Ulrich Bröckling -  Zwischen "Krieg dem Krieg!" und "Widerstrebet dem Übel nicht mit Gewalt!" Anarchistischer Antimilitarismus im Deutschen Kaiserreich vor 1914

I. Der anarchistische Antimilitarismus und die SPD

Im Jahr 1907 erschien Karl Liebknechts Broschüre "Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung". Darin appellierte Liebknecht an seine Partei, es nicht bei der parlamentarischen Opposition gegen die wilhelminische Rüstungspolitik zu belassen, sondern daneben eine gezielte Agitation insbesondere unter der wehrpflichtigen Jugend zu betreiben. Er fand dafür folgende bemerkenswerte Begründung: Es sei dringend geboten, die antimilitaristische Propaganda schnell und energisch auszubauen, "schon um den anarchistischen Antimilitarismus, der sich auch in Deutschland bereits zu regen beginnt, im Keim zu ersticken". (1)
 
Der theoretischen Widerlegung dieses "anarchistischen Antimilitarismus" widmete er ein eigenes Kapitel seiner Schrift, in dem er die gängigen Attacken der "wissenschaftlichen Sozialisten" wiederholte: Die anarchistische Lehre sei utopisch, die anarchistische Praxis individualistisch oder putschistisch; Anarchisten hielten die Beeinflussung des Willens für die einzig wesentliche Voraussetzung des Erfolgs und bei gehöriger Anstrengung eine revolutionäre Mobilisierung jederzeit für möglich; sie verkennten ferner den "organisch-kapitalistischen Charakter des Militarismus" und begriffen daher seine isolierte Beseitigung als ihr Endziel. Die moralisierende Menschentümelei ihrer Propaganda ignoriere "die Klassenkampfinteressen des Proletariats" und gleiche so "in sehr diskreditierender Weise den pathetischen Deklamationen der Tolstoianer und den ohnmächtigen Kriegsbeschwörungen jener Weltfriedensfreunde vom Schlage der Bertha von Suttner". Der sozialdemokratische Antimilitarismus dagegen sei Klassenkampfpropaganda, sein Kampfmittel nicht eine heroische Propaganda der Tat, sondern "allmähliche organische Zersetzung und Zermürbung des militaristischen Geistes". (2)
 
Liebknecht konnte sich mit seinem Programm in der SPD zwar nicht durchsetzen - seine Broschüre brachte ihm nicht nur einen Hochverratsprozeß und anderthalb Jahre Festungshaft ein, sondern auch harsche Kritik seiner Parteigenossen -, doch scheint zumindest der Feldzug gegen die libertäre Konkurrenz erfolgreich verlaufen zu sein. Während ein knappes Jahrhundert und zwei Weltkriege später der sozialdemokratische Antimilitarismus sein Ziel, den "Staatsbürger in Uniform", längst erreicht hat, ist die Tradition des anarchistischen und anarchosyndikalistischen Kampfes gegen Militär und Krieg gründlich vergessen. (3) Es sieht so aus, als sei es tatsächlich gelungen, sie "im Keim zu ersticken".
 
So verfehlt es wäre, diese Randständigkeit allein auf sozialdemokratische Säuberungsmaßnahmen und staatliche Repression zurückzuführen, so wenig läßt sich die anarchistische Bewegung doch ohne die gegen sie gerichtete antagonistische Kooperation von Regierung und SPD verstehen. Im Prozeß der "negativen Integration" brauchten und produzierten SPD wie Militärmonarchie gleichermaßen radikale Dissidenten: Was auch immer die libertären Sozialisten unternahmen, in den innenpolitischen Auseinandersetzungen wurden sie in die Rolle des "Schwarzen Manns" gedrängt, mit dem man die Bürger schrecken und die sozialdemokratische Opposition staatsbürgerlich disziplinieren konnte. Die staatlichen Organe perhorreszierten wider besseres Wissen die SPD als "Umsturzpartei" und schoben ihr zum Beweis für revolutionäre Umtriebe Artikel oder Aktionen von anarchistischer Seite unter. Für die auf "friedliche Koexistenz" mit dem Obrigkeitsstaat bedachte Arbeiterpartei dagegen galt spätestens seit dem Sozialistengesetz jeder, der "direkte Aktionen" zum Sturz der Klassenherrschaft proklamierte, als ein Agent provocateur, zu dem man gar nicht genug Distanz wahren konnte.
 
Dieser auch vor Denunziationen nicht zurückschreckende Abgrenzungseifer bezog seine Dynamik nicht zuletzt daraus, daß sie sich gegen Abweichler aus dem eigenen Lager richtete. Die Geschichte des Anarchismus in Deutschland läßt sich über weite Strecken als Geschichte der Abspaltungen vom übermächtigen "großen Bruder" lesen. Zumal vor 1900 rekrutierte sich die anarchistische Bewegung vor allem aus ehemaligen Sozialdemokraten, die wegen sozialrevolutionärer Positionen aus der Partei ausgeschlossen wurden oder sich enttäuscht von ihr abgewandt hatten. Johann Most etwa, dessen zunächst in London, dann in New York erscheinende "Freiheit" in den 80er Jahren zum führenden Organ des deutschsprachigen Anarchismus avancierte, hatte vor Verhängung des Sozialistengesetzes Parteizeitungen in Chemnitz und Mainz redigiert und zwischen 1874 und 1878 die SPD auch im Reichstag vertreten. Gustav Landauers "Sozialist" wiederum, während der 1890er Jahre das intellektuelle Forum der libertären Kräfte, ging aus der Oppositionsbewegung der "Jungen" hervor, die auf dem Erfurter Parteitag 1891 aus der SPD ausgeschlossen worden waren. (4)
 
Für die Distanzierung von den Anarchisten war das Thema Antimilitarismus geradezu prädestiniert, bemühten sich die Sozialdemokraten doch nach Kräften, dem Obrigkeitsstaat ihre patriotische wie militärische Zuverlässigkeit zu demonstrieren und den Vorwurf zu widerlegen, sie seien "vaterlandslose Gesellen". Einig waren sich Staatssozialisten und Libertäre noch darin, daß die Strategien des Kampfes gegen Militarismus und Krieg aufs engste verknüpft waren mit den Strategien sozialer Befreiung. Das unterschied die Antimilitaristen gleich welcher Couleur fundamental von den bürgerlichen Pazifisten, die mittels moralischer Mobilisierung und völkerrechtlicher Vereinbarungen Kriege verhindern zu können hofften, ohne die bestehende soziale Ordnung anzutasten. 
 
Im übrigen jedoch konnte der Gegensatz zwischen sozialdemokratischem und anarchistischem Antimilitarismus kaum größer sein. Die SPD lehnte über alle internen Differenzen hinweg das Militär nicht grundsätzlich ab, sondern nur seine quasi-absolutistische Form. (5) Dem politischen Programm entsprach die sozialdemokratische Praxis. Auch wenn man der Partei in Militärkreisen geradezu paranoisch eine Unterwanderung des Heeres unterstellte, hielten sich die Genossen doch treu an Bebels Verhaltensregel für sozialdemokratische Rekruten: Sie sollten, solange sie in Kaisers Rock steckten, den Mund halten und sich nicht anmerken lassen, daß sie Sozialdemokraten seien, da ihnen das schlecht bekommen möchte. (6) Statt in den Kasernen zu agitieren oder ihre Anhänger zu Fahnenflucht oder militärischem Ungehorsam aufzufordem, verlegte die Partei sich auf einen streng legalen Antimilitarismus, der den Reichstag zu seiner Haupttribüne machte. Dort nutzten die Sozialdemokraten insbesondere die zunächst alle sieben, später alle fünf Jahre anstehenden Debatten über den Militärhaushalt, um die Zustände im Heer anzuprangem und die allgemeine Volksbewaffnung zu fordern. Die entschiedenste antimilitaristische "Tat" der Partei blieb denn auch die regelmäßige Ablehnung des Militäretats. Ihre Parole "diesem System keinen Mann und keinen Groschen!" war nicht Anstiftung zu Kriegsdienstverweigerung und Steuerboykott, sondern Abstimmungsanweisung für die Abgeordneten.
 
Der anarchistische Antimilitarismus dagegen richtete sich nicht allein gegen das stehende Heer preußisch deutscher Provenienz mit adlig dominierter Offizierskaste, Rekrutenschinderei und langer Dienstzeit. Vielmehr bekämpften die Anarchisten das Militär als Fundament eines jeden Staates. Ohne gehorsame Soldaten kein Gewaltmonopol, ohne dieses kein Staat. Da sie die politische Zentralmacht nicht erobern, sondern zerstören wollten, lag ihnen nichts an Demokratisierung, umso mehr aber an Zersetzung und Abschaffung ihrer bewaffneten Organe. Zudem war kaum ein schärferer Gegensatz denkbar als der zwischen militärischer Disziplin und anarchistischem Pathos der Freiheit. Eine Bewegung, die auf direkte Aktion statt auf parlamentarische Repräsentation setzte, stand vor der Aufgabe, die Funktionsfähigkeit des staatlichen Gewaltapparats soweit irgend möglich zu unterminieren. Solange der Staat über zuverlässige Truppen verfügte, ließen sich Streiks und Aufstandsbewegungen, wenn nötig mit Waffengewalt, unterdrücken. Gelang es nicht, die Armee zu neutralisieren, war jede revolutionäre Praxis im anarchistisch-syndikalistischen Sinne zum Scheitern verurteilt. Militärisch war das Militär allemal überlegen.
 
Gemessen an der Sozialdemokratie kamen Anarchismus und Anarchosyndikalismus im Deutschen Kaiserreich über eine marginale Bedeutung niemals hinaus. Nun spricht die praktische Schwäche einer Bewegung so wenig ein Urteil über ihre Ziele und Strategien, wie der Erfolg diese rechtfertigt. Eher im Gegenteil: Gerade das Ausmaß staatlich organisierter Gewalt, das von Deutschland ausging, läßt ermessen, wie dringend es hier einer radikalen Kritik an Staat und Militär bedurft hätte und ihrer noch bedarf. Darin liegt auch - bei aller unüberbrückbaren historischen Distanz - der Grund, im folgenden einige Grabungsfunde aus der Archäologie des Antimilitarismus zu präsentieren.

II. Anarchistischer Antimilitarismus und sozialer Krieg  

Im Jahr 1880 wurde in verschiedenen Garnisonen des Reiches ein Flugblatt aufgefunden, überschrieben "An unsere Brüder in der Kaserne". In Berlin war es per Post Soldaten zugeschickt worden, in anderen Städten hatten Zivilisten es auf Fensterbänken oder Kasemengängen abgelegt, in einigen Fällen sogar durch die Fenster in Mannschaftsstuben geworfen. Als Absender war die Londoner Adresse von Johann Mosts "Freiheit" angegeben. Dieser war im gleichen Jahr wegen seines vehementen Antiparlamentarismus und seiner revolutionären Rhetorik aus der SPD ausgeschlossen worden, seine unter verschiedenen Tamtiteln gedruckte und auf abenteuerlichen Wegen ins Land geschmuggelte Zeitung besaß unter den radikaleren deutschen Sozialisten jedoch zahlreiche Anhänger. (7) Mosts Antimilitarismus war weniger durch das Anliegen der Kriegsverhinderung motiviert; er proklamierte den sozialen Krieg und reizte die Soldaten zum "Umdrehen der Gewehre" auf. Da letztlich die Macht der Waffen über Sieg oder Niederlage der sozialen Revolution entscheiden würde, hing alles daran, auf welche Seite sich die Waffenträger schlugen. Klassenkampf in der Armee bedeutete daher Kampf der Kommandierten gegen die Kommandierenden, bedeutete Aufstand der proletarischen Mannschaften gegen die adligen Offiziere.
 
"Millionen arbeitsamer Männer seufzen unter der schrecklichsten Last", hieß es in dem Flugblatt, "und wagen es nicht, ihr Joch zu zerbrechen, weil sie sich vor Euch fürchten. Das hat noch einigen Sinn. Denn Ihr seid zwar dem Volke gegenüber eine verschwindend kleine Minderheit, aber ihr seid bis an die Zähne bewaffnet und das Volk steht ohne Wehr - ein Löwe ohne Klauen und ohne Zähne! Allein auch Ihr handelt nur unter dem Drucke der Furcht, unter dem Einfluß, den die Kriegsartikel auf Euch ausüben, unter dem Schrecken, den Euch ein blutiges Gesetz in die Knochen jagt. Doch vor wem fürchtet Ihr Euch denn in Wirklichkeit? Vor den Offizieren. Nur diese können ja die Drohungen wahr machen, welche Euch für den Fall des Bruches Eurer vorgeschriebenen Subordination vorschweben. Mithin fürchtet Ihr Euch ebenfalls als Masse vor einer Handvoll Menschen. Und Eure Furcht ist weniger begreiflich wie die des Proletariats, weil Ihr in Waffen starrt. Ein Schlag von Euch genügt, und die Kommandantenschaft, von der Generalität bis herab zum Junkertroß, liegt zerschmettert am Boden." (8)
 
Der Wille zum Ungehorsam sollte aus den Demütigungen des militärischen Alltags selbst kommen; die Verzweiflung des von seinen Vorgesetzten schikanierten Soldaten werde, so hoffte Most, in Empörung und Gegengewalt Umschlägen: "Den meisten von Euch kocht hundertmal das Blut in allen Adern, wenn irgendein Offizier voll Übermut Euch quält und plagt und Hunden gleich traktiert. Warum wird solch ein Schuft nicht auf der Stelle totgeschlagen? Warum? Die Disziplin, sagt Ihr, verbietet das. Man würde solch einen Akt der Gerechtigkeit furchtbar, exemplarisch ahnden. Gewiß - Einer, der seine malträtierten Brüder rächen wollte, würde schwer dafür zu büßen haben. Aber muß es denn nur Einer sein, der solchermaßen Menschenrecht und Menschenwürde wahrt! Gebt acht! Fast täglich erschießt sich mindestens ein Soldat, der die Quälereien seiner Vorgesetzten nicht mehr ertragen kann. Wie wär`s, wenn jeder, dem sein Leben ohnehin zur Last geworden, dasselbe bei einer kühnen Tat riskierte, statt mit bloßer Selbstvernichtung gegen eine barbarische Tyrannei zu protestieren?" (9)

Mosts zu dieser Zeit noch mehr blanquistisches als anarchistisches Revolutionspropramm lebte vom Bild der großen Insurrektion, gleichsam einer potenzierten Pariser Kommune. Es war die Vorstellung der proletarisch radikalisierten bürgerlichen Revolution. Kapitalismus und Staat begriff Most entsprechend auch eindimensional als Ausbeutung und Tyrannei, soziale Befreiung als Beseitigung der Despoten in Staat und Fabrik. Als der große Aufstand auf sich warten ließ, begeisterte er sich zeitweise für die "Propaganda der Tat" und feierte in seiner Zeitung erfolgreiche Attentate auf gekrönte Häupter und andere Größen. Überzeugt von der herausragenden Bedeutung moderner Sprengstoffe für die soziale Revolution ("Es liegt auf der Hand, daß dieselben im nächsten Abschnitt der Weltgeschichte den ausschlaggebenden Faktor bilden") verfaßte er selbst ein "Handbüchlein zur Anleitung betreffend Gebrauches und Herstellung von Nitro-Glyzerin, Dynamit, Schießbaumwolle, Knallquecksilber, Bomben, Brandsätzen, Giften usw.". (10)
 
Warum die Arbeiter sich nicht erhoben und die Soldaten brav ihren Dienst versahen, blieb ihm letztlich unverständlich. So mußte das Pathos seiner Sprache oft ausgleichen, was an Bezug zur Realität der Arbeiterbewegung fehlte. Sein Kasernenflugblatt schloß: "Der Tag wird kommen, wo die Massen des Proletariats sich in die Straßen der großen Städte ergießen, um anzustürmen gegen eine unerträgliche Despotie der Reichen wider die Armen. Die Machthaber werden lediglich bei Euch Rettung suchen. Verweigert das erste Regiment, welches gegen das Volk geführt wird, den Gehorsam, so ist`s vorbei mit der ganzen Herrlichkeit der jetzigen Gesellschaft. - Soldaten, ihr könnt den Kampf kurz und den Sieg leicht machen, wenn Ihr nie vergeßt, daß Ihr unsere Brüder seid, daß unsere Feinde auch die Euren sind. Nieder mit der Disziplin! Hoch die Rebellion!" (11)
 
Das Flugblatt war zwar an die Soldaten adressiert, mittelbar richtete es sich allerdings auch an die konservativen Eliten in Armee und Regierung. Most beschwor exakt das Szenario herauf, das ihren schlimmsten Angstphantasien entsprach. Spätestens seit der Revolution von 1848 sorgten sich die Repräsentanten der Militärmonarchie vor allem darum, wie zu verhindern sei, daß die bewaffneten Untertanen ihnen bei Einsätzen gegen den "inneren Feind" die Gefolgschaft verweigerten. Anders als in den Söldnerarmeen des 18. Jahrhunderts, wo der Schwund durch Desertion einen kalkulierbaren Faktor darstellte, der durch strengere Überwachung und bessere Versorgung nur begrenzt zu verringern war, fürchteten die militärischen Befehlshaber jetzt nicht das Weglaufen oder -bleiben der Soldaten, sondern ihr Überlaufen zu den Aufständischen. Mit allen Mitteln versuchten sie deshalb, eine Infizierung des Heeres mit dem "revolutionären Bazillus" zu unterbinden. Jeder noch so bescheidene Versuch von Soldatenagitation ließ alle Alarmglocken schrillen.
 
Wieviele Leser das Soldatenflugblatt in den Kasernen erreichte, läßt sich nur schwer sagen. In einem Geheimbericht der preußischen Polizei heißt es dazu, über 30.000 Exemplare seien "gedruckt und ausgegeben, dagegen verhältnismäßig nur sehr wenige gefunden" worden. (12) Einige der Soldaten, denen das Blatt unaufgefordert per Post zugegangen war, hatten die gefährliche Konterbande gleich an ihre Vorgesetzten weitergegeben, daraufhin angeordnete Durchsuchungsaktionen in verschiedenen Garnisonen hatten jedoch kaum etwas zutage gefördert. Immerhin wurden in Berlin einige Verteiler gefaßt und zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. (13) Erhalten blieb das Pamphlet - Ironie der Geschichte - ausgerechnet als Anlage zur sogenannten Umsturzvorlage in den Protokollen des Reichstags, wo es der Kriegsminister 1895 (also 15 Jahre, nachdem es verteilt und beschlagnahmt worden war!) mangels besserer Beweisstücke als Beleg für die systematische Wühlarbeit der SPD im Heer vorlegte, um verschärfte Maßnahmen zur Überwachung und Bestrafung politisch verdächtiger Rekruten durchzusetzen. (14)

III. Anarchosyndikalistischer Antimilitarismus  

Auch ein weiterer Versuch, diesmal anarchosyndikalistischer Soldatenagitation wurde vereitelt. Am 18. Februar 1907 berichtete die Berliner "Zeit am Montag" über einen spektakulären Fahndungserfolg der politischen Polizei: "Einer ihrer Beamten sah in der Gesellschaft bekannter Berliner Anarchisten mehrfach auch einen Fremden und beobachtete, daß ihm ein Gesinnungsgenosse im Scheunenviertel in seiner Wohnung Nachtquartier gab. Als der Wohnungsinhaber morgens mit dem Besuch das Haus verließ, trug jeder einen Handkoffer. Der Beamte witterte darin verbotene Schriften und hielt beide Männer an, zumal da er auch erfahren wollte, wer der Fremde sei und was er in Berlin plane. Die Koffer waren nun wider Erwarten leer, dagegen besaßen die Anarchisten jeder ein Büchelchen, das die lebhafteste Aufmerksamkeit des Beamten erregte. Auf dem schwarz-weiß-roten Umschlag prangte der preußische Adler inmitten der großgedruckten Aufschrift "Soldaten-Brevier". Über dem Adler stand "Mit Gott für König und Vaterland", darunter ein Auszug aus der Rede, die der Kaiser 1895 an die Rekruten hielt. Ganz unten las er: Verlag des Königl. Kriegsministeriums, Berlin 1907. Diesem Umschlag entsprach aber keinesfalls der Inhalt, der Verdacht des Beamten erwies sich vielmehr als durchaus berechtigt. Das "Soldaten- Brevier" enthielt in den Kapiteln: "Vor dem Fahneneid", "Die Musterung", "Die Blutsteuer", "Der Krieg", "Was ist das Vaterland", "Die Schlachtbank des Vaterlandes", "Antipatriotismus", "Das Los des Soldaten", "Die Arbeiter an ihre Brüder" usw. die "wüstesten Hetzereien und Aufreizungen". [...] In der Wohnung im Scheunenviertel fand man noch den ehemaligen Redakteur des "Revolutionär", Sauter, aber keine einzige verbotene Druckschrift. Die weiteren Ermittlungen ergaben jedoch, daß der Wohnungsinhaber auf dem Boden einen Taubenschlag eingerichtet, aber seit einiger Zeit keine Tauben mehr gehalten hatte. Man durchsuchte daher auch den Boden, den man in großer Ausdehnung mit Taubenmist und allerhand Käfigen bedeckt fand. Nichts wurde entdeckt, bis man endlich auch den Mist wegräumte. Da kam dann das "Soldaten-Brevier" mit dem verhetzenden Inhalt zum Vorschein. Gleich in 15.000 Exemplaren." (15)
 
Der Verfasser des Artikels, der die polizeilichen Angaben schon deshalb bezweifelte, weil er es aufgrund eigener Erfahrungen als Taubenzüchter für ausgeschlossen hielt, "daß die Tauben eines einzigen Berliner Schlages so fleißig gewesen sein sollten, das Quantum Mist zu produzieren, das erforderlich wäre, um einen so großen Haufen Druckschriften zu verdecken" (16), sollte Recht behalten. Als es wenige Wochen später zum Prozeß kam, war die Zahl der beschlagnahmten Broschüren auf 1232 geschrumpft. Das Gericht, das Haftstrafen zwischen drei Monaten und einem Jahr verhängte, hielt die Agitationsschrift offensichtlich für so gefährlich, das es vor Verlesung der inkriminierten Stellen die Öffentlichkeit vom Verfahren ausschloß. (17) 
 
Die Heeresführung reagierte ebenfalls höchst besorgt auf den Fund: Zwei Tage nach der Veröffentlichung des Polizeiberichts warnte der preußische Kriegsminister von Einem in einem Brief an sämtliche Generalkommandos vor der Broschüre, "welche nicht allein dazu bestimmt und in hohem Maße geeignet ist, Widerwillen gegen die Erfüllung der militärischen Pflichten zu erzeugen, sondern auch zur Fahnenflucht, Gehorsamsverweigerung und Meuterei auffordert". (18) Die Ermittlungen im Bereich des Heeres verliefen jedoch ergebnislos.
 
Bei dem Soldaten-Brevier handelte es sich um eine Bearbeitung des französischen "Manuel du Soldat", das vom nationalen Kongreß der Arbeiterbörsen 1902 herausgegeben und binnen zwei Jahren in einer Auflage von mehr als 200.000 Exemplaren verbreitet worden war. Geschrieben hatte die deutsche Fassung der österreichische Anarchosyndikalist Siegfried Nacht (19), bekannter unter seinem Pseudonym Arnold Roller. Dieser hatte seit Anfang des Jahrhunderts als Mitarbeiter verschiedener anarchistischer Zeitschriften die Taktik des revolutionären Syndikalismus im deutschen Sprachraum bekannt gemacht und beeinflußte mit seinen Broschüren "Die direkte Aktion" und "Der Soziale Generalstreik" (20) die Vorstellungen deutscher Anarchosyndikalisten bis in die Weimarer Republik.
 
In Frankreich, wo die Arbeiterbewegung anders als in Deutschland durch vielfältige Überlappungen zwischen sozialistischen und anarchistischen Organisationsformen und Programmen gekennzeichnet war, (21) betrieben vor allem die syndikalistisch orientierten Gewerkschaften, aber auch die sozialrevolutionären Flügel der sozialistischen Parteien eine erfolgreiche antimilitaristische Agitation, die sich die militärfeindliche Stimmung nach der Dreyfus-Affäre und wiederholten Truppeneinsätzen gegen Streikende zunutze machte. (22) Das "Manuel du Soldat" forderte die Rekruten auf, bei einem Einsatz im Innern nicht auf Streikende oder Aufständische zu schießen, im Kriegsfall zu desertiem bzw. zu meutern, auf keinen Fall jedoch ins Feld zu ziehen. Die Agitation wurde flankiert von praktischer Solidaritätsarbeit. Die lokalen Arbeiterbörsen hielten engen Kontakt zu ihren eingezogenen Mitgliedern und den Rekruten der örtlichen Garnisonen; die Gewerkschaftshäuser veranstalteten regelmäßige Soldatenabende. Viele Syndikate richteten einen "Soldatenpfennig" ein. Die durch monatliche Abzüge von den Gewerkschaftsbeiträgen oder durch Sonderumlagen aufgebrachten Summen ließ man eingezogenen Genossen als Aufbesserung des kargen Solds zukommen. Planmäßig unterstützte man Deserteure und Dienstverweigerer.
 
Die vielfältigen antimilitaristischen Aktivitäten blieben nicht ohne Wirkung: Im Stahlrevier von Montceau-les-Mines fraternisierten Truppen offen mit Streikenden; bei einer Arbeitsniederlegung in Limoges schossen Soldaten statt auf die Arbeiter über deren Köpfe hinweg; in Südfrankreich meuterte bei Winzerunruhen ein ganzes Regiment; die Zahl der Fahnenflüchtigen stieg beträchtlich. 
 
An der Spitze der Bewegung stand Gustave Hervé, ein früherer Gymnasialprofessor und Mitglied des sozialdemokratischen Parteivorstands, der im Departement von Yonne in hoher Auflage eine eigene Soldatenzeitung herausgab und dessen 1907 ins Deutsche übersetzte Buch "Leur Patrie" zur Programmschrift des antipatriotischen, wehrkraftzersetzenden Antimilitarismus wurde. (23) Aufsehen erregte ein großer Prozeß gegen Hervé und 25 weitere Angeklagte, die anläßlich der Rekruteneinziehung im Herbst 1905 auf Plakaten zur Desertion aufgefordert hatten. Die Kriminalisierung gab dem Aktivismus kurzfristig nur weiteren Auftrieb: Neue Plakate wurden geklebt, die neben den gleichen Forderungen 2.000 Namen enthielten mit der Einladung, die Staatsanwaltschaft möge nun auch diesen allen den Prozeß machen. (24) Hervé versuchte, ermutigt von den Erfolgen in Frankreich, seine Position auch innerhalb der Zweiten Internationale durchzusetzen, wo er auf dem Stuttgarter Sozialisten-Kongreß 1907 jedoch mit seiner Parole "Plutôt l`insurrection que la guerre" so gut wie keine Zustimmung erntete und vor allem von den deutschen Sozialdemokraten heftig attackiert wurde."
 
Wie schon Mosts Soldatenagitation war auch der Antimilitarismus der französischen Syndikalisten, den Siegfried Nacht - erfolglos - nach Deutschland zu importieren versuchte, alles andere als friedlich, und auch Nacht selbst war kein Verfechter eines bloß gewaltlosen Widerstands. Für ebenso legitim wie notwendig gegen das Militär hielt er alle Aktionen, die ihre Einsatzfähigkeit behinderten und zugleich die Loyalität der Mannschaften zersetzten. Das galt sowohl für Streikeinsätze wie erst recht für den Kriegsfall. Nachts Schriften zeigen einen ungebrochenen Aktivismus sowie einen fast religiösen Glauben an die revolutionäre Kraft des Generalstreiks. Seine Kritik an der sozialdemokratischen Fortschrittsgewißheit, aus dem in der Praxis nichts als Organisationsfetischismus und Warten entweder auf den "großen Kladderadatsch" oder auf ein "friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus" folgte, schlug um in voluntaristische Revolutionsmechanik, der eine nicht minder teleologische Geschichtskonstruktion zugrundelag. "So steuert nun die Entwicklung der revolutionären ökonomischen Kämpfe der Gegenwart", heißt es etwa in seiner Broschüre über "Die direkte Aktion", "gleichzeitig mit den fortwährenden Gegenwarts-Erfolgen, mit fortwährendem Gewinn immer größerer Freiheit für das Proletariat - geradezu von selbst endlich zum siegreichen ökonomischen Generalstreik als Entwicklungsresultat der vielen kleineren revolutionären Streiks zum Ziele hin." (26)
 
Im Soldaten-Brevier wandte sich Nacht entschieden gegen die sozialdemokratische Forderung nach "allgemeiner Volksbewaffnung" und Einführung des Milizwesens. Diese könnten die Kriegsgefahr nicht beseitigen, "weil die bloße Existenz bewaffneter Heere jederzeit neue Ausbrüche mordsbegeisterten Kriegspatriotismus ermöglichen und fördern kann. Um dies zu verhindern gibt es nur einen Weg, und dies ist die vollständige Beseitigung jeder Form von Armee." (27) Unmittelbar gegen den "proletarischen Patriotismus" der SPD war das Kapitel "Antipatriotismus" des Soldaten- Breviers gerichtet. Anspielend auf Bebels Wort, er selbst sei bereit, "die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unseren deutschen Boden zu verteidigen", wenn es einen Angriff des russischen Despotismus abzuwehren gelte, (28) wies Nacht auf die Inkonsequenz der Sozialdemokraten hin. Diese dächten nicht im geringsten daran, auch "die logische Fortsetzung dieses Gedankens auszusprechen, - daß sie z.B. das deutsche Vaterland auf keinen Fall gegen eine Invasion von Frankreich verteidigen würden, weil doch durch einen Sieg Frankreichs mit der Einführung französischer Institutionen größere Freiheiten im besiegten deutschen Vaterlande aufblühen würden - wie dies ja auch der Fall war nach den Napoleonischen Kriegen." (29)
 
Ohne daß Nacht einen Krieg herbeigewünscht hätte, mußte aus seiner Perspektive das Proletariat eher die Niederlage als einen militärischen Erfolg des "Vaterlands" wünschen: "Denn die siegreiche Monarchie und der Kapitalismus wird durch den Sieg gegen den äußeren Feind auch gestärkt gegen den "inneren" Feind und zwar einerseits durch den Enthusiasmus des siegreichen Patriotismus und andererseits durch den Blutverlust des Volkes, dessen Jugend in den "siegreichen" Schlachten gefallen ist. [...] Demgegenüber sehen wir wieder, wie gerade nach verlorenen Kriegen im Lande Perioden freierer politischer Entwicklung beginnen, wie in Preußen nach Jena 1806, wie Frankreich im Jahre 1871 mit seiner Niederlage auch das Kaisertum loswurde; wie gegenwärtig die revolutionäre Bewegung in Rußland durch die Niederlagen im japanischen Krieg gefördert wurde." (30) - Man wird Nachts These auch für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts eine prognostische Qualität nicht absprechen können.
 
Eine strikte Absage erteilte Nacht auch der Hoffnung auf Abrüstung "von oben". In seinem Revolutionskonzept fielen Kriegsverhinderung und "Befreiungskampf des Proletariats" zusammen. Darin traf er sich mit linksradikalen Sozialdemokraten wie Liebknecht, Luxemburg oder Pannekoek. Doch während diese sei es im Bann der Parteidisziplin, sei es, um nicht konservativen Staatsstreichplänen Vorschub zu leisten, jeden Aufruf zur Gehorsamsverweigerung unterließen, setzte er nicht zuletzt auf die präventive Wirkung einer Propaganda des Ungehorsams: "Die Arbeiter haben keine Zeit und keine Geduld, so lange zu warten, bis sich die Versprechungen ihrer Vertreter erfüllt haben, die den Militarismus durch die Parlamente abzuschaffen versprechen, denn unterdessen schießen die Soldaten bei jeder Gelegenheit auf streikende Arbeiter. [...] Trotz aller Friedensschalmeien der großen Pazifisten könnte kein einziger Krieg vermieden werden, wenn die Herrschenden es beschließen und das Proletariat gehorcht. Der mörderische Krieg wird nicht beseitigt durch den friedlichen Pazifismus, sondern nur durch den rebellischen Antimilitarismus, diese direkte Aktion des Pazifismus. Auf die Kriegserklärung antworten die Antimilitaristen mit dem Militärstreik, Dienstverweigerung, Generalstreik und Meuterei. Eines der wichtigsten Mittel, den Krieg direkt durch das Volk zu verhindern, wäre, sofort nach der Kriegserklärung alle Transport- und Kommunikationsmittel, Telegraphen, Telephone, Eisenbahnschienen, Tunnel, Brücken, Hafenanlagen etc. so oft wie möglich zu vernichten oder zu sprengen - um die Entsendung der Regimenter zu verhindern. Massenstreiks, womöglich Generalstreiks in Arsenalen, Militärwerkstätten, Häfen etc. könnten ebenfalls die Kriegsoperationen ganz bedeutend hemmen - ja sogar die Niederlage des eigenen Landes herbeifuhren. Wenn diese Idee recht stark propagiert würde, so könnte schon die bloße Idee Wunder wirken. Die bloße Ankündigung der Arbeiter und Soldaten, daß sie im Kriegsfalle streiken, die bloße Ankündigung, daß das Proletariat, das sich schon gewöhnt hat, im Kampfe mit dem Kapitalismus ihm seine Arbeit zu verweigern, ihm nun auch sein Leben und sein Blut im Krieg verweigern will, um es für die eigenen Ziele, die eigenen Ideale einzusetzen, wäre schon eine direkte Verhinderung des Krieges." (31)

IV. Gewaltloser Widerstand  

War die Propaganda eines militanten, in Generalstreik und Insurrektion gipfelnden Antimilitarismus in Deutschland angeregt von den Aktivitäten französischer Syndikalisten, so kam der Anstoß zu einem ebenso grundsätzlichen, aber strikt gewaltlosen Widerstand gegen Militär und Staat aus Rußland. Von dort aus verkündete Leo Tolstoj seit Mitte der achtziger Jahre in zahllosen Flugschriften und Büchern seine aus dem Liebesgebot der Bergpredigt abgeleitete Lehre vom "Nichtwiderstreben". (32) Die unverfälschte Botschaft des Christentums bestand, so der Kern seiner Ethik, in einer Abkehr von jeder Gewalt: "Widerstrebe nicht dem Übel will heißen; widerstrebe niemals dem Übel, d.h. übe nie Gewalt aus, d.h. bejahe nie eine Handlung, die der Liebe widerspricht. Und wenn du dabei gekränkt wirst, so ertrage die Kränkung und thue dennoch nichts Gewaltsames gegen den Nebenmenschen." (33) 
 
Dieser kategorische Imperativ implizierte keineswegs bloßes passives Erdulden; Nichtwiderstreben dem Übel bedeutete auch, sich zu verweigern, falls man selbst zur Anwendung oder zur mittelbaren Unterstützung von Gewalt gezwungen werden sollte. Wer dieses Gebot ernstnahm, mußte unweigerlich in unversöhnlichen Gegensatz zu den staatlichen Gesetzen geraten. Für Tolstoj war jede Regierung "ein furchtbares, ja das gefährlichste Institut der Welt" (34): "Die Regierungen unserer Zeit - alle Regierungen sowohl die despotischen als die liberalen - sind das geworden, was Herzen so zutreffend "Dschingis-Chan mit dem Telegraphen" genannt hat, d.h. Organisationen der Gewalttat, welche sich aber jener Mittel bedienen, welche die Wissenschaft für die gemeinschaftliche, friedliche Thätigkeit freier und gleichberechtigter Menschen erfunden hat, welche die Regierungen aber zur Unterdrückung der Menschen gebrauchen." (35)
 
Festgehalten im "Bannkreis der Gewalt" wurden die Menschen, so Tolstoj weiter, durch Repression, Bestechung, den "patriotischen Aberglauben" und schließlich dadurch, daß man eine Anzahl von ihnen "in jenem jugendlichen Alter auswählt, wo der Mensch noch keine festen, abgeschlossenen Begriffe von Moral hat, und sie aus allen natürlichen Lebensverhältnissen, Haus, Familie, Heimat, vernünftige Arbeit, herausreißt, in Kasernen erschließt, in eine besondere Kleidung steckt und sie durch Geschrei, durch Trommeln, Musik und glänzende Gegenstände veranlaßt, alltäglich gewisse, zu diesem Zweck erfundene Bewegungen auszuführen, um auf diese Art sie in einen Zustand der Hypnose zu versetzen, in welchem sie aufhören Mensch zu sein und vemunftlose, dem Hypnotiseur gehorsame Maschinen zu werden. Diese hypnotisierten, physisch starken Menschen werden jetzt bei der allgemeinen Wehrpflicht mit Mordwaffen versehen und sind immer gehorsame Werkzeuge der Regierungen und auf deren Befehl bereit zu jeder Gewaltthat." (36) 
 
Die Praxis der allgemeinen Wehrpflicht gewann in Tolstojs Perspektive eine doppelte Bedeutung: Sie verkörperte einerseits die "grausamste Form staatlicher Selbstbehauptung, insofern sie die Unterdrückten gegen ihr sittliches Bewußtsein zur Gewalt gegen ihre Brüder und Leidensgenossen bis hin zum Mord" verpflichtete. Andererseits betrachtete er sie als die historisch letzte Form staatlichen Zwangs, "weil sie den Menschen unweigerlich und in radikalster Form ihre widersprüchliche Lage in der staatlich organisierten Gesellschaft vor Augen führen und ihr Bewußtsein für einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft im Sinne der Liebeslehre Christi schärfen" mußte. (37)
 
Die Hoffnung auf einen revolutionären Umsturz der staatlichen Herrschaftsordnung hielt der Dichter für einen Selbstbetrug, da gewaltsames Aufbegehren das Übel reproduzieren und die Spirale von Gewalt und Gegengewalt weiterdrehen mußte: "Welche Parthei auch triumphieren mag, sie muß, um eine neue Ordnung einzuführen und die Macht zu behalten, nicht nur alle bekannten Gewaltmittel anwenden, sondern auch neue erfinden. Die Unterdrückten werden nicht mehr dieselben sein, die Unterdrückung wird neue Formen annehmen, aber keineswegs verschwinden, sondern nur noch grausamer werden, weil der Haß der Menschen durch den Kampf noch erhöht werden wird." (38)
 
Aus dem Zirkel der Gewalt herausführen konnten allein die innere Umwandlung und die Verweigerung gegenüber allen unchristlichen Forderungen des Staates, insbesondere die Verweigerung des Kriegsdienstes. Auch wenn es vorerst nur wenige waren, die so handelten, mußte ihre Weigerung die Gewalt des Staates aushöhlen und, so Tolstojs optimistische Geschichtsphilosophie, notwendig zur Befreiung aller führen: "Es scheint, als ob diese Erscheinungen keine Wichtigkeit hätten; aber dennoch untergraben sie mehr als alles andere die Macht der Regierungen und bereiten die Befreiung der Menschen vor. Das sind jene einzelnen Bienen, welche anfangen, sich vom Schwarm zu trennen und umherfliegen in der Erwartung dessen, was nicht ausbleiben kann, nämlich daß der ganze Schwarm sich hinter ihnen erhebt. Und die Regierenden kennen und fürchten diese Erscheinungen mehr als die Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten und alle ihre Verschwörungen und Dynamitbomben." (39)
 
Tolstoj selbst verstand sich also nicht als Anarchist, aber er wurde als Anarchist rezipiert. In Deutschland beriefen sich oppositionelle Intellektuelle, so die Anhänger der "Ethischen Bewegung" (40), liberale Anarchismusforscher wie Paul Eltzbacher (41), aber auch die parteikritischen Sozialisten des Friedrichhagener Kreises (42) auf seine Moraltheorie, um "einen "reinen" Begriff von Anarchismus mit dem Hauptmerkmal "absolute Gewaltlosigkeit" zu definieren, der die Identifikation des Anarchismus mit den vor allem in romanischen Ländern verübten Gewalttaten widerlegt[e] und zugleich die Verwirklichung des anarchistischen Ideals in unbedenklich undenkbare Ferne entrückt[e]". (43) 
 
Die Anarchisten in Deutschland wiederum druckten zwar eifrig Tolstojs staats- und militärkritische Schriften nach, (44) doch schon sein religiöser Rigorismus und seine asketische Sexualethik hinderten sie daran, vorbehaltlos zu seinen Jüngern zu werden. Der Historiograph der anarchistischen Bewegung, Max Nettlau, bekannte kurz und bündig: "Tolstoj ging uns allen auf die Nerven: man verstand nicht, wie er sich an das Christentum anklammern konnte, wie er Kunst und Wissenschaft geringzuschätzen schien und wie er, der sich gewiss in seine persönlichen Angelegenheiten nicht dreinreden ließ, der ganzen Welt Lehren gab im Sinne der Kreutzersonate..." (45) 
 
Selbst Gustav Landauer, dessen in hohem Maße lebensreformerisch ausgerichtetes Sozialismus-Verständnis der Tolstojschen Morallehre noch am nächsten stand, erklärte, "die Art Entsagung [...], wie Tolstoy sie übt und lehrt: sich unter das Joch zu beugen, das einem verhaßt ist", leuchte ihm nicht ein, (46) und setzte gegen dessen christliche Ethik die libertäre Auffassung: "Es gibt kein unverbrüchliches "Du sollst" für einen freien Menschen." (47)
 
Während in den Niederlanden, der Schweiz, Großbritannien und schließlich in Rußland sich zahlreiche junger Männer unter Berufung auf die Lehren des russischen Dichters weigerten, Soldaten zu werden, und dafür ins Gefängnis gingen, und Christen-Anarchisten in verschiedenen Ländern Siedlungen gründeten, um ein gewaltfreies Leben jenseits von Staat, Kapitalismus und Militarismus zu führen, (48) blieb die Rezeption der Tolstojschen Verweigerungspropaganda in der deutschen anarchistischen Bewegung weitgehend folgenlos. Zwar entzog sich der eine oder andere Anarchist dem Militärdienst: Rudolf Oestreich etwa, später Redakteur des "Freien Arbeiters", tauchte vor seiner Einberufung unter, wurde fünf Monate später an der französischen Grenze festgenommen und wegen Fahnenflucht zu einem halben Jahr Einzelhaft verurteilt. (49) Und Franz Jung berichtet in seiner Autobiographie, daß die Münchner Boheme-Anarchisten um Erich Mühsam wiederholt dienstunwilligen Wehrpflichtigen bei der Flucht in die Schweiz halfen. Untergebracht wurden die Deserteure meist in der anarchistischen Kolonie auf dem Monte Verita. (50) Aber sich den Behörden zu stellen und freiwillig die sichere Bestrafung auf sich zu nehmen, das kam keinem von ihnen in den Sinn. Sieht man von solchen kleinen und großen Fluchten ab, beschränkte sich der libertäre Antimilitarismus jedoch weitgehend auf publizistische Aktivitäten. (51)
 
Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer war im Deutschen Kaiserreich vor 1914 überhaupt äußerst gering; bei den gerichtlich sanktionierten Fällen handelte es sich meist um Angehörige pazifistischer Glaubensgemeinschaften wie der Mennoniten oder Adventisten. (52) Eine Ausnahme bildet der Fall eines konfessionslosen Dienstverweigerers, der sich bei seiner Entscheidung auf Tolstoj berief. Er ist dokumentiert in den Annalen der Berliner Charité, wohin der Betreffende zur Begutachtung seines Geisteszustands überwiesen worden war. (53) Lange bevor sich die Psychiater mit ebenso großer Beflissenheit wie Brutalität der "Kriegsneurotiker" des Ersten Weltkriegs annahmen, (54) wurde hier militärisch abweichendes Verhalten nicht mehr nur kriminalisiert, sondern auch pathologisiert. Der Schuhmacher Paul M. hatte sich im Mai 1901 geweigert, zu einer Reserveübung einzurücken und diese Entscheidung in einem Schreiben an das zuständige Wehrkommando begründet. Bei seiner Vernehmung erklärte er, "er könne es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, Waffendienste zu leisten, da er es als gegen die Gesetze der Menschlichkeit verstossend ansähe, andere Menschen zu töten. Er sei für allgemeine Abrüstung und weigere sich deshalb, dem Gestellungsbefehl Folge zu leisten, obwohl er wisse, dass er hierfür strenge Bestrafung zu gewärtigen habe. [...] Durch die Lektüre der Werke von Tolstoi, Bertha von Suttner, sowie sozialistischer Schriften sei er zu dieser Ansicht gekommen. Er selbst sei kein Sozialdemokrat. [...] Seit 1 1/2 Jahren sei er zu dem Entschluss gekommen, wenn eine Uebung von ihm verlangt würde, dieselbe nicht mitzumachen. Er habe gedacht, einer müsse mal anfangen, damit die Abrüstung endlich mal zu Stande komme. [...] Auf die Frage, ob er denke, dass er irgend etwas erreichen werde mit seinem Vergehen, meint er, das könne er erst später beantworten. Wenn er verurteilt würde, würde sich der Staat mit sich selbst in Widerspruch setzen, da dieser doch selbst sage, er sei nur des Friedens wegen da. Auf das Vorhalten, er wäre doch eigentlich wegen seiner mangelhaften Vorbildung kaum imstande, für solche weittragenden Ideen zu wirken, antwortet Explorand: "Wenn solche Leute, wie Tolstoi, nur allein daständen, könnten sie auch nichts durchsetzen." Auf die Frage, warum er denn nicht einen von den Herren, die ihn so stark beeinflusst hätten, um Rat gefragt habe, sagt er, er wisse allein, was er zu tun habe. Massgeblich sei für ihn nur Tolstoi, und da wisse er, dass derselbe mit seiner Handlungsweise einverstanden sein würde. [...] Er meint, dass die Mehrzahl der Menschen im Grunde genommen auf dem Tolstoischen Grundsatz ständen, sie seien nur durch alle möglichen Rücksichten verhindert, ihre wahre Meinung zu sagen. Er bestreitet, dass er die Absicht habe, ein grosser berühmter Mann zu werden, er wolle nur sein Recht verteidigen. Schliesslich meint er, sein Leben sei nicht so gut gewesen, dass er grosse Verluste erlitte, wenn er im Gefängnis sitzen müsse." (55)
 
Der begutachtende Psychiater diagnostizierte zwar keine eindeutige Geistesstörung, aber doch den "abnormen Zustand" einer "überwertigen Idee", "die sein ganzes Fühlen und Denken einnimmt und seine Handlungsweise bestimmt, ohne dass er Rücksicht nimmt auf seine eigene Person". (56) Angesichts des Anstaltsalltags und erst recht angesichts der Psychiatrieverbrechen im weiteren Verlauf den 20. Jahrhunderts, konnte Paul M. froh sein, daß man ihn nicht zwangsinternierte, sondern für zurechnungsfähig erklärte und lediglich zu einer sechswöchigen Haftstrafe verurteilte. Paul M. ließ sich auch dadurch nicht von seinen Überzeugungen abbringen: Zwei Jahre später wiederholte sich der Kreislauf von Gestellungsbefehl, Verweigerung, psychiatrischer Begutachtung und gerichtlicher Verurteilung.  

V. Schluß  

So sehr die verschiedenen Strömungen des antistaatlichen Antimilitarismus auch zwischen individuellen und kollektiven, militanten und gewaltlosen Positionen schillerten, in der negativen Stoßrichtung ihrer Anstrengungen stimmten sie überein. Statt Volksmiliz und demokratische Kontrolle der Armee propagierten die Anarchisten Dienstverweigerung und Fahnenflucht, Streiks, Boykotte und Sabotage, also Aktionen der Obstruktion und gezielten "Wehrkraftzersetzung". Macht war, so ihre Grundüberzeugung, nicht als etwas zu begreifen, was die einen besitzen und die anderen nicht, sondern als ein soziales Verhältnis, das bei aller Asymmetrie vom Gehorsam der Beherrschten ebenso aufrechterhalten wird wie von den Sanktionsmitteln der Herrschenden. 
 
Welche zentrale Bedeutung der Disziplin zukam, hatte man damit verstanden, aber es fehlten die Kategorien, um zu begreifen, wie die Produktion zuverlässiger Soldaten vor sich ging. Daß Menschen gehorchten und sich für Nation, Staat und Krieg sogar begeistern ließen, war mit Einschüchterung und Manipulation nur unzureichend erklärt. An der offensichtlichen Bereitschaft, den staatlichen Autoritäten Folge zu leisten, mußte selbst die leidenschaftlichste Beschwörung der Freiheit abprallen. 
 
Hier zeigte sich das Dilemma des anarchistischen Voluntarismus: Die Zersetzung staatlicher Macht "funktionierte" nur unter der Bedingung, daß alle, daß zumindest viele mitmachen. Als verschwindend kleines Häuflein, von der politischen Polizei schärfstens überwacht, von der nicht minder politischen Justiz massiv verfolgt, blieb den Anarchisten im Deutschen Reich daher nichts übrig, als der ungeliebten Wirklichkeit unter hohem persönlichen Einsatz ihre Kritik unversöhnlich, aber ohne Aussicht auf sichtbare Erfolge entgegenzuhalten. Klarer als andere erkannten sie die Macht des Ungehorsams, zu organisieren vermochten sie ihn nicht.

Fußnoten:
1.) Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung, in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin 1958, S. 450.
2.) Ebd., S. 427 - 438. Vgl. dazu auch die Antikritik des niederländischen Anarchisten Domela Nieuwenhuis: Sozialdemokratischer und anarchistischer Antimilitarismus, in: Die freie Generation, Jg. 2, Bd. 2, April 1908, S. 227 - 232.
3.) Einen Versuch der Vergegenwärtigung unternahm 1987 die Zeitschrift "graswurzelrevolution", die selbst in der Tradition des gewaltfreien Anarchismus steht, mit einem Sonderheft zur "Sozialgeschichte des Antimilitarismus" (Nr. 117/118). Das Heft dokumentiert zahlreiche Beiträge anarchistischer Autoren vor allem aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Vgl. außerdem die vom Verfasser herausgegebene und kommentierte Wiederveröffentlichung von Texten anarchistischer Soldatenagitation aus dem Deutschen Kaiserreich: Nieder mit der Disziplin! Hoch die Rebellion! Anarchistische Soldatenagitation im Deutschen Kaiserreich, Berlin 1988.
4.) Vgl. dazu Ulrich Linse, Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin 1969; Andrew R. Carlson, Anarchism in Germany, Bd. 1: The Early Movement, Metuchen, N. J. 1972; Dirk H. Müller, Idealismus und Revolution. Zur Opposition der Jungen gegen den sozialdemokratischen Parteivorstand 1890 - 1894, Berlin 1975; Hans Manfred Bock, Geschichte des "linken Radikalismus" in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt/M. 1976, S. 38 - 73; Peter Wienand: Revoluzzer und Revisionisten. Die "Jungen" in der Sozialdemokratie vor der Jahrhundertwende, in: Politische Vierteljahresschrift 17, 1976, S. 208 - 241.
5.) Die Grundzüge sozialdemokratischer Wehrpolitik faßte 1908 der liberale Politikwissenschaftler Walther Borgius in der neugegründeten "Zeitschrift für Politik" zusammen: "Sie bekämpfen die Klassenscheidung im Heere, die in dem Institut der Einjährig-Freiwilligen, in der prinzipiellen Trennung des Offizierskorps vom Unteroffizierskorps hegt. Sie bekämpfen das System der Berufssoldatenschaft, wie sie diese beiden Vorgesetzten-Gruppen darstellen. Sie bekämpfen die Verwendung des Heeres als Unterstützungstruppe der Polizei gegen den 'inneren Feind'. Sie bekämpfen die lange Dienstzeit, das geheime Militärstrafverfahren, die Härten der Disziplin, die künstliche Trennung des Heeres vom Volke (durch Kasernen und Kasinos etc.). Sie bekämpfen endlich das Prinzip, daß die Entscheidung über Krieg und Frieden in Händen des Fürsten oder einiger weniger leitender Staatsmänner hegt, statt bei der Volksvertretung, sowie überhaupt, daß die Militärverwaltung - die Entscheidung über Versetzungen, Ernennungen und Verabschiedungen etc. - in bürokratischer Form gehandhabt wird, statt in vollster Öffentlichkeit unter Mitwirkung der beteiligten Truppen selbst. Sie bekämpfen endlich die Form des stehenden Heeres mit der darin hegenden Brachlegung zahlloser Menschenkräfte und seiner von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigenden Kostenlast, treten also ein für eine Volksmiliz, etwa des Genres, wie es die Schweiz heute schon durchgefuhrt hat, nur noch etwas mehr gereinigt von Klassenherrschaft und kapitalistischem Geiste. Da sie im übrigen aber, gleich den übrigen politischen Parteien, die Eroberung der politischen Macht erhoffen und erstreben, diese jedoch identisch ist mit der militärischen Gewalt, so können sie gar nicht Gegner des Militärs als solchen sein, sondern nur das Bestreben haben, es ihrer Partei und ihren Ideen dienstbar zu machen." Die neuere Entwicklung des Anarchismus, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 1 (1908), S. 532.
6.) August Bebel, Rede im Reichstag am 28.11.1891, in: Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstags, Bd. 118, S. 3122.
7.) Zu Most vgl. seine autobiographischen Schriften: Acht Jahre hinter Schloß und Riegel, Skizzen aus dem Leben Johann Most's, New York 1886; Memoiren, 4. Bde., New York 1903 - 1907; sowie Rudolf Rocker, Johann Most. Das Leben eines Rebellen, Berlin 1924; Dieter Kühn, Johann Most. Ein Sozialist in Deutschland, München 1974.
8.) Zit. nach Bröckling (Anm. 3), S.85f..
9.) Ebd., S. 86.
10.) Johann Most, Revolutionäre Kriegswissenschaft, New York 1885
11.) Zit. nach Bröckling (Anm. 3), S. 87.
12.) Bericht der Zentralstelle der politischen Polizei zur Bekämpfung der Sozialdemokratie, 31. Dezember 1880, zit. nach Reinhard Höhn, Die vaterlandslosen Gesellen. Der Sozialismus im Licht der Geheimberichte der preußischen Polizei 1878 - 1914, Bd. 1 (1878- 1890), S. 60.
13.) Ders., Sozialismus und Heer, Bd. 3, Bad Harzburg 1969, S. 93.
14.) Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages 1894/95, 2. Anlagenband, Aktenstück Nr. 273, S. 1193/94. Ebd., S. 1188 - 1196, sind noch weitere beschlagnahmte Soldatenflugblätter dokumentiert.
15.) K. Sch. [d.i. Karl Schneidt], Ragout-Fin, in: Die Zeit am Montag, 18. Februar 1907.
16.) Ebd.
17.) Vgl. Prozeß gegen Sauter und Genossen, in: Vorwärts, 3. März 1907, 3. Beilage. Das sozialdemokratische Blatt hielt aufgrund von Ungereimtheiten in der Anklage das ganze für eine von der politischen Polizei inszenierte Aktion, verdächtigte einen flüchtigen Angeklagten als Agent provocateur und verwies darauf, daß schließlich auch Mosts "Freiheit" auf Kosten der Polizei gedruckt worden sei.
18.) Zit. nach Höhn: Sozialismus (Anm. 13), S. 161.
19.) Nacht, 1878 in Wien geboren, in Ostgalizien aufgewachsen, von Beruf Elektrotechniker, hatte seit seinem 18. Lebensjahr in anarchistischen und syndikalistischen Bewegungen verschiedener europäischer Länder gearbeitet. Nach einem Aufenthalt in Berlin lebte er einige Jahre in Paris, dann kurz in London; 1902/1903 durchwanderte er Spanien, wurde auf Gibraltar verhaftet, reiste bald darauf nach Italien, wurde ausgewiesen; auf dem internationalen antimilitaristischen Kongreß 1904 in Amsterdam trat er als Delegierter für Portugal und Spanien auf. Kurz darauf gab er in Böhmen die Zeitschrift "Generalstreik" heraus, die allerdings nur sechs Ausgaben erlebte. Es folgten Aufenthalte in Zürich, Österreich und Frankreich, die jeweils mit Ausweisungen endeten. Anschließend hielt er sich in England auf, bis er 1910 nach Italien ging. Etwa zur gleichen Zeit wie das "Soldaten-Brevier" stellte er zusammen mit seinem Bruder Max auch ein "Internationales Rebellen-Liederbuch" (London 1906) zusammen, von dem bei der Berliner Beschlagnahmungsaktion der Polizei ebenfalls einige Exemplare in die Hände gefallen waren. Vgl. Max Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. V, Anarchisten und Syndikalisten, Teil 1. Vaduz 1984, S. 269 (Anm.).
20.) Arnold Roller [d.i. Siegfried Nacht], Die direkte Aktion, zuerst New York 1903, neu: Berlin 1970; ders., Der Soziale Generalstreik, Berlin 1905, neu: Bremen 1980. Diese Broschüre wurde in 17 Sprachen übersetzt. Ohne Pseudonym war bereits vorher erschienen: Der Generalstreik und die soziale Revolution, London 1902. Zur Geschichte des Anarchosyndikalismus in Deutschland vgl. Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923, Darmstadt 21993; ders., Anarchosyndikalismus in Deutschland. Eine Zwischenbilanz, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 25, 1989, S. 293 - 358; Angela Vogel, Der deutsche Anarcho-Syndikalismus. Genese und Theorie einer vergessenen Bewegung, Berlin 1977; Hartmut Rübner, Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands, Berlin/Köln 1994.
21.) Vgl. dazu Petra Weber, Sozialismus als Kulturbewegung. Frühsozialistische Arbeiterbewegung und das Entstehen zweier feindlicher Brüder Marxismus und Anarchismus, Düsseldorf 1989.
22.) Vgl. zur antimilitaristischen Bewegung in Frankreich den Bericht der Confédération Générale du Travail für die internationale Konferenz der Gewerkschaftssekretäre in Dublin: Antimilitarismus und Generalstreik, Berlin 1904; ferner Hubert Lagardelle, Die syndikalistische Bewegung in Frankreich, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 26, 1908, S. 607 - 610; Nettlau (Anm. 19), S. 371 - 374; zahlreiche zeitgenössische Beiträge dokumentiert Jean Rabaut, L' antimilitarisme en France 1810 -1975. Paris 1975.
23.) Gustave Hervé, Das Vaterland der Reichen. Zürich 1907. Das Vorwort schrieb der wegen anarchistischer Positionen aus der SPD ausgeschlossene Arzt Raphael Friedeberg.
24.) Hervé rückte schon vor dem Ersten Weltkrieg von seinem Antimilitarismus und Antipatriotismus ab, wurde im Krieg zum fanatischen Chauvinisten und näherte sich in der Folgezeit den Positionen der rechtsradikalen "Action Française" an. Vgl. zu dieser Kehrtwendung den Kommentar Gustav Landauers: Deutschland, Frankreich und der Krieg [1913], in: ders., Rechenschaft, Berlin 1919, S. 123 - 138.
25.) Vgl. Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart 18. bis 24. August 1907, Berlin 1907, S. 81 - 105.
26.) Roller, Die direkte Aktion (Anm. 20), S.60.
27.) Soldaten-Brevier, zit. nach dem Neudruck in: Bröckling (Anm. 3), S. 76.
28.) August Bebel in einer Reichstagsrede aus dem Jahr 1904, zit. nach Christoph Butterwegge/Heinz-Gerd Hofschen, Sozialdemokratie, Krieg und Frieden, Heilbronn 1984, S. 63.
29.) Soldaten-Brevier, zit. nach dem Neudruck in: Bröckling (Anm. 3), S. 55.
30.) Ebd., S. 56f.
31.) Ebd., S. 76f. Aufgegriffen wurde der Vorschlag, bei Kriegsausbruch die Kommunikations- und Transportwege zu sabotieren, in einer 1914 in London von einem "D'Alba-Masetti-Schinas-Antimilitarismuskomite des internationalen Anarchismus" herausgegebenen Broschüre in deutscher Sprache. Unter dem Titel "Krieg dem Krieg. Was die Arbeiterklasse im Kriegsfalle zu tun hat. Grundsätzliches und Praktische Aktionsmittel" finden sich dort detaillierte Anweisungen zur Herstellung von Sprengstoff zur Zerstörung von Lokomotiven, Bahnanlagen, Strom-, Gas- und Telefonleitungen sowie zur allgemeinen Desorganisation der kapitalistischen und staatlichen Ordnung. Durchgefuhrt werden sollten die Sabotageaktionen von konspirativ arbeitenden "revolutionären Kampfgruppen", die nicht mehr als fünf oder sechs Mitglieder umfassen durften. Ob diese unmittelbar vor Kriegsbeginn gedruckte und von einem verzweifelten Aktivismus getragene Flugschrift nach Deutschland gelangt ist, ließ sich nicht ermitteln. Das einzig nachzuweisende Exemplar befindet sich im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam
32.) Einen systematischen Überblick über Tolstojs Sozialethik gibt Wolfgang Sandfüchs, Dichter - Moralist - Anarchist. Die deutsche Tolstojkritik 1880 - 1900, Stuttgart 1995, S. 24-42,218- 237.
33.) Leo N. Tolstoj, Mein Glaube [1882/84], Jena 21917, S. 23.
34.) Ders., Eines tut not. Über die Staatsmacht [1905], in: ders., Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, Frankfurt 1983, S. 84.
35.) Ders., Gottes Reich ist in Euch, Berlin 1894, S. 152f.
36.) Ebd., S. 155.
37.) Sandfuchs (Anm. 32), S. 221.
38.) Tolstoj, Gottes Reich (Anm 35), S. 156.
39.) Ebd., S. 174.
40.) Vgl. u.a. Georg von Gizycky, Anmerkungen zu Graf Leo Tolstoys Abhandlung über Religion und Moral, in: Ethische Kultur, Jg. 2, 1894, S. 30 - 40, 51 - 53; Friedrich Wilhelm Foerster, Idealer Anarchismus, ebd., Jg. 4, 1896, S.202/3; Heinrich Her- kner, Der Anarchismus, ebd., S. 377 - 380, 387 - 389.
41.) Vgl. Paul Eltzbacher, Der Anarchismus, Berlin 1900; ders.. Die Rechtsphilosophie Tolstoj's, in: Preussische Jahrbücher, Bd. 100, 1900, S. 266 - 282.
42.) Vgl. insbesondere Bruno Wille, Christlicher Anarchismus? Betrachtungen über den Egidy-Tag, in: Freie Bühne für modernes Leben, Jg. 2, 1891, S. 561 - 566; ders., Tolstois Verherrlichung der Körperarbeit, ebd., S. 57 - 62; ders., Die Philosophie des reinen Mittels, ebd., 3. Jg., 1892, S. 21 - 31, 145 - 154, 278 - 288. 406 - 416, 528 - 538, 627 - 633.
43.) Sandfuchs (Anm. 32), S. 336. Zur deutschen Tolstoj-Rezeption vor 1914 vgl. außerdem Edith Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993; dies., Das "spezifisch intellektualistische Erlösungsbedürfnis" Oder: Warum Intellektuelle Tolstoi lasen, in: Gangolf Hübinger/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt/M. 1993, S. 158 - 171.
44.) Vgl. u.a.: An die Soldaten und jungen Leute, Berlin 1905, mit einem Nachwort von Johannes Holzmann (Senna Hoy); Der Staat und der Militarismus, in: Der freie Arbeiter, Beilage: Antimilitarismus, Jg. 1, November 1905; Zum Wesen der Regierungen, ebd., Jg. 2, August 1906; Der Patriotismus, ebd., Jg. 2, September 1906; Rede gegen den Krieg, in: Der Sozialist. Neue Folge, Jg. 1, Nr. 20, 1.12.1909, mit einem Vorwort von Gustav Landauer; Patriotismus, in: Die Aktion, Jg. 1, 1911, Nr. 4, Sp. 101 - 104; Ueber die Abschaffung des Staates, in: Der freie Arbeiter, Jg. 8, Nr. 6, 11.2.1911.
45.) Nettlau (Anm. 19), S. 440.
46.) Gustav Landauer, Die geschmähte Philosophie [1893], in: Signatur g.l. - Gustav Landauer im "Sozialist". Aufsätze über Kultur, Politik und Utopie (1892 - 1899), Frankfurt/M. 1986, S. 278. Positiver dagegen Landauers Nachruf: Lew Nikolaje- witsch Tolstoi [1910], in: ders., Der werdende Mensch, Potsdam 1921, S. 199 - 205.
47.) Ders.: Etwas über Moral [1893], ebd., S. 284.
48.) Vgl. Nettlau (Anm. 19), S. 435 - 454, dort auch zahlreiche kritische Stellungnahmen von anarchistischer Seite zu Tolstoj; zu den niederländischen Christen-Anarchisten Gemot Jochheim, Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und soziale Verteidigung, FrankfUrt/M. 1977.
49.) Rudolf Oestreich, Wegen Hochverrats im Zuchthaus, Berlin 1913, S. 3. Oestreich wurde wegen antimilitaristischer Artikel im "Freien Arbeiter" zunächst zu sechs Wochen Gefängnis, in einem weiteren Verfahren wegen Hochverrats zu drei Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt. Vgl. dazu Linse (Anm. 4), S. 36 - 39.
50.) Franz Jung, Der Torpedokäfer, Neuwied/Berlin 1972, S. 95.
51.) Vgl. exemplarisch die Beilage "Antimilitarismus" der Berliner Zeitschrift "Der freie Arbeiter", die zwischen Oktober 1905 und Oktober 1906 monatlich erschien. Nach einer Verurteilung des Redakteurs Rudolf Oestreich wegen zweier Artikel über den Hauptmann von Köpenick wurde die Beilage eingestellt. Gustav Landauers 1911 in einer Auflage von 100.000 gedruckte Flugschrift "Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes. Fragen an die deutschen Arbeiter" wurde vor ihrer Verteilung wiederum von der Polizei beschlagnahmt und vernichtet. Der Text erschien dann 1919 in Landauers Aufsatzsammlung "Rechenschaft" (Anm. 24), S. 39 - 57.
52.) Einiges Aufsehen erregte 1896 der Fall des elsässischen Mennoniten Gottlieb Thröner. Vgl. die Kontroverse in der Zeitschrift "Ethische Kultur: F. Staudinger, Der Fall Thröner und die absolute Ethik, in: Ethische Kultur, Jg. 4, 1896, S. 189/190; Paul Natorp, "Der Fall Thröner und die Ethik". Bemerkungen zu F. Staudingers Aufsatz, ebd., S. 201f. In seiner "Antimilitarismus"-Beilage vom Januar 1906 berichtet "Der freie Arbeiter" über einen Prozeß gegen einen adventistischen Kriegsdienstverweigerer in Mainz.
53.) M. Koppen, Ueber einen reinen Fall von überwertiger Idee und über seine forensische Beurteilung, in: Charite-Annalen, Jg. XXIX, 1905, S. 301 - 313. Ein anderer Kriegsdienstverweigerer, Hermann Wetzel, verfaßte eine Broschüre mit dem Titel "Die Verweigerung des Heerdienstes und die Verurteilung des Krieges und der Wehrpflicht in der Geschichte der Menschheit", Potsdam 1905, in der er sich ebenfalls auf Tolstoj sowie den panentheistischen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause berief. Er sandte seine Schrift an die Ersatzkommission des zuständigen Aushebungsbezirks. Diese umging jedoch eine strafrechtliche Verfolgung, indem sie Wetzel für untauglich erklärte.
54.) Zur Militärpsychiatrie während des Ersten Weltkriegs vgl. Esther Fischer- Homberger, Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden, Bern 1975, S. 136 - 170; Peter Riedesser/Axel Verderber, Aufrüstung der Seelen. Militärpsychiatrie und Militärpsychologie in Deutschland und Amerika, Freiburg 1985; Karl Heinz Roth, Die Modernisierung der Folter in den beiden Weltkriegen. Der Konflikt der Psychotherapeuten und Schulpsychiater um die deutschen "Kriegsneurotiker" 1915 - 1945, in: 1999, Heft 3/1987, S. 8 - 75; Günter Komo, "Für Volk und Vaterland". Die Militärpsychiatrie in den Weltkriegen, Münster 1992; Bernd Ulrich, Nerven und Krieg, in: Bedrich Loewenstein (Hg.), Geschichte und Psychologie. Annäherungsversuche, Pfaffenweiler 1992, S. 163 - 192.
55.) Koppen (Anm. 53), S. 305 - 309.
56.) Ebd., S. 312.
 
Aus: Gestrich / Niedhart / Ulrich (Hg.): Gewaltfreiheit. Pazifistische Konzepte im 19. und 20. Jahrhundert. Münster, LIT (1996) (Jahrbuch für Historische Friedensforschung Nr. 5). Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Autors.