Julius Skall - Philosophische Grundprinzipien des Anarchismus

Die große Grundfrage aller, speziell der neueren wissenschaftlichen und praktischen Forschung über das Gesellschaftsleben ist die nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Je nachdem diese Frage auf die eine oder die andere Weise beantwortet wird, spalten sich die Gelehrten und ihre Anhänger in verschiedene Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Individuums hervorheben und in letzter Instanz jede Form der Regierung über das einzelne Wesen energisch ablehnen, bilden das Lager der Anarchisten.

Um ins Wesen des Anarchismus einzudringen, seinen Inhalt begrifflich zu bestimmen, haben wir vorerst die Individualitätsfrage genauer zu betrachten. Es ist bekannt, wie sehr es an einer tieferen Einsicht zur Lösung dieses Kardinalproblems fehlt. Das menschliche Bewußtsein stellt im Leben des Menschen einen funktionellen Widerspruch dar und unterscheidet seine eigene geistige Existenz von jener der Leiblichkeit. Nun sind die Philosophen bis zum heutigen Tage außerstande, nachzuweisen, wie es möglich sei, die Realität beider Lebensphären einheitlich ins Auge zu fassen und sind dadurch in Verirrungen des richtigen Gedankens total versunken, ja schweben im Äther der phantastischen Ideen.

Was den größten bekannten Geistern fehlt, ist das absolute Erkennen, das Begreifen der Individualität, wie sie vom Menschen vertreten wird. Hypothesen und Hirngespinste werden erfunden, aus welchen zur Evidenz der Sache nichts hervorgeht. Es wird die Denktätigkeit als ein unendliches Wesen oder Phantom verstanden, wo doch diese Funktion das Allerrealste bedeutet, denn was die Größe dieser Tätigkeit ausmacht, ist ja das Positive ihrer Gesetzmäßigkeit. Dies Leben aber ist hier in individueller Form der Grenzenge: das geistig denkende Ich selbst. Wenn sich dies nun so verhält, so ist ohne weiteres einzusehen, daß der Individualcharakter zunächst mit der individuellen Beschaffenheit des Gehirnes, mit den von äußeren Verhältnissen bedingten Eindrücken organisch zusammenhängt, der Mensch mithin ein Wesen aus einem Guße darstellt.

Aus dieser Betrachtung geht ferner hervor, daß der Mensch auch auf sozialem Gebiete nach kultureller und ökonomischer Freiheit strebt. Auf den ersten Blick erscheint es sonderbar, daß wir das soziale Problem in engste Verbindung mit der Ich frage bringen. Bedenkt man aber, wie die Menschen bis zur Entdeckung des Gesetzes der Selbstentwicklung in der Gesellschaft lebten, andererseits den Umstand, daß Mechanik und Technik in erster Linie nach dem Stande der Mathematik sich gestalten, so begreift man, wieso eine funktionelle Beziehung zwischen dem theoretischen und praktischen Leben möglich ist.

Innerhalb der modernen Gesellschaft herrscht eine Minderheit über das Volk der Arbeiter, das in ewiger Not, Sklaverei und Verachtung seitens der Regierung und allen übrigen Machtsphären Kleidung, Nahrung und sämliche Waren, wovon die Menschen leben, produziert. Dieses kommt daher, daß, so lange der Mensch sich selbst als ein atomartiges, zusammengeschrumpftes Wesen schaut, er unter allen Umständen als den Endzweck seines Lebens die relative materielle Glückseligkeit und das sinnlich-persönliche Wohlleben betrachtet, ohne den sonderbaren Umstand zu bemerken, daß sein Wohl von anderen Persönlichkeiten abhängig ist, die aber genau dieselbe Ansicht vom Menschenleben haben und den ganzen Lebensprozess genau so sinnlos auffassen, wie er. Das ist nun der Grund für die Tatsache, daß es Menschen gibt, die sich für berufen halten, über andere Wesen zu regieren und sie im allerrohesten Kampfe mit Arbeitslasten zu überbürden. Dies ist einzig und allein die eitle Selbstbespiegelung der inneren Bewußtseinsentwicklung des Menschen und wie viel wir auch sinnen und grübeln, ist dieser von uns bisher apriori erkannte Kampf um die Macht, kein zufälliger, oder eine aus der Unnatur des Menschen folgende und auf immer feststehende Eigenschaft, sondern ein notwendiges Resultats einer Denkart, die hier nicht mehr menschlich, sondern das Tierische des Raubtieres verkörpert.

Wir haben gesehen, daß die Individualität oder die Vernunft das einzige ist, was wir unmittelbar kennen. Das Erkennen der Vernunft ist das Gesetz, nachdem das Leben innerlich und äußerlich sich vollzieht. So erscheint der Vernunftprozeß als ein fortschreitender Progreß, der alle lebenden Menschen verbindet. Für diejenigen, welche den Begriff der Entwicklung des Weltalls in ihrem Selbst erfaßt haben, kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Menschen einer so hohen Steigerung des Selbstbewußtseins fähig sind und all das soziale Übel unter bestimmten Voraussetzungen überwinden können, aus welchem die individuelle Willensvereinigung, die Hoffnungslosigkeit, die Halbschatten der Unsittlichkeit hervorgehen.

Hier sind wir auf den Punkt gelangt, wo der Anarchismus ein historisches Element gewinnt, welches die Basis seines Bestehens und Entwickeins bilden kann. Die Konsequenz der universalen Betrachtung der Individualität ist zunächst die, daß wir den Nebel der alten Kultur: Die Gesamtheit menschlicher Lebensverhältnisse, vor der Sonne der Passivität aufgehen und ein neues geistiges Leben in seinen wesentlichen Zügen zur Gestaltung gelangen lassen..

Und in der Tat zielt die Kulturbewegung des Anarchismus der neueren Zeit darauf hin, alle fixen Ideen der Göttlichkeit und Despotie abzuschaffen, jede Form der heute bestehenden juridischen, religiösen und politischen Einrichtungen hinwegräumen, die Waffen der physischen Gewalt und jedes Druckes, die Tyrannei des Glaubens zu bekämpfen und gegen die dogmatische Knebelung der Gedanken und Meinungen sich zu empören. Das ist es, was uns veranlaßt, auf der Basis der allgemeinen internationalen Solidarität die Produktion und Austauschweise zu ordnen und alle Machtinteressen: Staat, Militarismus, Parlamentarismus und Patriotismus zu verwerfen. Die Anarchie besteht nicht nur in der Befreiung des Einzelnen vom methaphysischen Aberglauben, von sophistischen Tüfteleien, sondern auch im Losreissen vom Joche des Kapitalismus, in der freien Vereinbarung der innerlich erlösten Individuen, im Erkennen eines höheren Solidaritätsgefühls, welches jede Staatsautorität, alle Herrschaft und Gesetze von Grund aus beseitigt. Demnach ist jedes Mittel anzuwenden, welches zur Aufklärung, Belehrung und Organisierung der Volksmassen dient, denn nur qualitativ neue Menschen, die vor der herrschenden Macht nicht in den Staub sinken, sind imstande, in einer Gemeinschaft betätigend zu sein, welche auf der Grundlage der natürlichen Sittlichkeit, des freien Zusammenlebens beruht. Es hat der Anarchismus in der Kulturgeschichte eine positive Bedeutung der Auflösung der alten überlebten Weltanschauung und ist trotz aller Verfolgung und Herabsetzung das Leuchten eines neu aufdämmernden Lebens und der Vorkämpfer einer universellen Weltepoche, unüberwindlich, was eine der höheren Kulturstufe entsprechende Quelle der welterlösenden Macht der Freiheit ist. Das kennzeichnende Merkmal, welches diese neue Welt von der alten unterscheidet, ist das potenziertere Erkennen, das Einswissen unseres Selbst mit der Allwirklichkeit und das Schauen des soliden Gedankenlichtes in jedem Einzelnen unter uns, welches alsdann einen praktischen Zweck, einen Nutzen und Gewinn für die Gesamtheit verfolgt.

Wenn die Sozialdemokraten daher betonen, daß im gesellschaftlichen Leben Klassenkampf und Kultur in der Ökonomie eingeschlossen sind, so ist zuzugeben, daß die Wirtschaftslage Voraussetzung und Resonanzboden der allgemeinen Geistesexistenz ist, aber ihren konkreten Inhalt immerhin erst von den vorhandenen Gewaltinteressen gewinnt, welche eben im Bereiche der tiefstehenden Denktätigkeit des Menschen fundieren. Ja, wir können behaupten, daß die Produktion und der Warenaustausch, welche gesellschaftlichen Faktizitäten nach dem Marxismus das Fundament und den Ausgangspunkt für die Erklärung der Entwicklung des sozialen Standes der Kultur und Ideologie bilden, erst durch das jeweilige Rechtssystem geregelt werden und sich nicht in automatischer Weise aus den vorhergegangenen Verhältnissen heraus entwickeln, oder nach den Engelsschen Modifikationen sich nicht in letzter Instanz durch alle nebensächlichen, idealen Faktoren durchsetzen.

Aus all diesen tiefgeschichtlichen Forschungen und Auffassungen der Ursachen der verschiedenen wirtschaftlichen Stufen der Produktions- und Austauschweise entspringt auch die Verschiedenheit im Ziele und Wege zu diesem zwischen den sozialistischen Richtungen, und so finden wir, daß der Anarchismus das großartige Bild eines mächtigen Kulturaufschwunges voll kräftigen Lebens bietet.

Der Anarchismus gründet seine Theorie, sein herrlich ideales Strebensziel auf das befreite Individuum, auf die freie Individualität des Menschen. Er erblickt in der gesamten Weltgeschichte, in allen Epochen staatlicher Lebensbetätigung nichts als die Verheerung und Verwüstung eben dieser menschlichen Individualität, die gewaltsame Erstickung all der erhabenen Entfaltungsmöglichkeiten, die jedem Menschen eigen sind. Jahrtausende der Gewalt haben aus dem Menschen in der Tat ein Gewaltwesen gemacht und eine Befreiung des Menschen muß somit bei dem Menschen selbst anheben: er muß sich frei machen von all den unzähligen Hüllen der Gewaltsmoral, der Autoritätsgier, den schmachvoll niederen Leidenschaften der Erwerbssucht, der kleinlichen, verkrüppelten Gesinnung, die ihn, den ganzen Menschen, als einen Krüppel im Gegensatz zu einem wahren, sich edel, voll entfaltenden Menschen erscheinen lassen.*)

Anmerkung:
*) Vergl. Ramus, "Das anarchistische Manifest".

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 11, Mai 1908. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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