Francisco Ferrer y Guardia - Meine Beziehungen zu Mateo Morral
Vorbemerkung
In Erinnerung an das Attentat Mateo Morrals auf den spanischen König, der Wiederbelebung von Montjuich'scher Folterungen wehrloser und unschuldiger Sozialisten, Anarchisten und Gewerkschaftler, wie Freidenker, veröffentlichte unser Bruderblatt "Tribuna Libertaria" (Montevideo, Uruguay) eine besondere Ausgabe, die eine eingehende und vorzügliche Behandlung des Gegenstandes aus fachkundigen Federn brachte. Nachfolgender Aufsatz enthält so manche bisher unbekannte Seiten des Gesamtfalles, wie auch der Hauptpersönlichkeit, weshalb wir denselben in deutscher Übertragung zum Abdruck bringen.
Die Redaktion
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Als ich meine Escuela Moderna*) in Barcelona eingerichtet hatte und diese schon in vollem Gange war, lese ich eines Tages in der Zeitung, daß eine Versammlung einberufen werde zwecks Gründung eines Vereins zur Herausgabe und Verbreitung von rationellen Schulbüchern für weltliche Schulen. Da die Einberufer sich an alle Interessenten für Einrichtungen von weltlichen Schulen wandten, so begab ich mich an den bezeichneten Ort, wo ich bereits Personen vorfand, doch war die Versammlung noch nicht eröffnet. Von den Anwesenden kannte ich bereits drei Frauen: Teresa Claramunt, Jaime Peiro und Juan Mir y Mir, deren eine mir einen jungen Mann mit den üblichen Redensarten vorstellte, von denen ich nur zurückbehielt, daß es der Sohn eines Fabrikanten von Sabadell sei, auch blieb mir der Name Morral im Gedächtnis, da ich dies Wort zum ersten Mal als Namensbezeichnung hörte.
Ich erklärte nun der Versammlung, daß meine Musterschule wohl dieselben Zwecke verfolge, die sich der Verein vorgeschlagen habe, und daß ich mich zu ihrer Verfügung stelle, um rationelle Schulbücher herauszugeben und zu drucken, falls es dem Verein an Geldmitteln dazu mangeln sollte. Ich versprach auch, in meiner Schule jegliche rationelle Schulbücher zu verwenden, die im Verlage dieses Vereins oder anderer in Zukunft erscheinen würden, und bat um Entschuldigung, daß ich der Versammlung nicht bis zum Schlusse beiwohnen könne, da ich noch zu einer Sonntagssitzung meiner Schule eilen müsse.
Das zweite Mal sah ich Mateo Morral wenige Tage darauf in meinem Büroraum, wohin er gekommen war, um je ein Exemplar von allen Büchern zu kaufen, die in der Escuela Moderna verwandt werden. Bei diesem Besuch hatten wir kaum ein paar Worte gewechselt, doch kam er nach Durchsicht der Bücher, mich wieder besuchen und war von deren Inhalt so begeistert, daß unsere Unterhaltung kein Ende nehmen wollte. Zum Schluß bestellte er ein Dutzend Exemplare von jeder Sorte, um sie an seine Freunde und einige weltliche Lehrer in Sacadell weiterzugeben. Er abonnierte dann auch gleich für sich und mehrere andere Personen, deren Adressen er zurückließ, auf das von unserer Schule herausgegebene Bulletin.
Seit der Zeit verging keine Woche, daß Moral die Escuela Moderna nicht besucht hätte. Stets hatte er Bücher einzukaufen, und ging aus seinen Erzählungen hervor, daß er überall unermüdlich Propaganda für die rationelle Schulmethode machte. Groß war stets seine Freude, wenn er zu erfahren bekam, daß wir ein neues Buch herausgegeben haben, und hatte er mir das Wort abgenommen, daß ich ihm von jeder Neuerscheinung sofort unaufgefordert zwölf Exemplare senden müsse, obschon er regelmässig alle Montage persönlich in der Escuela Moderna vorsprach. Bei diesen Besuchen blätterte er stets in den Manuskripten, die gedruckt werden sollten oder im Druck waren, bot mir auf alle Fälle Geld zu deren Veröffentlichung an und erzählte, daß sein einziges Streben und Ehrgeiz darauf gerichtet seien, im Volke die so gebieterisch notwendige Bildung zu verbreiten, da er für seine freie Zeit keine bessere Verwendung kenne und dem Cafe-Leben, Tabakrauchen etc. abhold sei.
Er machte mich bald zu seinem Vertrauten und erzählte mir alles, was seine Aufmerksamkeit oder seinen Unwillen erregt hatte. Er sprach von dem Leben der Fabrikanten in Sabadell, die für Orgien und ausschweifende Vergnügungen fabelhafte Summen fortwürfen und zu den Feiertagen nach Barcelona kämen, wohin sie die Töchter und Schwestern ihrer eigenen Arbeiter zu locken trachteten, um sie zu verführen und dann mit Hohn und Spott im Stich zu lassen. Gleiche Sachen erzählte er mir von den Fabrikanten in Tarrasa und wollte gleiches auch bei seinen Reisen in Frankreich und Deutschland beobachtet haben.
Es quälte ihn, beobachten zu müssen, wie geduldig und ergeben die Arbeiterbevölkerung sich die Hungerlöhne gefallen ließ und sich die freie Zeit über in Cafes umhertrieb, statt Bildung zu suchen und sich über die Mittel Aufklärung zu verschaffen, die ihnen zu einem menschenwürdigeren Dasein verhelfen könnten.
Er erzählte mir, mit welcher Vorliebe er sich mit Arbeitern unterhalte, um sie zum Studium und zur Organisierung anzuhalten, und wie schmerzlich es ihn berühre, dabei nur gar zu oft auf tiefste Ignoranz und tötlichste Gleichgiltigkeit stoßen zu müssen. Doch ließ er sich dadurch von seinem erzieherischen Eifer nicht abschrecken, denn jede neue Erfahrung stärkte ihn um so mehr in seinem Vorsatz, für rationelle Schulbildung und zielbewußte Arbeiterorganisationen Propaganda zu machen.
Zwei Dinge waren ihm vor allem ans Herz gewachsen: bei seinem Vater durchzusetzen, daß seine kleine Schwester zu uns in die Schule geschickt werde, und es zu ermöglichen, daß in Sabadelle auch eine Escuela Moderna gegründet werde. Als er den ersten Wunsch erfüllt sah, bat er mich, einen ungefähren Kostenanschlag für die Schulgründung aufzustellen, da er von seinem Vater das dazu nötige Geld erhalten würde. Leider kam sein Plan nicht zur Ausführung, da es an den notwendigen Lehrkräften mangelte.
Inzwischen waren wir in immer engere Beziehungen zu einander getreten. Mateo Morral nahm an den Exkursionen und anderen festlichen Veranstaltungen der Escuela Moderna teil, bei welcher Gelegenheit er uns einmal die Fabrik seines Vaters, sowohl als die Fabriken anderer Freunde von ihm, alle in Sabadell gelegen, besichtigen ließ, womit wir einen herrlichen Frühlingstag vergnügt und instruktiv verbrachten, Durch diesen Besuch und durch den Eintritt Adelina Morral in unsere Schule, traten wir in ein näheres Verhältnis zu dem Vater und den Brüdern Matheos, die unsere Schule ziemlich regelmässig besuchten.
Im Laufe der Zeit war Matheo Morral zu einem passionierten Verfechter unseres Schulprinzips geworden, überall pries er unsere Preßerzeugnisse aus, kaufte vieles für sich persönlich und schaffte immer neue Abonnenten auf unser Bulletin heran, bis er mir Ende 1905 folgende Erklärung abgab.
Er begann damit, daß er mir seine beständigen Kämpfe ins Gedächtnis rief, die er mit der Arbeiterschaft von Sabadell zu führen hatte, um deren Ignoranz zu besiegen, so daß er die Arbeiter seiner eigenen Fabrik erst dazu aufwiegeln mußte, seinem Vater gerechte Forderungen zu stellen, zwecks Beseitigung von gar zu schreienden Mißständen. Er beklagte sich nicht über seinen Vater, denn er war der einzige Fabrikant in Sabadell, der stets gegen die übrigen Fabrikanten im Orte auftrat, wenn von diesen Scharfmachern Maßnahmen gegen die Arbeiterschaft beantragt wurden, doch machte er sich Gewissensbisse, in der Fabrik den engen Interessen seines Vaters zu dienen und so zum Luxus der einen und zur Verelendigung der anderen beizutragen. Die Folgen des sozialen Unrechts sich selbst zu Herzen nehmend, konnte er sich nicht entschließen, zeitlebens im Dunstkreise von Privatinteressen zu arbeiten, ohne zu der Bildung und Erziehung der Arbeiterklasse Zeit zu finden. Er erklärte mir zum Schluß, daß er von unserem erzieherischen Werk entzückt sei und daß es sein Ideal wäre, uns nachzueifern und sein Leben gleicher Arbeit zu widmen.
Ich übergehe eine ganze Anzahl von Einzelheiten intimer Natur, die meine gute Meinung bestärkten, die ich Matheo Morrals ehrenhaftem und offenem Wesen beibringen mußte, und so bot ich ihm denn, seinen festen Entschluß sehend, die Mitarbeiterschaft an der Escuela Moderna an; ich schlug ihm vor, die Drucksachenabteilung zu übernehmen, wodurch ich freie Zeit gewinnen würde, um mich nach Lehrkräften umzusehen, die für die nunmehr allerorts nach unserem Muster in Gründung begriffenen Schulen benötigt wurden.
Er dankte für mein Anerbieten und sagte mir seine Hilfe zu, doch beließen wir die definitive Regelung der Angelegenheit auf später, da er sich mit dem Wunsche trug, die Vertretung ausländischer Häuser zu übernehmen, um sich so seinen Lebensunterhalt zu verdienen und die nötige freie Zeit zu haben, die er dazu verwenden wollte, die Zeitschrift "El Trabajo"**) von Sabadell zu reformieren und auf die Höhe der Pariser "Voix du Peuple" zu stellen, damit die spanischen Arbeitergewerkschaften zur Föderation schritten. Nichtsdestoweniger machte ihm mein Anerbieten große Freude und er versprach, vom ersten Januar ab alle Tage einige Stunden zu kommen, um sich in die Geschäftsführung der Druckabteilung einzuarbeiten.
Mit diesem Abkommen verabschiedeten wir uns. Während der Besuche, die er mir noch vor Jahresende machte, erzählte er mir, welchen Widerstand er bei seinem Vater getroffen habe, als er auf seinen Plan zu sprechen gekommen war. Der Vater drang in ihn, die Fabrik nicht zu verlassen oder doch wenigstens so lange zu bleiben, bis er sich so eingerichtet hätte, daß der Betrieb durch seinen Weggang keine Störung erlitte. Doch bemerkte Mateo, daß sein Vater nur eins damit bezwecke, ihm seinen Weggang überhaupt auszureden und Zeit zu gewinnen, wozu er sich jedoch niemals verstanden hätte, da sein Entschluß fest stand, sein Leben der Arbeiterklasse zu widmen und nicht deren Ausbeutung.
So kam der 2. Januar heran; ich rief den Kameraden Batlori, der die Drucksachenabteilung bearbeitete, teilte ihm mit, daß von nun ab Morral in die Verwaltung eintrete, und bat ihn, Morral in die Geschäftsführung einzuweihen. Die ersten Tage kam Morral nur zu den Poststunden, las die Korrespondenzen durch und erledigte die einlaufenden Bücherbestellungen. Dann fing er an, schon länger da zu bleiben, sah die Druckkorrekturen durch und übernahm endlich den ganzen Verkehr mit den Papierlieferanten und Druckern, die von der Escuela Moderna beschäftigt wurden. Er fand bald ein so lebhaftes Interesse an seiner neuen Beschäftigung und brachte mir eine so große Erleichterung, daß wir beschlossen, die Drucksachenabteilung ihm ganz zu übergeben. Zum 1. Juni sollte Inventur aufgenommen werden, Morral wollte den Wert der vorhandenen Drucksachen begleichen, um zukünftig ganz selbständig die wirtschaftliche Seite des Ganzen zu verwalten. Ich behielt mir jedoch das Recht vor, dem Schulzweck geeignete Bücher vorzuschlagen und gegen, ungeeignete Einspruch zu erheben.
Über die Zahlungsweise verloren wir kaum ein paar Worte, da wir seiner Ehrenhaftigkeit vollständiges Vertrauen entgegenbringen konnten und die Geldfrage für mich so lange es sich um Schulzwecke handelte keine Bedeutung hatte, da ich über die nötigen Mittel verfügte, um meiner Idee voll nachzugehen.
Mateo Moral war über alle Maßen zufrieden, als er nun tatsächlich Alleinverwalter der Drucksachenabteilung geworden war und auch die Direktion des "El Trabajo" in Sabadell so gut wie übernommen hatte; diese Zeitschrift wollte er zu einer wöchentlichen machen und ihr eine große Publizität geben, um dem Gedanken der Arbeiterassoziation und Bildung eine weite Verbreitung zu geben.
Mitte Mai teilte er mir mit, daß er sich etwas krank fühle und einige Tage Erholung nötig habe. Er sah auch in der Tat ermüdet und übernächtigt aus. Ich bestärkte ihn deshalb in seinem Entschluß und riet ihm, die laufenden Geschäfte dem Kameraden Bartlori zu übertragen. Er ging auch am 20. weg, mich im Glauben lassend, daß er vor Ende des Monats zurück sein würde. Er sagte mir nicht, wohin er fahre, doch wußte ich, daß ich nach Sabadell schreiben konnte, wenn ich ihn nötig gehabt hätte; da aber von ihm keine Briefe eintrafen, so erwartete ich ihn von Tag zu Tag wieder zurück. (...) (Hier folgt Ferrer's Abreise nach Frankreich und seine eilige Rückreise, als er vom Madrider Bombenattentat erfährt)
Weshalb ich so bestürzt war, als die Nachricht sich bestätigte, daß Morral die Bombe in der Calle Mayor geworfen habe? — Weil ich mich seiner als begeisterter Anhänger unserer Schulidee und als Verfechter des Assoziationsprinzips erinnerte, der seine Hoffnung auf die zielbewußte Bewegung großer Massen legte.
Vom Morgen bis zum Abend des 1. Juni grübelte ich darüber nach, wie ich dem Wesen Morrals nach die Tat begründen könnte, blieb jedoch immer im Dunkeln, denn ich mußte mich immer wieder seines Ausspruches erinnern, daß sich die Arbeiterklasse so lange nicht emanzipieren werde, bis sie sich durch geeigneten Unterricht zur Erkenntnis ihrer Kraft und Macht aufschwinge.
Er war Zeuge gewesen des Generalstreiks von Barcelona und Sabadell im Februar 1902. Damals waren die Arbeiter Herren der Stadt gewesen und hatten sich auf die Zertrümmerung von ein paar Klostereinrichtungen gelegt, während die Fabrikanten schon ihre letzte Stunde gekommen glaubten und jede Forderung bewilligt hätten, um ihr vermeintlich bedrohtes Leben zu retten, denn sie glanbten sich vor der sozialen Revolution zu sehen, umsomehr als das Militär auf dem Schauplatz nicht erschien. Dies ohnmächtige Vorgehen der Arbeiterschaft hatte Morral zu der Meinung gebracht, daß Generalstreiks so lange unnütz wären, bis sich die Arbeiterschaft revolutionär organisiert hat, um dann aber nicht den Achtstundentag, sondern eine Neuordnung der Gesellschaft zu erringen.
Ich erinnerte mich auch anderer Aussprüche von ihm, die alle darauf hinwiesen, daß er Anhänger des Organisationsprinzips war und nicht der sogenannten Propaganda durch die Tat.
Deshalb hatte er sich auch so lebhaft meiner Schule angenommen, daraufhin hatte er auch die Organisationspropaganda des "El Trabajo" gerichtet — was mochte nur der Grund zu seiner Bombentat gewesen sein?
Ein Fingerzeig blieb mir nur übrig, was ihn nach Madrid getrieben, was ihn dort bewegt haben konnte. Einige Tage vor seiner Abreise saß er in meinem Büro in der Lektüre des "El Liberal" vertieft, als er plötzlich auffuhr und mir ein Madrider Telegramm laut vorlas, das mitteilte, daß eine Marquise von Squilache 5.000 Pesetas für eine Sänfte anläßlich der am 31. Mai zur Königsvermählung stattfindenden Blumenspiele zahle.
Mit entrüstetem Blick und blaß vor Zorn rief er mir zu: "Ist so etwas möglich, wo Tausende von Arbeiter am Hungertuch nagen? Wie tief steht doch noch das Volk!" Zerknittert warf er die Zeitung auf den Tisch und ging weg.
Als ich am Abend des 1. Juni mich auf diese Begebenheit besann und dazu seiner stetigen Entrüstung über Luxusaufwand erinnerte, glaubte ich den Schlüssel zum Mysterium gefunden zu haben, wie ich es dem Untersuchungsrichter von Barcelona auch mitteilte.
Anmerkungen:
*) Moderne Schule
**) "Die Arbeit"
Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 10, April 1908. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat, Bureauraum zu Büroraum usw.) von www.anarchismus.at.