Moral und freiheitlicher Sozialismus
Die Tendenz der Evolutionstheorie, wie sie den menschlichen Gedanken durchdringt, ist es, Grenzlinien zu verwischen —: die alten Linien formaler Klassifikation. Heute stellen wir jene Tiere, die Hörner oder gespaltene Hufe haben, nicht mehr als eine besondere Klasse zur Seite, weil wir erkennen, dass fortlaufende Abstammung und enge Verwandtschaft Beziehungen zwischen ihnen herstellen, welche durch Hörner oder Hufe nicht festgelegt werden können. Und aus einem nicht ganz ungleichen Grunde besitzt der moderne Gedanke, basierend auf der Entwicklungstheorie, die Tendenz, die harten und festen Linien zwischen moralischem Recht und Unrecht zu verwischen; diese alte formale Klassifikation der ihrer Natur nach entweder guten oder schlechten Handlungen.
Gedanke und Religion des fernen Ostens, zum mindesten Indiens, verwischten diese Linien bereits längst. Ihre Philosophie war in der Tat basiert auf der Entwicklungstheorie — der fortlaufenden Entwicklung, der Emanation des Vielseitigen aus dem Einen. Darum konnte diese Auffassung nicht irgend eine Klasse von Wesen oder Geschöpfen als wesentlich schlecht, oder irgend eine Klasse von Handlungsweisen als wesentlich unrecht erachten, da ja alle einer gemeinschaftlichen Wurzel entsprangen. Das einzige wesentliche Übel war die Unwissenheit (avidya), somit die Tatsache, dass das Wesen oder Geschöpf seinen Ausfluss aus, seine Verwandtschaft mit dem All nicht wusste oder bemerkte; und freilich, eine jede Handlung, die vollbracht wurde unter dem Einflüsse dieser Avidya war, wenn äusserlich noch ganz korrekt, wesentlich unrecht. Während anderseits sämtliche Handlungen, welche von Wesen ausgeführt wurden, die sich derselben vollständig bewusst waren und ihren Zusammenhang mit dem einen universellen All begriffen, notwendigerweise richtig und recht waren.
Übermässig viele Beispiele von dieser Stellungnahme gegenüber Recht und Unrecht haben wir in den Büchern der Upanishad. (1) Die Wahl des Weges liegt nicht zwischen Gut und Böse, wie sich das Problem in dem bekannten Werk Bunyan's "Des Pilgers Fortschritt" darbietet, sondern es liegt höher und in einer jenseits beider gelegenen Region. "Durch den heiligen Ernst seiner Gedanken löscht ein Mensch alle seine Handlungen, ob gut oder schlecht, aus." (2) "Er kränkt sich nicht mit dem Gedanken: Weshalb tat ich nicht, was gut ist; weshalb tat ich, was schlecht ist?" (2) Ja, in der Tat, selbst alle Religionen — gerade durch den Umstand, dass sie Religionen — haben eine über der gebräuchlichen Moral gelegene Sphäre angedeutet, zu welcher ihre Anhänger emporstreben müssen und sollen.
Was anderes ist sonst St. Paul's wiederholte Mahnung, der Herrschaft der Sünde und des Gesetzes zu entfliehen, um einzutreten in die glorreiche Freiheit der Kinder Gottes? Und in allen Zeitaltern haben die grossen Mystiker — diejenigen, welche an dem Springquell der Entwicklung und des Ausganges standen — dasselbe gesehen und gesagt. So spricht Spinoza: "In Bezug auf Gut und Böse besagen diese Bezeichnungen an und für sich in allen Fragen nichts Positives; noch sind sie etwas anderes als Gedankenarten, Anschauungen, die wir durch die und aus den Vergleichen der einen Sache mit einer anderen bilden. Denn eine und dieselbe Sache mag zu gleicher Zeit beides, gut und böse, oder keines von beiden sein." (3)
Damit — durch diese so vieles enthaltenden Worte — gelangen wir tatsächlich zur Wurzel des Problems. Eine Sache, eine Handlungsweise mag gut oder schlecht genannt werden in Bezug auf einen gewissen Zweck oder Ziel; nicht aber an und für sich. Wein mag gut sein für die Steigerung der Soziabilität, jedoch schlecht für die menschliche Leber. Der Sabbath mag als eine wohltuende Einrichtung von einigen Gesichtspunkten aus erklärt werden, nicht von anderen. Eine skrupulöse Achtung vor dem Privateigentum kann gewiss eine Hilfe für das geregelte soziale Leben sein; doch auch die Praxis des Diebstahls — wie Plato sie befürwortete — mag recht nützlich sein, um die Gelüste des grössten Reichtums zu zügeln.
Vom Wein zu sagen, er sei seinem Wesen nach gut oder schlecht, ist offensichtlich absurd; ganz ebenso mit dem etwaigen Respekt vor Privateigentum und dem Sabbath. Alle diese Dinge sind gut unter bestimmten Umständen und für gewisse Zwecke, schlecht unter anderen Umständen oder für andere Zwecke. Allerdings geht es leider und gehört mit zur brutalen veräusserlichenden Geistestendenz der Menschen, das wirkliche materielle Ding — das eigentlich nur das Bewegungsmittel des Geistes sein sollte — festzulegen und ihm einen bestimmten Charakter, einen Kultus des Guten oder Bösen beizulegen. Der Sabbath hört auf, für den Menschen gemacht worden zu sein, der Mensch ist für den Sabbath gemacht. Gesetz, Gewohnheit, Pharisäertum und selbstische Rechthaberei kommen auf und usurpieren das Gebiet der Moral; und alle Geschichte der wilden und zivilisierten Nationen mit ihren endlosen Fetischen, ihrem Tabus, ihrem Aberglauben und den Zeremonien, Kastenbezeichnungen und kleinlichen Vorschriften und Eigentümeleien — einschliesslich des bitteren Zornes über jene und der Ersetzung all jener, die sich ihnen nicht beugen — sind nur ebenso viele Illustrationen zu diesem Prozesse.
Alle die Propheten und Heilande der Welt waren stets für den Geist, im Gegensatz zum Buchstaben; und die Lehren aller Religionen sind wieder ihrerseits buchstäblich ausgelegt und fossilisiert geworden! Vielleicht hat es nie einen grösseren Anti-Buchstabenmenschen als Jesus von Nazareth gegeben und doch, vielleicht ist keine Religion mehr eine Formelsache und Dogma geworden, als jene, die unter seinem Namen einherschreitet. Selbst seine Ratschläge der Mildtätigkeit und Liebe — die, man hätte es denken sollen, dieser Entwicklungsweise entgehen würden — selbst sie sind korrumpiert geworden zu blossen Moralvorschriften, wie jene der Widerstandslosigkeit und des philantropischen Altruismus es sind.
Es erscheint wirklich sehr merkwürdig, dass ein so grosser Mensch wie Tolstoi sich zu diesem Prozess hergab: zu der positiven Festlegung des ausgezeichneten Geistes des Christus — der, beiläufig bemerkt, Mensch genug war, um die Geldwechsler aus dem Tempel zu treiben — auf eine blosse Formel, wie jemand eine Schutzmarke auf eine etiquettierte Karte befestigen würde: "Du sollst keine Gewalt gebrauchen! Du sollst kernen Widerstand leisten!" (4)
Ununterbrochen sich an eine einzige Formel zu halten, bedeutet nur, dem Übel unter einer anderen Gestalt Eingang zu gewähren, gegen die die Formel sich nicht vorbereitet hatte; indem man den Prügel aufgibt, bedeutet das, seine Zuflucht, zu Vorwürfen und Sarkasmus als Selbstverteidigung zu nehmen, die grösseren Schmerz, eine tiefere Wunde, in manchen Fällen grössere Verletzungen verursachen mögen, als der Stock dies getan. Oder wenn man die Selbstverteidigung in irgend einer Form vollständig aufgibt, dann bedeutet dies nur, zu resignieren und seinen Platz in der Welt völlig zu verlassen.
Das Gleiche gilt von dem etwas flüssigen Altruismus, welcher seiner Zeit sehr befürwortet wurde als Verhaltungsmaxime. Denn es ist beständig eine notorische Erscheinung, dass die besonders altruistischen Leute gewöhnlich peinlich nüchtern und uninteressant sind, bei weitem weniger Leben und Anmut für ihre Umgebung bedeuten, als viele, die sich freimütig als egoistisch bekennen. Indem sie also auf diese Weise eine Altruismusformel befolgen, scheint es, dass sie gerade dasjenige Werk zertrümmern, dessen Schöpfung sie sich vornehmen; nämlich die Welt freudiger und heller zu machen!
Gegen diese Schwächen des Christentums bildete Friedrich Nietzsche eine gesunde Reaktion. Er war es, der darauf bestand, dass die Begriffe des Guten und Bösen auf ihren richtigen Gebrauch zurückgeführt werden sollten; als Beziehungsbegriffe. "Gut" — wofür? "Böse" — wofür? Doch seine Reaktion gegen einen kränkelnden Altruismus und gegen Widerstandslosigkeit führten ihn zu einem Abgrund in der entgegengesetzten Richtung, zur Errichtung der Gewaltanbetung als fast einer Formel. Du sollst Gewalt anwenden! Du sollst Widerstand leisten! Seine Verachtung für die Schwachen, Schwankenden, Kleingeistigen und Betrüger ist erfreulich und interessant und — wie ich konstatierte — gesund im Sinne der Auflehnung. Allein, man erhält durch Nietzsche keine sehr deutliche Vorstellung davon, wozu die Kraft, die er verherrlicht, ist; wohin sie uns geleiten wird. Seine blonden Bestien und lachenden Löwen mögen uns den Willen zur Macht darstellen, doch Nietzsche scheint es selbst gefühlt zu haben, dass diese letzteren allein nicht genügen, und so ging er weiter und gelangte zu seiner Entdeckung oder Erfindung des Übermenschen, d.h., eines kindlichen Wesens, das ohne Argumente etwas behauptet und erzeugt, vor welchem Einrichtungen und Gesellschaftsgebräuche sich auflösen, als wie ganz von selbst. Es war dies der Geisteswurf eines Genies; doch das (5) zugestanden, so verbleibt es doch immer noch zweifelhaft, was die Beziehungen solcher Übermenschen zu einander sein sollen und ob sie — wenn ihnen eine gemeinsame Auffassung der Lebensquelle mangelt — durch ihre Handlungen sich nicht gegenseitig aufheben und vernichten würden.
Augenscheinlich sah Nietzsche, dass es ein Leben gibt, eine Lebensinspiration jenseits von Gut und Böse. Doch aus irgend welchem Grunde — vielleicht teilweise wegen der natürlichen Schwierigkeiten, die der Gegenstand bietet; vielleicht auch, weil der Gedanke des Ostens nicht ganz dasjenige vertrat, was er ausdrücken wollte — konstatierte er das Problem niemals präzise und bestimmt, und seine Grundzüge des Uebermenschen bleiben ungenau und ungewiss, unbestimmt und verschieden ausgelegt durch Anhänger und Kritiker.
Die Frage erhebt sich: Wessen bedürfen wir? In dieser Hinsicht befinden wir uns heute in einer sehr zweifelhaften Lage. Die alten Moralkodexe liegen im Sterben; die zehn Gebote rufen nur eine sehr bedingte Zustimmung hervor; die christliche Religion als wirkliche Inspiration des praktischen Lebens und Gebahrens ist tot; die sozialen Konventionsgebräuche und die öffentliche Meinung verbleiben: schwach ihre Galle in Bewegung, versetzend und offiziös. Was sollen wir tun? Sollen wir die alten Kodexe zu neuem Leben erwecken, trotzdem wir zum grössten Teil aufgehört haben, an sie zu glauben, um bloss einen Kodex zu haben? Oder sollen wir sie endgültig fallen lassen?
Gewiss, wenn wir einmal das bestimmt haben, was der Endzweck oder das Leben des Menschen ist, dann können wir auch sagen, dass dasjenige, was für diesen Zweck gut, ist auch sonst endgültig "gut", was für diesen Zweck schlecht, ist auch sonst endgültig "schlecht". Die Philosophie des Ostens, deren Endzweck das Aufgehen des Menschen in Brahma ist, erklärt sämtliche Handlungen — selbst die heiligsten — für schlecht, die vom individuellen Selbst, losgelöst von Brahma, getan werden; sämtliche Aktionen als gut, die in einem Zustande des "Vidya" oder bewusster Vereinigung vollbracht werden. Hier aber entgehen diese Zustände, trotzdem ein endliches Gut und Böse — wie es im Vidya und Avidya besteht — zugestanden und anerkannt werden, dennoch irgend einer bestimmten äusserlichen Regel der Klassifizierung.
Gilbert Chesterton, ein englischer Schriftsteller und Journalist, behandelte vor kurzer Zeit dieses Problem im Laufe einer kritischen Besprechung des Oragé'schen Buches über Nietzsche, und er meinte, dieses ganze Gerede über "jenseits von Gut und Böse" sei Unsinn;(6) dass wir irgend einen moralischen Massstab haben müssten, schliesslich und endlich ein wie immer gearteter solcher Massstab, selbst der schlechteste, besser wäre als keiner. Jedermann kann bezeichnen, was er damit meint. Es ist im gewissen Sinne vollkommen wahr, dass das Geschirr, die Zügel und Scheuklappen einen grossen Teil der Welt auf dem alten, ausgetretenen Pfad erhalten, sie vor dem Abgrund bewahren und dass man stets Leute finden würde, die, statt lieber ihre höheren Eigenschaften zu gebrauchen, diesen äusserlichen Führern ihr Vertrauen schenken. Doch eine solche Erlösung durch Scheuklappen noch zu ermutigen — scheint mir das gerade Gegenteil von dem zu sein, was man tun sollte. Wer könnte wirklich die Frage stellen, ob eine Erlösung durch solche Mittel überhaupt eine Erlösung ist — ob der Abgrund des Nichts nicht weit besser wäre?
Ausserdem: was können wir tun? Es ist nicht so sehr, dass wir mit Vorbedacht die bestehenden Sittenlehren verlassen, als dass sie uns verlassen! Mit dem stufenweisen Einsickern neuer Ideen, des östlichen Gedankens, der darwinistischen Philosophie, von Gebräuchen und Glaubensbekenntnissen von Rassen, die anders sind als die unserige, ist es nicht schwierig zu sehen, dass in noch einer kurzen Weile es unmöglich sein wird, irgend einen der alten Moralkodexe zu rehabilitieren, ihnen eine Heiligsprechung oder auch nur das Gefühl der Ehrfurcht in der öffentlichen Meinung zu verleihen. Sollten wir mit Herrn Chesterton darin erfolgreich sein, das Alte für kurze Zeit aufzublähen — nun, es wäre nur für eine kurze Zeit.
Die Frage ist: ob nicht wirklich die Zeit gekommen, da wir uns erheben sollen, als vernünftige Männer und Frauen, um zu leben ohne Vorschriften; ob wir uns nicht endlich selbst vertrauen können, die Scheuklappen von uns werfen sollen?! Das Problem ist: ob wir nicht jenes solide und zentrale Leben verwirklichen können, das allen Gesetzen als Grundton dient, sie aber übersteigt? Denn wahrlich, wenn wir das nicht können, ist unsere Lage eine bemitleidenswürdige; dann haben wir aufgehört, an den Buchstaben der Moral zu glauben, sind aber dennoch unfähig, ihren Geist zu finden!!
Hier ist es somit, wo die neue Moral auftritt, wie sie mehr oder minder klar verstanden und ausgedrückt wird von den fortschrittlichen Gruppierungen unseres Tages. Der moderne freiheitliche Sozialismus, indem er in seiner Konsequenz eine der Philosophie des Ostens etwas ähnliche Stellung einnimmt, sagt: In ihrem Wesen ist die Moral kein Kodex, sondern einfach die Verwirklichung des gemeinschaftlichen Lebens; und das ist eine Sache, die nicht fremdartig und befremdend für die Menschheit, sondern ihr sehr fruchtbar und natürlich ist: — eine Sache, die so natürlich ist dass sie ohne alle Fragen weit mehr zu Tage träte, als es der Fall, wenn nicht die Einrichtungen und Lehren der westlichen Zivilisation die Tendenz besässen, sie unaufhörlich zu verleugnen und zu entstellen. Diesen Instinkt gemeinschaftlichen Lebens zu befreien, von harten und ihn verkrüppelnden Gesetzen freizulösen, ihn seine eigene Form oder verschiedenartige Formen nehmen zu lassen — beruhend auf und natürlich variiert durch das persönliche und selektive Element der Zuneigung und Sympathie — das ist die grosse Hoffnung, welche heute vor der Welt liegt, der Lösung aller moralischen und sozialen Probleme harrt.
Je mehr diese Position überdacht wird,desto mehr, so glaube ich, wird sie sich selbst befürworten. Der Begriff des Gemeinschaftslebens, des Gemeinwohles, des Menschheitsinstinktes, der allgemeinen Hilfsbereitschaft sind Dinge, welche nach allen Richtungen, durch jede Fiber des individuellen und sozialen Lebens laufen — ganz wie sie es auch tun im Falle sonstiger fleischfressender Tiere. Auf tausenderlei Arten: durch Vererbung und den Umstand, dass das Blut gemeinsamer Vorfahren in unseren Adern kreist, mögen wir auch Fremde sein, die auf der Strasse an einander vorbeigehen; durch die Psychologie, die Aehnlichkeit der Struktur und Ganglinien unseres Gehirns; durch soziale Vergliederungen, die Notwendigkeit eines jeden und aller, die ökonomische Wohlfahrt der anderen zu fördern; durch persönliche Zuneigung und die Bande des Herzens; wie auch durch jenes mystische und religiöse Element, welches, tief untertauchend unter das rein Persönliche, den unendlichen Strom ewigen Seins begreift —: auf solche und auch andere Weisen zwingt uns das Gemeinschaftsleben, es als Tatsache anzuerkennen; vielleicht als die fundamentalste Tatsache unserer Existenz.
Diese einfache fundamentale Tatsache, alle ihr entfliessenden Konsequenzen jedem Kinde zu zeigen, zu lehren — nicht nur als Theorie, sondern als praktische Gewohnheit und Inspiration des Gebahrens — ist nicht wirklich schwierig, vielmehr leicht. Kinder, in deren Wesenheiten diese Begriffe eingewoben werden, wachsen heran in ihrem Geiste und seiner praktischen Gewohnheitsbetätigung und besitzen solchermassen die Inspiration all dessen, was wir Moral nennen;, und das weitwirksamer, als es sich durch ungleiche Grundsätze aus Schreibheften erreichen lässt. Achtung vor Wahrheit, liebreiches Verhalten gegenüber Eltern und Alten, Achtung vor vernünftigen Eigentumsstücken, vor Würden, Bequemlichkeiten anderer, wie auch gegenüber den eigenen Bedürfnissen und Würden, werden vollkommen natürlich und gewohnheitsgemäss. Und dass dies nicht etwa eine blosse Hypothese ist, das beweist uns das neuliche Beispiel Japans, woselbst alle die Kleinen so sehr vollgetränkt von dem Gefühl der Gemeinschaft werden, dass es als ein Privilegium betrachtet wird, sein Leben für sein Vaterland hingeben zu können.(7) Ich behaupte, dass die allgemeinen Grundlinien der Moral gesichert und weit gesicherter sein würden, als sie es gegenwärtig sind, könnten wir unsere Kinder nur in einer solchen erziehlichen und praktischen Atmosphäre der Solidarität aufbringen, die der freiheitliche Sozialismus und die ökonomische Bewegung der Zeit überhaupt verlangen.
Auf solcher Grundbasis würden, wie ich schon bemerkte, die persönliche Zuneigung und Sympathie einen eigenen Überbau ganz eigener Art errichten. Sie würden die Grundzüge einer weit schöneren, kraftvolleren und intimer verbundenen Gesellschaft entwerfen, als es die gegenwärtige, auf geschäftlichen Barzahlungen begründete ist; ähnlich wie, sagen wir, die athenische Gesellschaft des Periklesschen Zeitalters jener von Lapithae, der zuerst das Pferd zähmte, überlegen war.
Während das allgemeine Leben: gleichartig, allesumfassend, in gewissem Sinne nicht unterschiedlich, eine grosse Sache ist, die anerkannt werden muss, ist auch die persönliche Liebe und Zuneigung: wählend, selektiv, jenem Leben Grundzug und Form bietend — gleichfalls eine ebenso unleugbare, ebenso heilige Tatsache; eine, welche vereint mit der anderen akzeptiert werden muss.
Ich sage ebenso heilig. Denn es gab eine Tendenz, — unzweifelhaft erfolgend durch gewisse Ursachen — die auf persönliche Gefühle in ihren verschiedenartigen Formen, von flüchtiger Sympathiezuneigung bis zu den stärksten Leidenschaftsmächten, als auf zweifelhafte Charakteristiken blickte, die im günstigsten Fall eine liebenswürdige Schwäche wären, die man jedoch nicht zu ermutigen brauche. In einer seiner Schriften stellt uns Tolstoi den Fall eines kleinen Haushaltes während einer Hungersnot dar, der nicht genügend Brot besitzt, um seinen eigenen Bedürfnissen genügen zu können. Da kommt ein fremdes Kind an die Tür und bittet um Brot. Tolstoi suggeriert uns nun, dass die Mütter die spärliche Kruste von ihrem Kinde nehmen sollte, um damit das fremde Kind zu nähren, oder wenigstens das Brot Zwischen beiden Kindern zu gleichen Teilen zu verteilen. Allein solch eine Folgerung erscheint mir als sehr zweifelhaft.
Was immer das Wörtlein "sollte" in Verbindung mit einer solchen Situation bedeuten möge, jedenfalls wissen wir es ziemlich genau, dass solches niemals die Handlungsweise des menschlichen Lebens sein wird; wir könnten fast sagen: sein kann. Vielleicht wären wir gleichmässig berechtigt zu sagen: niemals sein "sollte"!: Denn es ist handgreiflich, dass es Vorzugserteilungen, Selektionen geben muss. Unsere Zuneigungen, Anziehungskräfte, Sympathien und Leidenschaften sind uns doch nicht gegeben für nichts und ohne Zwecke. Es ist nicht ohne bestimmten Zweck, dass jede individuelle Person, jeder Bäum, jedes Tier eine Form, eine ganz besondere eigene Form besitzt. Wäre es nicht so, dann wäre die Welt unendlich, unbegreiflich öde. Und doch, zu verlangen, dass eine Mutter in allen Fällen fremde Kinder behandeln soll, wie ihre eigenen, dass ein Mensch aus der ozeangleichen Menge keinen besonderen bevorzugten Freund sich heraussuchen dürfen, sondern alle gleichmässig lieben sollte, ist gleichbedeutend damit, zu verlangen, dass alle diese Leute in ihrer geistigen und moralischen Art werden sollten wie eine Molluskenmasse: — ohne bestimmte Form oder Zufriedenheit, weder mit sich noch mit irgend einem anderen. Tiefsinnig und unerlässlich, wie das Gesetz der Gleichheit allen menschlichen Lebens ist, also das Gesetz, dass es für alle menschlichen Wesen irgend ein Gebiet gibt, auf dem sie sich in ihrem gleichen und gemeinschaftlichen Leben berühren, so ist auch das andere Gesetz, jenes der individuellen Auswahl, unerlässlich. Versuchten wir es, alles auf das Niveau eines einzigen Motives des Allgemeininteresses herabzumindern, wir würden vielleicht eine vollkommene Moral erhalten; doch wäre es eine Moral, die hölzern, hart und öde, ohne Form und Züge. Versuchten wir nun diesen Standpunkt aufzugeben und uns dem andern zuzuwenden, eine Gesellschaft nur auf der Grundlage individueller Affektion und Liebe, individueller Initiative, ohne Moral zu begründen — und wir würden eine fluchtartige, unbeständige Sache erhalten, ohne Beständigkeit oder Rückgrat.
Meine Behauptung ist somit, dass unsere Hoffnung auf die Zukunft sich auf die Verkörperung dieser zwei grossen Prinzipien gründet: Erstens auf die Anerkennung des Gemeinschaftslebens, das die Grundelemente einer allgemeinen Moralität vorsieht; zweitens auf die Anerkennung individueller Affektion und ihres Ausdrucks — in einem viel höheren Grade als bislang — die die höhere Gruppierung und feineren Strukturformen des Lebens aufbauen werden. Und insofern, als die erste Grundlage uns mit einem solideren Moralfundament vorsieht, als wir es bislang belassen, wird es a,uch möglich sein, derem zweiten Grundprinzip eine Aktinisweite und Freiheit zu bieten, wie sie bislang weder versucht wurden noch ihnen Vertrauen entgegengebracht ward. Gemeinsam mit der Stärkung, dieser Solidaritäts- und Affektionsprinzipien des Gesellschaftslebens muss selbstredend die Stärkung der Individualität erfolgen: das Recht und der Wunsch eines jeden Individuums seine eigene, ihm eigentümliche Gestalt oder Form zu bewahren und zu entwickeln, auf diese Weise beizutragen zum Reichtum und dem Interessanten der Gesellschaft; und dies involviert das Recht des Widerstandes und (noch einmal) die Schiebung der Widerstandslosigkeitsformel in den Hintergrund, als einer sehr schleimigschlüpfrigen Moral.
Immerhin führen uns diese Erwägungen allzuweit hinweg von dem besonderen Gegenstand unserer Betrachtung. Ich führe sie hauptsächlich deshalb an, um zu zeigen, dass während wir die Moral als Grundelement der Gesellschaft betrachten, wir niemals das Moment aus dem Auge verlieren sollen, dass sie nicht das einzige Element und dass sie, die Moral, verhältnismässig sinnlos und zwecklos sein würde, wollte man sie nicht anpassen, paaren und vervollkommnen mittels der übrigen Gesellschaftselemente.
Es wird somit die Methode der neuen Moral sein, sämtliche Formeln zu verwerfen — sie höchstens als Illustrationsbilder zu verwerten — die Kinder — indirekt alle Erwachsenen — zu erziehen in solchen Verhältnissen übeffliessenden Lebens und der Gesundheit, dass ihre Sympathien — natürlich überquellend für diejenigen um sie herum — sie veranlassen werden, auf die dringendste Art sich als organischen Teil eines grossen Ganzen der Gesellschaft zu betrachten. Und dies nicht so sehr als intellektuelle Theorie, mehr als gebieterische Bewusstseinsfülle und fundamentale Tatsache ihrer ganzen Existenz.
Dies sollen wir als die Basis unserer Lehren nehmen! Machen wir es ihnen begreiflich — durch alle Arten von Gewohnheit und Beispiel — dass andere zu verletzen oder zu betrügen, sich selbst zu verletzen bedeutet; dass anderen zu helfen, in irgend einer Weise unser inneres Leben befriedigt und befestigt. Lassen wir sie lernen, während sie aufwachsen, alle menschlichen Wesen, ganz einerlei welcher Rasse oder Klasse, als Zwecke in und für sich selbst zu betrachten, sie nie zu werten als blosse Dinge oder leiblich geeignete Wesen, die man gebrauchen kann für eigennützige Zwecke. Mögen sie lernen, gleicherweise auf Tiere zu blicken, als auf Wesen, die ebenfalls die grosse Leiter der Schöpfung emporklimmen, Wesen, mit denen wir Menschen auch Gemeinschaftliches an Geist und Interesse besitzen. Und lassen wir sie lernen, sich selbst als wertvolle und unentbehrliche Mitglieder des grossen sozialen Körpers zu betrachten. Auf diese Art wird eine wahre Moral sich etablieren; eine Moral, die bei weitem aufspürender, andere bedenkend, anschmiegungsfähiger und echter ist, als jene des heutigen Tages, eine Moral des gesunden Menschenverstandes, können wir sagen; aber auch eine Moral ohne Moralkodex, ohne bestimmte und begrenzte Formeln. (8)
Und sollte es abermals gesagt werden, dass eine Moral dieser Art, welche nur auf einem Prinzip, und einer geistigen Haltung beruht, eine Gefahr sei, dann wollen wir einhalten für einen Moment und betrachten, um wie viel gefährlicher eine Moral ist, die auf Formeln beruht und von ihnen abhängen soll. Wenn die Moral ohne Vorschriften eine ernste Sache, um wie viel ernster ist eine solche, die zugenagelt ist in und von den Vorschriften? Denn wenn wir zurück auf die Lehren der Geschichte blicken, dann würde es manchmal scheinen, als ob die "schwarz und weiss", die "dieses Ding ist gut, jenes schlecht"-Moral die schrecklichste Sache der Welt gewesen wäre. Diese Moral war eine Entschuldigung für alle teuflischen Taten und nur ausdenkbaren Verfolgungen. Eine Moral über den Sabbathtag eine Formel über Hexerei, eine Formel über die Ehe — ganz ungeachtet der wirklichen menschlichen Beziehungen — eine Formet über den Diebstahl — ganz ungeachtet der dringenden Dürftigkeit des Diebes — und über das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen; Hängen, Torturen ohne Gnade! Das Schreckliche dieser Recht- oder Unrechtsmoral ist nicht nur, dass sie zu solch schrecklichen Rachetaten greift, sondern dass sie sowohl dem Opfer als auch Bedrücker die unleidige Ansicht einprägt, dass eine gewisse Sache recht oder unrecht sei, und was man tun müsse, darin bestehe, sich selbst zu retten — zwei Ansichten, die beide durch und durch direkt gegen, jede wahre Moral sind.
Angenommen, ein Knabe spricht eine Lüge; vielleicht aus Furcht, vielleicht aus Unachtsamkeit. Er hat eine Formel gebrochen, übertreten und wird dafür sofort geprügelt. Die Moral: er wird sich später an wörtliche Wahrheit halten; wird, wie gemein und schädlich dasselbe auch sein möge, pharisäisch selbstzufrieden sein. Nie aber wird er begreifen lernen, dass die Wichtigkeit von Wahrheit oder Lügen nicht in Worten gelegen, sondern im Vertrauen und Gegenseitigkeitsglauben, die sie entweder erzeugen oder vernichten.
Die ganz eigenartig englische Verehrung der Pflicht öffnet sich hier dem gleichen Einwurf und Vorwurf ... So prächtig der Begriff und die Praxis der Pflicht als eine sich selbst anpassende Inspiration, des Enthusiasmus ist, eine so empörende Sache wird sie, wenn sie die allzu gemeingebräuchliche Form annimmt: "Ich habe meine Pflicht getan, ich habe recht gehandelt!" "Ich werde meine Pflicht tun, was immer aus Dir auch werden mag." Kann man sich irgend etwas Zersetzenderes für die Gesellschaft vorstellen, etwas Sichereres, um sie aufzubrechen in einen Staubhaufen von selbstgefälligen Einheiten, als eine Formel dieser Art? "Es ist meine schmerzliche Pflicht, Sie zum Tod durch den Strang zu verurteilen!" sagt der Richter zu dem erbarmungswürdigen Mädchen, das in einem Wahnsinnsausbruch der Verzweiflung ihren Säugling ertränkte.
Was er damit wirklich gemeint, ist, dass, während er die Ungeheuerlichkeit des Gesetzes, nach welchem Recht zu sprechen er geschworen hat, vollkommen erkennt, auch weiss, welche seelentötende Wirkung sein Urteilsspruch auf das Mädchen haben kann, er denselben dennoch fällt, um sich zu retten vor der Gefahr, oder dem Unrecht, das im Gesetzesbruch gelegen sein mag; darum ist er willenlos und bereit, seinen Urteilsspruch zu verkünden. "Es ist meine Pflicht, Dich auf dem "Scheiterhaufen zu verbrennen!" sagte der Inquisitor zu dem Ketzer; in Wahrheit ist der Hintergedanke der: "Ich fürchte, dass, wenn ich Dich nicht verbrenne, ich selbst im Jenseits schmoren werde!" —
Je bälder wir dieser Sorte Moral ein Ende machen, desto besser; dieser Moral, die unter dem Mantel der öffentlichen Wohlfahrt oder des Urteiles nur an ihre eigene Selbstbeförderung, an ihr Selbstinteresse denkt, entweder für diese oder für die nächste Welt, und die in Wirklichkeit gar nicht darauf abzielt, die menschliche Solidarität zu fördern, sondern sie zu zerstören. Sie läuft und sickert durch unsere ganze moderne Gesellschaft, vergiftet die Quellen der Gefühle; sie, diese Moral, die, ihren Hausbedienten deren regulären Lohn zahlend, mit sich ganz selbstgefällig zufrieden ist und nun von ihnen ihrerseits erwartet, dass sie ihre Pflicht erfüllen würden. Die sich aber ausschweigt über die wahren Bedürfnisse und den Wohlstand dieser Diener. Die Moral, die ihre Lohnarbeiter wie blosse Maschinen zur Auspressung von Profiten behandelt, jedoch ihre Augenbrauen verwundert, überrascht hebt, wenn sie sich aufbäumen gegenüber solcher Behandlung. Die Moral, die den Verbrecher nur als Person betrachten kann, die eine Formel brach und deshalb, zurückschlagend, wieder laut einer Formel bestraft werden muss; ein Schwein als ein Tier, dem man einen Trog mit Frass vorstellte, wofür man berechtigt ist, es später aufzuessen.
Diese Moral ist pharisäisch, selbstbewusst und selbstsüchtig, materialistisch bis zum letzten Grade und wirklich unsinnig in all ihren Ausblicken; diese landläufige Moral ist in der Tat und im ernstesten Sinne: eine öffentliche Gefahr ...
Halte Dich innerhalb der geschriebenen Vorschriften, innerhalb der Buchstaben. Sprich stets die nominelle Wahrheit, wer immer auch darunter leiden möge. Halte die allgemein anerkannte Norm der Eheschliessung und der Geschlechtsbeziehungen aufrecht; trotzdem Herzen verbluten und untergehen mögen. Entrichte dem Eigentumsprinzip jeden Tribut usw. und Du magst die Befriedigung gemessen, als Stütze der Gesellschaft hingestellt zu werden. Obwohl es deshalb gar nicht weniger wahrscheinlich sein mag, dass Du das Gesellschaftsleben unterminierst und bis an die Wurzel korrumpierst. Dein Ausblick hat nur mit der Oberfläche etwas zu tun, dieweil Du ein tiefgefressenes Uebel übergehst.
Allerdings ist unsere, die neue Mofal — also der Blick auf das Innere; sich zu fühlen und sich zu beziehen auf die Bedürfnisse anderer fast ebenso instinktiv als wie zu seinen eigenen; sich zu weigern, irgend eine Sache an und für sich als gut oder schlecht zu betrachten; auf alle Wesen, sich selbst eingeschlossen, als auf Endzwecke für sich selbst zu schauen, nicht als Mittel zu Gunsten persönlicher Selbstbeförderung und Verherrlichung — während sie die natürlichere ist, im gewissen Sinne auch die schwierigere, da sie keine bestimmten Musterzeichnungen oder Gesetze vorsieht. Aber gewiss — die Zeit ist gekommen für ihre Annahme! Sie ist die Moral, die die Grundlage der feineren variierten Form der Zukunftsgesellschaft bilden muss; sie ist die einzige Flucht aus der Korruption der alten Ordnung.
Um besondere Beispiele zu nehmen! Die Wahrheit in Wort oder Tat ist — wir alle fühlen dies — sehr richtig und fundamental. Sie ist die Grundlage der gemeinsamen Verständigung, von der ich sprach, des Ausdruckes jeder Persönlichkeit und der Anerkennung anderer. Ein jeder, der von dem Bewusstsein des Gemeinschaftslebens tiefinnerst durchdrungen, wird notwendigerweise tiefe Achtung vor der Wahrheit hegen. Er wird gleichfalls Achtung hegen vor Leben, Eigentum, einem guten Namen, den Gefühlszartheiten usw., von anderen, wie für seine eigenen, ähnlichen Eigenschaften. Er wird nicht im Stande sein, im Sinne einer Formel zu sagen: Niemals werde ich andere betrügen oder eine Lüge sprechen; niemals werde ich das Leben eines andern Menschen oder Tieres nehmen usw. Denn er weiss, dass es Situationen gibt, in denen dieses Leben in ihm aufsteigen, er sich in absoluter Notwendigkeit befinden mag, dem Rufe nach solchen Aktionen Folge zu leisten, sie ihn zwingen werden zur Ausführung derselben. Immerhin wird er im gewöhnlichen Leben all das Ganze des Prinzips erfüllen, das dieser Formel unterliegt und wahrscheinlich weit gründlicher, als die Formeln selbst es beanspruchen.
Es ist ähnlich in solchen Dingen wie geschlechtlicher Moral. Man hört oft Ausbrüche der öffentlichen Meinung wider Darstellungen des Nackten — augenscheinlich, weil die Leute es befürchten, dass diese Dinge ihre Leidenschaften erwecken konnten! Ohne Zweifel, diese Sache mag auch in dieser Richtung wirken. Aber weshalb, so fragen wir, warum sollten Menschen sich davor entsetzen, Leidenschaften zu erwecken, die, alles in allem, die grossen Triebkräfte des menschlichen Lebens sind? Klar genug, es ist, weil sie der Meinung sind, dass die anderen Kräfte, die diese Leidenschaften geleiten, oder ihnen eine hilfreiche und nützliche Richtung bieten sollten, für diese Aufgabe zu schwach sind. In dieser letzteren Hinsicht sind sie ja im Rechte. Die führenden und verbietenden Mächte unserer Gegenwartsgesellschaft sind schwächlich, weil sie nur aus wenigen konventionellen, Formeln bestehen, die schnellstens unterminiert werden. Wir lassen Dampf in einem Kessel aufsteigen, der schon lange durch Rost, geborsten ist. Die Heilung dieser Krankheit liegt nicht darin, den Leidenschaften zu wehren, oder sie in schwächlicher Weise zu fürchten, sondern darin: neue, gesunde Bewegungshebel der allgemeinen Moral und des gesunden Menschenverstandes zu finden, innerhalb welchen diese Leidenschaften sich betätigen können. Und das ist es, was der freiheitliche Sozialismus wirklich erstrebt.
Diese Moralität, diese organische, vitale, fast physiologische Moral des Gemeinschaftslebens — die eine rasche Beantwortung der Bedürfnisse eines Jeden im Verhältnis zu den Bedürfnissen der anderen Einzelnen, so ziemlich für den politisch-sozialen Körper wie für den physischen Körper bedeutet — muss all den Assoziationen gesellschaftlichen Lebens der Zukunft zu Grunde liegen und ihre Basis sein. Einmal in solcher Gestalt etabliert, wird es, wie ich bereits sagte, nicht nur möglich sein, überall um uns herum einen stärkeren Ausdruck der Individualität erstehen, sondern auch ein höheres und variativeres, dankerfüllteres Leben für persönliche Gefühlselemente erstehen zu lassen, das heute, allerdings, wie ein verwundeter und deshalb toter Organismus daliegt. Die Etablierung dieser Moral wird, dies ist meine Meinung, das Heraufsteigen einer Gesellschaftsordnung bedeuten, die die persönlichen Affekte und die Liebe befreit; die Kräfte befreien wird, die bislang künstlich verkrüppelt wurden, da ihre Befreiung unsere landläufige Moral von Formelkram in Fetzen gerissen hätte. Sie bedeutet, so glaube ich, das Emporsteigen einer Gesellschaft, deren Hauptmotiv nicht länger der Kampf ums Brot — da dieser ausgeschieden ist durch die enorme Entwicklung unserer Reichtum erzeugenden Mächte — sondern der Wunsch der Zufriedenstellung des Herzens sein wird; also, ohne Zweifel, neue und unvorhergesehene Schwierigkeiten und Leiden verbreitend, dennoch das Leben erfüllend mit solch schönen Elementen, dass die Triebkräfte der Geldgier und des sogenannten Gelderwerbes, die heute die Welt belasten, nur noch wie ein böser Nachttraum der Vergangenheit sein werden, von dem die Dämmerung des Morgens uns erlöste.
Anmerkungen:
1) Maitrayana-Brahmana-Upanishad, VI. 34, 4.
2) Taittiriyaka-Up. II. 9, usw.
3) Spinoza's Ethik, IV. Teil.
4) Wir müssen hier auf einen gebräuchlichen und weit verbreiteten Irrtum aufmerksam machen, dem, wie es scheint, auch ein so illustrer Kopf wie Carpenter verfällt. Aus diesem geht deutlich hervor, dass letzterer sich gegen Tolstoi's angebliche Widerstandslosigkeit kehrt. Nun ist es
aber eine Tatsache, dass es irrtümlich ist, Tolstoi eine solche nachzusagen, denn dieser hat dies nie vertreten, wenigstens seit den letzten zwei Jahrzehnten nicht. Tolstoi's taktischer Standpunkt ist nicht jener der Widerstandslosigkeit, sondern des passiven Widerstandes. Dies ist ein ganz eminenter Unterschied, der leider in der Hitze der Diskussion häufig übersehen wird. — Die Red.
5) Man erinnere sich, dass Nietzsche uns drei Verwandlungsstufen des Geistes zeigt: erstens das Kameel, zweitens den Löwen, drittens das Kind. Der Übermensch stimmt in seinen Eigenarten mit dem letzteren überein.
6) Daily News, 29. Dezember 1906
7) Viele Japaner verübten Selbstmord, weil man es ihnen nicht gestattete, an dem russischen Kriege teilzunehmen. Vgl. auch Lafcadio Hearn's Beschreibung der gewohnheitsmässigen Würde und Höflichkeit des japanischen Jünglings. (Life and Letters, Bd. 1, Seite 112, 113)
8) Man mag diese Moral wirklich in vielem identisch finden mit jener von Christus. Und doch, bemerkenswert genug, wurde sie niemals ernsthaft angenommen von irgend einer Kirche. Und was gar die Achtung vor Tieren als Endzwecke an und für sich anbetrifft, so verwirft, wie ich glaube, die römisch-katholische Kirche diese Anschauung ganz ausdrücklich.
Aus: "The Albany Review", Sept. 1907
Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 6-8, Februar 1908. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.