Domela Nieuwenhuis - Sozialdemokratischer und anarchistischer Antimilitarismus (1908)

Vorbemerkung

In seinem Buche über den "Militarismus und Antimilitarismus" hat Dr. Liebknecht sich in längeren, teils offenen teils versteckten Angriffen wider unseren holländischen Genossen Domela Nieuwenhuis gewandt. Derselbe veröffentlichte seine Antwort in der vlämischen Monatsschrift "Ontwaking", die Liebknecht zugesandt wurde, lange bevor er seine Festungsstrafe antrat. Unserem Wunsche und unserer Bitte u m eine Übersetzung dieser Antwort hat der Genosse N. entsprochen, und wir bieten sie in Nachfolgendem dem deutschen Leser dar; mit einigen Erweiterungen, welche N. für die Veröffentlichung in der "Freien Generation" besonders hinzufügte. Noch sei bemerkt, daß L. auf diese Antwort niemals reagierte.

Die Red.

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Der Antimilitarismus genießt die große Ehre, von den Mächtigen und Tonangebenden der Gesellschaft am meisten gehaßt und verfolgt zu werden. Wer den Militarismus angreift, der — das fühlen sie — greift die Fundamente der modernen Gesellschaft an. Man scheint es genugsam zu begreifen, daß diese unmöglich weiter bestehen kann ohne des Militarismus, darum der große Haß, welchen der Antimilitarismus erweckt. Anderseits hat er zur Folge, daß selbst die Sozialdemokratie sich gezwungen sieht, Stellung zu ihm zu nehmen, wenn anders sie nicht jeden Einfluß auf die Arbeiter verlieren will, besonders auf die jugendlichen Kräfte. Die beliebte Universalformel, nach welcher alles zur Privatsache gemacht wird, wagte man nicht, auch hier zu applizieren.

Sind die Sozialdemokraten keine Antimilitaristen? Sie beantworten selbst diese Frage. Bebel sagte auf einem der Parteikongresse, daß es "keine sozialdemokratische Partei in der ganzen Welt gebe, die soviel gegen den Militarismus kämpfe, wie die deutsche Sozialdemokratie!"

Leider ist dies nur ein Selbstlob, denn in allen anderen Ländern beschuldigt man diese Partei, den Militarismus nur sehr schwach und mit schwächlichen Mitteln zu bekämpfen. Wohl stemmt man sich gegen das Budget des Krieges und der Marine, übt Kritik an den diversen Auswüchsen des Militarismus, doch man greift ihn nicht in seinem Wesen an. Tatsächlich tut man dasselbe mit der Religion, Regierungsform, Prostitution, dem Alkoholismus usw. indem man sie alle als die Folgen des Kapitalismus hinstellt, welche mit dessen Sturz selbst verschwinden würden. Allerdings ist dieses nicht ganz unwahr; gewiß ist aber auch, daß die spezielle Bekämpfung all dieser Dinge das Ihrige dazu beiträgt, um den Zusammensturz des Kapitalismus zu beschleunigen.

In den letzten paar Jahren fingen auch die Sozialdemokraten notgedrungen damit an, sich mit dem Antimilitarismus zu beschäftigen; trotz aller Anfeindungen der Bebel und Vollmar hat Dr. Liebknecht diese Frage nicht ruhen lassen und als Frucht seines Wirkens das Werkchen über den "Militarismus und Antimilitarismus" herausgegeben. Diese Broschüre ist so eigenartig für die Sozialdemokratie, daß es sich wohl verlohnt, sie etwas gründlicher zu besprechen, besonders dorten, wo sie Bezug nimmt auf die Anarchisten und den anarchistischen Antimilitarismus; dann auch noch insbesondere auf mich.

Das Büchlein ist natürlich deutsch geschrieben, will heißen: hochwissenschaftlich und gediegen; alles Nichtdeutsche ist selbstverständlich oberflächlich. So konstatiert es an einer Stelle, daß die deutsche Sozialdemokratie ihre Pflicht in Sachen des Antimilitarismus getan habe, an anderer wieder, daß sie an besonderer propagandistischer Tätigkeit, die sich speziell an die künftigen Wehrpflichtigen wendet, "fast noch nichts" getan hat. Wenn wir aber genau zusehen, werden wir finden, daß die Sozialdemokratie, gleich einer Natter im Grase, die antimilitaristische Propaganda nur deshalb aufnimmt, "um den anarchistischen Antimilitarismus ... im Keime zu ersticken".

Doch was ist solch ein Antimilitarismus? Manchen werden diese Fragen verblüffen, aber die Antwort lautet doch: Ja! Man muß sich eben allmählich daran gewöhnen, den Unterschied zwischen Anarchismus und Sozialdemokratie nicht nur im praktischen, sondern auch in allen prinzipiellen Fragen zu erblicken. Liebknecht konstatiert ihn wie folgt: "Die sozialdemokratische Auffassung (des Antimilitarismus) ist geschichtlich-organisch; die anarchistische willkürlich-mechanisch." Wohl lese ich diese Gelehrsamkeit mit andächtigem Staunen, nur ist und bleibt es ein Unglück, daß man auch durch Gelehrsamkeit die Unwahrheit nicht wahr machen kann.

Hören wir ihn weiter: "Der Anarchismus arbeitet in erster Linie mit ethischem Enthusiasmus ... kurz mit allerhand Impulsen auf den Willen..." Liebknecht verwirft dies nicht unbedingt; denn er sagt weiter: "Gewiß, sie — die Sozialdemokratie — verwendet auch ethische Argumentationen, das ganze Pathos des kategorischen Imperativs ... Das spielt hingegen hier nur eine sekundäre Rolle..."

Gemach, Herr Kritiker und trösten Sie sich: Auch bei Anarchisten! Sonst aber würde es gerade aus Liebknechts Darstellung folgen, daß beide Strömungen mit denselben Mitteln arbeiten, wenigstens dasselbe wollen. Somit kein Unterschied und dennoch ein Unterschied.

Wie vollbringt der Verfasser dieses gedankliche Kunststück? Durch folgende Leistung: "Für den Anarchismus ist die Beeinflussung des Willens die einzig wesentliche Voraussetzung des Erfolges; für die Sozialdemokratie kommt sie neben der objektiven wirtschaftlichen Entwicklungsstufe, von denen keine, auch nicht durch den besten Willen der Massen und einer Klasse, übersprungen werden kann, nur sekundär in Betracht."

Sehr gut. Nur einen Fehler hat diese Umschreibung, nämlich daß sie vollständig unrichtig ist. Kann man es bei einigem guten Willen annehmen, daß die Anarchisten so dumm sind, nicht zu wissen, daß man mit den ökonomischen Verhältnissen zu rechnen hat? Lassen wir das Wort "objektiv" beiseite; es ist schlecht gewählt, da wir die Dinge stets mit unseren subjektiven Sinnesorganen wahrnehmen. Mechanisch ist jene Auffassung, laut welcher die Dinge "ganz von selbst" kommen müssen, und der Mensch eigentlich nur ein willenloses Werkzeug, ein kleines Rad an einer großen Maschine des Geschehens ist.

Liebknecht belehrt uns weiter: "Auch darin zeigt sich der grundsätzliche Unterschied bei der Grundauffassungen, daß es der Anarchismus für möglich hält, durch ein kleines, entschlossenes Häuflein alles zu vollbringen ... Gewiß ist auch der Sozialismus der Ansicht, daß eine gut qualifizierte, entschlossene und zielklare Minderheit, die Massen in entscheidenden Augenblicken mit sich fortreißend, einen wichtigen Anstoß ausüben kann. Der Unterschied ist jedoch der, ob man, wie es der Sozialismus tut, einen solchen Einfluß nur in dem Sinne erstrebt und für möglich hält, daß jene Minderheit nur Erwecker und Vollstrecker des Willens der Masse ist, desjenigen Willens, den diese vermöge der besonderen Situation als ihren sozialen Willen zu entfalten reif und fähig ist, oder in dem Sinne, daß ein entschlossenes Häuflein Handstreichler Vollstrecker nur eines eigenen Willens und sich der Massen nur als Werkzeug zu diesem seinem Zwecke bedient, wie es der Anarchismus als ein wahrer aufgeklärter Despotismus tut."

Es ist auch sonst sehr begreiflich, aber stets ein Beweis wohl erkannter eigener Schwäche, wenn man, um seinen Standpunkt zu wahren, die Meinung des Gegners durchaus falsch darstellen muß. Es würde mich tatsächlich interessieren, zu erfahren, wo Liebknecht diese Anschauung des Anarchismus entdeckt hat. Daß die Blanquisten solche Gedanken hegten, die Sozialdemokraten mit ihrer "Diktatur des Proletariats" naturnotwendig dazu gelangen müssen, da sie doch niemals das Gesamtproletariat gewinnen können — das ist bekannt. Vom Anarchismus wissen wir aber, daß es sich bei ihm nicht darum handelt, die Macht zu erringen, sich selbst an deren Stelle zu setzen. Er weiß im Gegenteil sehr wohl, daß jede Bewegung mißlingen muß, die nicht genügend im Volke wurzelt.

Herr Liebknecht will seinen Lesern auch einreden, daß die Anarchisten den Militarismus als etwas Selbständiges bekämpfen und glaubten, ihn ohne den Kapitalismus abschaffen zu können. Haben wir es bei einer solchen Behauptung mit Unwissenheit oder bewußter Verdrehung zu tun? Die Anarchisten haben es stets betont, daß der Militarismus nicht ganz beseitigt werden kann, so lange der Kapitalismus ungeschmälert besteht. Aber der Unterschied zwischen den Sozialdemokraten und uns ist in Wahrheit darin gelegen, daß wir Anarchisten wohl wissen, daß mit der Beseitigung desKapitalismus, deshalb und damit der Militarismus noch nicht beseitigt ist.

Hier liegt die Kernfrage des ganzen Problems, wir wiederholen es. Die Sozialdemokraten wollen den Militarismus nicht an der Wurzel treffen; sie wollen bloss ein Volksheer, ähnlich demjenigen der Schweiz, statt des bestehenden Heeressystems. Sie wollen nur eine Form- keine Wesensänderung. Was die Sozialdemokraten Antimilitarismus nennen, sind in Wahrheit Reformen im Heere, z.B., die Aufbesserung der Besoldung, der Verpflegung, Bekleidung, der Kasernen, Behandlung, Diensterleichterung, Bekämpfung der Soldatenmißhandlungen etc. etc., kurz, das, was auch radikale Bourgeois wollen. Die Sozialdemokratie ködert während den Wahlen nach der Unterstützung sowohl der Soldaten wie auch des Offizierstandes; sie greifen den Militarismus nicht als Institution an. Nur wir "dummen" Anarchisten sagen: Selbst wenn alle diese Forderungen ganz hinlänglich und redlich befriedigt werden könnten — selbst dann werden wir noch immer Antimilitaristen sein!

Erkennt man nun den Unterschied? Wir sind prinzipielle Gegner des Militarismus in allen seinen Formen, auch in jener eines Volksheeres, selbst im sozialdemokratischen Zukunftsstaat. Sie — die Sozialdemokraten — bemängeln nur die Form des Militarismus, dessen Wesen und Existenzberechtigung überhaupt, lassen sie ganz unberührt.

Liebknecht nennt die eine taktische Methode der antimilitaristischen Anarchisten, den Militärstreik zur Zeit einer Kriegsmobilisation herbeiführen zu wollen, fatalistisch und behauptet, die Anarchisten wollten einen solchen gewissermassen aus der blauen Luft hervorzaubern. Vielleicht hat er sogar recht, was Deutschland anbetrifft, denn, so führt er aus, "der antipatriotische Militarismus hat in Deutschland keinen Boden und wird keinen Boden finden." Der Mann der 3 1⁄4 Millionen Partei spottet seiner selbst und weiß gar nicht wie sehr! Denn uns, die anarchistischen Antimilitaristen treffen alle diese Hiebe nicht. Allerdings, wenn unsere Propaganda nicht fortwährend behindert werden würde von den herrschenden Gewalten und der Sozialdemokratie, manches wäre anders ...; hätte man meinem Vorschlag zu Brüssel Folge geleistet und vor zehn Jahren eine konsequent antimilitaristische Propaganda in Deutschland begonnen, wir wären heute viel weiter, als wir es sind. Denn uns ist die Evolution einer Idee bekannt: erst allmählich wird sie von den Menschen begriffen. Aber vor allem muß das Pflanzen ihres Samens beginnen, dann folgt die Periode der Propaganda, welche die Geister auf- und wachrüttelt; ist der Enthusiasmus und die Erkenntnis ihrer Wesensart vorhanden, dann findet sie sich ganz allein ihren Weg, allen Anfeindungen zum Trotz.

Sehr charakteristisch für den anarchistischen Antimilitarismus ist für Liebknecht meine Broschüre "Krieg dem Kriege", welche er jedoch weniger kritisiert als — abfertigt. Eine gute, ernste Kritik würde mich mit Genugtuung erfüllt haben; aher leider scheint er einer solchen nicht fähig zu sein. Lauschen wir seiner Weisheit: "Für ihn (nämlich für mich) sind zwar nicht die gekrönten Könige die Herren der Welt, aber die Bankiers, die Finanzleute, die Kapitalisten, keineswegs der Kapitalismus als organisch notwendige Gesellschaftsordnung."

Vollständig unwahr! Nie habe ich dies gesagt. Ich führte im Gegenteil aus, daß die Kriege aus dem Kapitalismus hervorgehen und infolge dessen mit diesem möglich und unmöglich werden. Ist es wirklich unbedingt notwendig, die Meinung eines Gegners zu fälschen, auch wenn dieselbe sich vollständig mit dem deckt, was man selbst behauptet?!

Aber hören wir ihn weiter: "Für ihn ist die Reaktion die Partei der Autorität, die sich ausbreitet vom Papste bis zu Karl Marx." Allerdings kann ich seine bitterböse Stimmung begreifen, wenn er sieht, in welchem Zusammenhange ich den Namen Karl Marx gebrauche. Doch er zürnt leider nur dem, der die Wahrheit spricht, nicht dem, der diese unangenehme Wahrheit verursacht.

Die unangenehme Wahrheit lautet hier folgendermaßen: Eine jede Partei der Autorität — und dies ist die sozialdemokratische ganz ebenso wie die konservative, verschieden nur in den Formen — muß, falls siegreich, ein Machtmittel haben, um sich behaupten zu können. Dieses Machtmittel jeder Staatsform bietet sich im Militarismus dar. Somit muß die Sozialdemokratie prinzipiell militaristisch, kann nicht antimilitaristisch sein. Sind nicht die Finanziers, die Kapitalisten die Träger des Kapitalismus? Sie sind es. Damit ist es auch ganz folgerichtig, sie mit dem Wesen des Kapitalismus selbst zu identifizieren. Haarspalterei betreiben, kann nie bedeuten, recht zu haben; man täte so manches mal besser zu schweigen.

Ich sagte, sie könne nicht prinzipiell, antimilitaristisch sein. Denn der Sozialdemokratie handelt es sich in ihrem ganzen "Kampfe" gegen den Militarismus nur darum, daß dieser sich gegenwärtig in den Händen der herrschenden Klasse befindet und nicht in ihren eigenen! Hier ergeben sich die prinzipiellen Scheidungslinien: Die Sozialdemokraten wollen die Umgestaltung des bestehenden Heeres in ein Volksheer, die Anarchisten wollen die Überwindung des Militarismus überhaupt und bekämpfen ihn somit als Institution, ganz ebenso wie sie den Staat bekämpfen. Wir können vertrauensvoll in die Zukunft blicken: Die Zeit wird kommen, wo die Proletarier aller Länder die Idee begreifen werden, diese Idee des Friedens und der Kultur, die nicht zuletzt gerade von den Sozialdemokraten aufs Grimmigste bekämpft wird.

Aber diese prinzipienlose Propaganda beginnt bereits, sich zu rächen. Eine so harmlose Broschüre, wie jene Liebknechts, die in einem Lande wie Frankreich als ausgesprochen reaktionär erscheinen würde, sie sogar ist sofort unterdrückt, ihr Verfasser — wegen Hochverrat angeklagt worden!

Allen diesen flagranten Übergriffen des deutschen Staates steht die Dreimillionenpartei machtlos gegenüber, sie kann Liebknecht nicht beistehen, sie wird ihn ruhig, ohne revolutionären Protest ins Gefängnis ziehen lassen.

Das ist der Fluch der bösen Tat der Sozialdemokratie, die aus der Arbeiterbewegung eine Karrikatur gemacht hat. Wir Anarchisten sind es, die wir sie, wie auch den Antimilitarismus davor bewahren müssen, eine Karrikatur auf ihre wahren Prinzipien zu sein. Der Antimilitarismus darf keine Karrikatur werden, an uns ist es, für ihn eine gesunde und kämpfende Bewegung zu begründen, die wahrhaft antimilitaristisch sein soll.

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 10, April 1908. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.