene Zusammenfassung marxistischer und proudhonischer Konzeptionen sein. Bakunin war doch selbst ein großer Anhänger und tiefer Bewunderer marxistischer Gelehrsamkeit. Bakunins Mitkämpfer James Guillaume zitiert Bakunins Urteil über das "Kapital" von Marx: "Dieses glänzende Werk hat nur einen Fehler, es ist in einem metaphysischen und abstrakten Ton geschrieben, so daß es die Arbeiter nicht verstehen können. Die Bourgeois werden es nicht lesen, wenn sie es lesen werden, werden sie es nicht verstehen wollen, wenn sie es verstehen werden, werden sie es totschweigen, denn dieses Werk ist eine wissenschaftlich motivierte und unwiderlegbare Verurteilung ihrer nicht als Individuen sondern als Klasse."
An einer anderen Stelle nennt er dieses Werk eine ungemein tiefe und wissenschaftlich unwiderlegbare Analyse des modernen Kapitals. Mit Proudhon hat Bakunin immer eine tiefe Freundschaft verbunden. Bakunin hat Proudhon in den Garten der Hegelischen Dialektik eingeführt — wie uns der Musiker A. Reichel in seinen Memoiren erzählt und hat also indirekt seine "Philosophie des Elends" befruchtet.
Als Beweise für diese Behauptung, daß zwischen Bakunin und Marx eine Verwandtschaft der Anschauungen existieren sollte, dienen uns verschiedene Zitate. Aber diese Beweise beweisen eben nichts, oder sie beweisen nur dieses, daß jeder ehrliche Sozialist den Staat verurteilen muß, daß jeder Revolutionär in dem Staate nur ein Instrument der Ausbeutung, der Klassenherrschaft sieht, das erst vernichtet werden muß, wenn man daran gehen will, die aufbauende Kraft des sozialistischen Gedankens zu demonstrieren. Eine Binsenwahrheit also, die jeder Anarchist oder noch weiter gesagt jeder sozialistisch geschulte Mensch schon längst verstanden hat. Etwas tiefer hat dieser Gegensatz zwischen Bakunin und Marx — wenn man von dem Gegensatz zwischen verbissener hie und da auch verböserter Autorität und Freiheit absieht — Lagardelles Mitbegründer des "neuen" Sozialismus, Georges Sorel, aufgefasst. Seine Broschüre "Die Zersetzung des Marxismus" sollte sich jeder Genosse anschaffen, der der französischen Sprache mächtig ist, es wäre auch sehr aktuell dieselbe ins Deutsche zu übersetzen, da doch die deutsche Sozialdemokratie sich einer großen und auch leicht verständlichen Enthaltsamkeit gegenüber dem Syndikalismus befleißigt. Sorel ist dieser Meinung, daß Marx ein Revolutionär im wissenschaftlichen Sinne des Wortes, während Bakunin ein Blanquist, was die revolutionäre Taktik anbetrifft, gewesen sein soll. Der Blanquismus soll hier in diesem Sinne aufgefaßt werden, den ihm Bernstein untergeschoben hat, nämlich als Revolution in Permanenz. Der Blanquismus, den die Marxisten Putschismus nennen, will die Revolution hervorrufen in jeder Epoche, unabhängig von den Zeitumständen und Produktionsformen. Marx hingegen war überzeugt, daß die Revolution zwar ein notwendiges Finale der sozialen Kämpfe sei, man soll und kann sie aber nicht mutwillig provozieren. Sie werde dann mit der ganzen aufgespeicherten Explosivkraft des Dynamits hervortreten, wenn die Zeitumstände und Produktionsformen derart gestaltet sein würden.
Dieser Gegensatz läuft also auf das Problem des Bewußtseins als geschichtlichen Faktors heraus. Wer entscheidet: der Mensch oder die Zeitumstände? oder vielleicht beide zusammen, wie der moderne Anarchismus will? Auf welche Weise schafft man nämlich jeden Dogmatismus ab? Indem man neue Geschichte schafft — dieser Gedanke eines talentierten polnischen Publizisten soll uns hier als Wegweiser dienen. Im trägen Leben hat Bakunin den Wettkampf mit Marx verloren, aber auch Marx hat die Palme des Sieges nicht davon getragen. Bakunin hat sich theoretisch von dem Joche der materialistischen Geschichtsauffassung nicht befreit, sein revolutionäres Temperament, seine heilige Liebe zur Freiheit ließen ihn aber nicht vollkommen versumpfen.
Bakunin war im Grunde genommen ein Voluntarist. Der Wille des Menschen, des freien bewußten Proletars, bildet die einzige Triebkraft des sozialen Mechanismus. Er war Anhänger der Tat im weitesten Sinne des Wortes und propagierte sie immer, wenn auch nicht in klaren wissenschaftlichen Abhandlungen, so doch in einer um viel verständlicheren Sprache. Sein Leben ist ein Manifest des Voluntarismus. Hier bemerken wir eine tiefe Inkongruenz zwischen seiner Theorie und seinem Leben. Wenn man die materialistische Geschichtsauffassung als Ausgangspunkt annimmt — und das hat Bakunin gemacht —, so muß man zu einem sozialen Quietismus gelangen, muß man die Segel der Individualität vor dem Idole der Massenbewegung streichen. (***) Bakunin glaubte an die frische Tatkraft der Einzelnen; große Revolutionen haben nach ihm immer nur kleine Minoritäten gemacht. Er vergißt aber, hinzuzufügen: nicht immer und überall. Soll wirklich die Geschichte die einzige Lehrmeisterin sein, die keine Schüler hat? Sind noch wirklich Leute da, die eine Revolution der Majorität aufzuzwingen beabsichtigen?
Tief tragisch ist eben das Leben Bakunins, wie überhaupt jedes bedeutenden Menschen der Neuzeit. Bakunin und Marx sind Symbole. Bakunin hat die Zeiten zu einem Zweikampfe aufgefordert. Wie fließt die Zeit langsam und öde dahin! Nur dann, wann unsere Pulsschläge höher schlagen, wenn wir die Zeit verneinen, wenn wir uns an ihre Gebote nicht kehren, dann sind wir keine Sklaven der Zeit, dann existiert für uns eben die Zeit nicht, dann haben wir keine Zeit. Aber die Zeit ließ sich nicht schlagen, sie blieb stärker als der Mensch, mochte er selbst an die geistige Größe Bakunins heranreichen.
Aber auch Marx hat die Palme des Sieges nicht davongetragen. Für ihn war die Geschichte anonym, und darum ist der Marxismus die Ideologie jeder Massenbewegung. (Wie viele solcher Marxisten sind zwischen den Anarchisten?) Im Grunde genommen war doch Marx ein fanatischer Revolutionär, wenn er auch ein grimmiger Gegner des Blanquismus war. Ich erinnere nur an seine gehässige Darstellung der Internationalen in Italien, wo er von Advokaten ohne Klienten, von ehrgeizigen Intelligenzlern, die deklassiert sich an das Proletariat wenden, um mit seiner Hilfe wieder emporzukommen, während Bakunin in Worten tiefster Begeisterung von der aufopferungsfähigen Jugend Italiens spricht. Jetzt, wo wir diese marxistische Kritik lesen, können wir sie fast wörtlich auf die Sozialdemokratie anwenden!
In seiner Jugend ging auch der Marxismus darauf los, den Staat zu verneinen. Heute hat die Sozialdemokratie schon längst aufgehört, sich sozialistisch zu betätigen, indem sie zu einer großen politischen Partei herangewachsen ist. Sorel erzählt uns, daß im Jahre 1883 Gabriel Deville sein "Appercu sur le socialisme sientifique" veröffentlicht hat, in welchem Werke er energisch gegen die Verstaatlichungsmanie aller Produktionsmittel auftritt, — denn "damit vergrößert man nur die Macht des Staates." "Man braucht nicht den Staat zu verbessern, sondern zu vernichten". Man kann weiter sich an die Stelle in Engels "Ursprung des Privateigentums" zurückerinnern, wo er den Staat in die Rumpelkammer der Vergangenheit zu werfen verspricht. Bitte, damit die jetzige Taktik der Sozialdemokratie zu vergleichen, um die völlige Demoralisation zu verstehen!
Der Marxismus ist, wie ich schon gesagt habe, die Ideologie der Massenbewegung par excellence. Die Masse ist aber von Natur aus konservativ, faul, knechtisch, antirevolutionär und kirchlich dogmatisch. Das ganze Problem der sozialistischen Kultur besteht eben darin, aus der Masse Individuen zu tatkräftigen, geistig unabhängigen Individualitäten heranzubilden.
Die ganze Wucht der sozialistischen Taktik und Propaganda zieht darauf los, die soziale Knechtschaft, diesen Nährboden der geistigen Sklaverei, wie am schnellsten und sichersten zu vernichten. Der Marxismus dagegen konstruiert "immanente Kräfte", die sich den Teufel um den Willen des einzelnen Menschen kümmern, die nun als Ergebnisse der Produktions- und Verteilungsverhältnisse, das Gebiet der Geschichte fast vollständig beherrschen. Wir lesen doch auch im Kommunistischen Manifest: "Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung". Es ist eine ganz natürliche Sache, daß man objektivwissenschaftliche Kühle mit revolutionärem Pathos nicht vereinigen kann, und daher lag auf der Entwicklungslinie des wissenschaftlichen Sozialismus eine Versumpfung der revolutionären: Idee, eine Verhöhnung des Willens des Menschen als geschichtlichen Faktors.
Bakunin und Marx sind für uns Symbole geworden. Ein Schleier geschichtlicher Vergessenheit verhüllt jetzt die Phase des leidenschaftlichen Hasses, der niederträchtigen Kampfmethoden, die gegen Bakunin ins Feld geführt worden sind. Hie und da wird dieser Schleier unvorsichtigerweise von den Sozialdemokraten zerrissen, und da bemerken wir, wie uns die Darstellung des Sozialdemokraten Jaeckh gelehrt hat, wieder die vom tiefen Groll, vom ohnmächtigen Hasse zerfressene Fratze der Selbsterniedrigung, der Vergiftung aller Ideale, da hören wir wieder dieses feige Gekläff dieser erbärmlichen Ehrabscheider, die für die Würde des Menschen kein Verständnis haben.
Aber vergessen wir selbst jetzt daran; lassen wir uns nicht von dieser geistigen Höhe, auf der wir stehen, herabdrängen. Bakunin und Marx sind für uns eben jetzt Symbole geworden, Symbole eines Kampfes, der noch nicht ausgefochten worden ist.
Der Mensch ist das stärkste Wesen, stärker als Gott, stärker als die geschichtliche Notwendigkeit, stärker sogar als die Gesetze der Soziologie und Nationalökonomie (existieren denn diese Gesetze? Sind sie denn nicht Fiktionen der Gelehrtenzunft? —) sagt uns Bakunin. Da fällt in diesen Hymnus auf den Menschen Marx ein: Lumpig sind alle Ideale, wenn sie keine Interessen sind. Der Mensch bedeutet nichts, er ist nur ein Produkt der "immanenten" Kräfte des sozialen Mechanismus, denen er sich in allen seinen Ideen anzupassen hat.
Wer hat hier Recht? Das entscheidet jeder nach seinem Temperament, denn die Wissenschaft schweigt sich darüber aus. Vielleicht keiner von ihnen, vielleicht beide zusammen, wie es der kommunistische Anarchismus, der die einzig mögliche Aussöhnung des Individualismus mit dem Sozialismus, darstellt. Und hier, — wie überall — wird nur das Leben entscheiden, dieses unergründliche, faustisch lächelnde Leben!
Anmerkungen:
*) Vergl. darüber auch die Broschüre von P. Ramus: "Historische Beiträge zur Charakteristik von Karl Marx". Verlag Max Lehmann, Berlin 1907.
**) Vgl. über Netschajeff auch "Freie Generation", Jahre. 1, Nr. 1, 2, 3, 4.
***) Wir möchten es nicht unterlassen, hier einzuschalten, daß die Auffassung des historischen Materialismus durch Marx eine einseitige und exklusive war, was eben bei Bakunin, wie den anderen Anarchisten, nicht zutrifft. Die Red.
Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 3. Jahrgang, Nr. 1, Juli-August 1908. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.