Rudolf Rocker - Zum 1. Mai

Über Waldheims stille Gräber huscht das erste Frühlicht des jungen Maientages und zittert leise auf dem schlichten Denkmal der fünf Anarchisten, die im November 1887 den Tod durch Henkers Hand erleiden mußten. Aus dem gemeinschaftlichen Grabe jener Fünf erwuchs uns die weltumfassende Idee des ersten Mai - eine machtvolle Erfüllung der letzten Worte August Spies’, da ihm der Henker den fatalen Stick um den Hals legte: - „Die Zeit wird kommen, da unser Schweigen im Grabe mächtiger sein wird als die Stimmen, die ihr heute erdrosselt."

Der grauenvolle Mord von Chicago war der düstere Epilog jener großen Bewegung, die am ersten Mai 1886 in allen Industriezentren der Vereinigten Staaten einsetzte, um dem amerikanischen Proletariat mit der Waffe des Generalstreiks den Achtstundentag zu erkämpfen. Jene Fünf aber, deren Gebeine unter dem grünen Rasen Waldheims ruhen, waren die kühnsten und begeistertsten Rufer in dem großen Kampfe zwischen Kapitel und Arbeit die ihre Treue zu den darbenden Brüden mit dem Leben bezahlen mußten.

Inspiriert vom Geiste der fünf Gemordeten, faßte der Internationale Kongreß von Paris im Jahre 1889 den Beschluß, den ersten Mai als internationalen Feiertag des Weltproletariats zu verkünden, und niemals löste ein Beschluß in den dürftigen Heimstätten der Enterbten und um das Leben Betrogenen ein so machtvolles und begeistertes Echo aus wie dieser. Erkannte man doch in der praktischen Ausführung dieses Beschlusses ein Symbol kommender Befreiung.

Weder die blinde Wut der Ausbeuter noch die jämmerlichen Abschwächungsversuche der sozialistischen Parteipolitiker waren imstande, den tiefen Sinn dieser einzigartigen Kundgebung zu verwischen oder auf die Dauer zu verschleiern. Wie ein zündender Funken lebte der Gedanke in dem Riesenherzen des werktätigen Volkes aller Länder und konnte sogar in den Zeiten schlimmster Reaktion nicht mehr ausgetilgt werden. Denn es war ein Gedanke, der aus der Tiefe kam und der den Geist der Massen mächtig anregen mußte, eine jauchzende Hoffnung, die nach lebendigem Ausdruck rang und die machtvoll und mahnend an das Gewissen der Geknechteten appellierte. Wie eine neue Erkenntnis drang es empor aus der Tiefe. Nicht von oben kann uns das Heil erblühen, von unten her muß uns die Kraft kommen, die unsere Ketten lösen und unserer Sehnsucht Flügel geben wird.

Ein Symbol ist uns der erste Mai, ein Symbol der sozialen Befreiung im Zeichen der direkten Aktion, die im Generalstreik ihren vollendetsten Ausdruck findet. Alle, die im Frone schmachten und denen die tägliche Sorge um die Existenz ihren Stempel aufdrückt, die ganze ungeheure Armee derer, welche die Schätze der Unterwelt zu Tage fördern, am Hochofen stehen oder den Pflug durch die Felder führen, alle die Millionen, die in ungezählten Fabriken und Werkstätten dem Kapital seinen menschenfressenden Tribut entrichten müssen, die Hand- und Kopfarbeiter aller Kontinente, sie alle sind Teile jenes großen und unbesiegbaren Bundes, aus dessen Tiefen uns eine neue Zukunft kommen wird, sobald die Erkenntnis ihres trostlosen Daseins den einzelnen Gliedern machtvoll zum Bewußtsein kommen wird. Auf ihren Schultern ruht eine ganze Welt; sie tragen das Schicksal jeder Gesellschaft in ihren Händen, und ohne ihre schöpferische Tätigkeit ist jedes menschliche Leben zum Tode verdammt.

Der Verkauf ihrer Hände und ihres Geistes Arbeit ist die verborgene Ursache ihrer Knechtschaft und Hörigkeit, so muß ihnen denn die Verweigerung ihrer Arbeitskraft dem Monopolisten gegenüber das Mittel zur Befreiung werden. An dem Tage, wo diese Erkenntnis den Geist der Geknechteten erleuchten wird, an diesem Tage beginnt die große Götterdämmerung der sozialistischen Gesellschaft.

Ein Stück Anschauungsunterricht soll uns der 1. Mai sein, um den Mühseligen und Beladenen die gewaltige Kraft, die sie in ihren Händen tragen, praktisch zum Bewußtsein zu bringen. Denn diese Kraft hat ihre Wurzeln in der Wirtschaft, in unserer Tätigkeit als Produzenten. Von hier aus wird die Gesellschaft jeden Tag neu geboren; empfängt sie jede Stunde die Möglichkeit ihrer Existenz. Nicht den Parteimann gilt es zu erreichen, sondern den Bergmann, den Eisenbahner, den Schmied, den Bauer - den Menschen, der gesellschaftliche Werte schafft und dessen Schöpferkraft die Welt in ihren Fugen hält. Hier ist der Hebel unserer Kraft; an dieser Esse muß die Waffe geschmiedet werden, die das goldenen Kalb zur Strecke bringen wird. - Nicht die Macht gilt es zu erobern, sondern die Fabrik, das Feld, den Schacht. Ist doch jede politische Macht nie etwas anderes gewesen als die organisierte Gewalt, welche die breiten Massen des Volkes in die wirtschaftliche Abhängigkeit privilegierter Minoritäten zwingt. Politische Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung gehen immer Hand in Hand, sie ergänzen sich gegenseitig, und die eine kann nicht bestehen ohne die Hilfe der anderen. Es ist unsinnig zu glauben, daß zukünftige Machtgebilde von dieser Regel eine Ausnahme machen werden. Nicht die äußerliche Etikette, sondern das Wesen einer Institution ist entscheidend, und die schlimmste Form der Tyrannei war stets die, welche im "Namen des Volkes" ausgeübt wurde. Denn nie ist es das Volk oder die Klasse, die herrscht, sondern immer die jeweiligen Machthaber, die sich anmaßen, im Namen des Volkes oder einer Klasse zu regieren, und denen "Volk" und "Klasse" nur bequeme Aushängeschilder sind, um ihre persönlichen Machtgelüste zu verbergen. - Deshalb ist jeder wahre Kampf gegen das Monopol des Besitzes in derselben Zeit auch ein Kampf gegen die Macht, die es schützt, und ebenso wie das Endziel des kämpfenden Proletariats auf wirtschaftliche Gebiete die Ausschaltung und Überwindung des Privatmonopols in jeder Form ist, so muß auch sein politisches Ziel die Ausschaltung und Überwindung der Machtinstitution sein. Wer das eine erstrebt, um das andere zu überwinden, hat die wahre Bedeutung des Sozialismus überhaupt nicht begriffen und ist nur Testamentsvollstrecker desselben Autoritätsprinzips, das bisher der Eckstein jeder Tyrannei gewesen ist.

Und ein Symbol internationaler Solidarität soll der 1. Mai sein, nicht begrenzt durch die heimatlichen Schranken des nationalen Staates, die immer nur den Interessen der privilegierten Minderheiten im Lande entsprechen. Zwischen den Millionen, die das Joch der Lohnsklaverei auf ihren Schultern tragen müssen, besteht eine Einheitlichkeit der Interessen, einerlei welche Sprache sie reden und unter welcher nationalen Flagge sie geboren werden. Aber zwischen den Ausbeutern und Ausgebeuteten desselben Landes besteht ein ununterbrochener Krieg, der durch keinen Machtanspruch geschlichtet werden kann und der seine Wurzeln in den entgegengesetzten Interessen der verschiedene Klassen hat.

Jeder Nationalismus ist nur eine ideologische Verhüllung der nackten Tatsachen, der wohl für einen gegebenen Moment die breiten Massen in seinen lügnerischen Bann schlagen kann, der aber nie imstande ist, die brutale Wirklichkeit der Dinge aus der Welt zu schaffen. Dieselben Klassen, die zur Zeit des Weltkrieges den Patriotismus des Volkes bis zur Siedehitze zu steigern versuchten, verschieben heute die Arbeitsprodukte des deutschen Proletariers nach dem ehemals "feindlichen Ausland", während es den breiten Massen im eigenen Lande am Notwendigsten gebricht. Die sogenannten nationalen Interessen der herrschenden Klassen wurden nur dann von ihr auf den Schild gehoben, wenn sie mit den Interessen ihres Geldbeutels identisch waren und die notwendigen Prozente einbrachten. - Und wenn Millionen armer Teufel im Wahnsinn des großen Völkermordens ihr Leben oder ihre gesunden Glieder lassen mußten, so geschah es nicht deshalb, weil sie dies ihrer nationalen Ehre schuldig waren, sondern weil ihr Gehirn von künstlich erzeugten Vorurteilen umnachtet war und sie ihre eigenen Interessen nicht verstanden haben.

Und diese blutige Tragödie wird sich so oft wiederholen, als die Arbeiter die wahren Triebfedern des Krieges und der nationalen Harlekinade nicht erkennen werden. Nicht pazifistische Redensarten, sondern unermüdliche Bekämpfung des militaristischen Geistes ist uns vonnöten. So lange die Arbeiter noch immer bereit sind, selbst die Instrumente des gewaltsamen Todes und des Massenmordes zu erzeugen, wird das "Rote Lachen" unter den Völkern nicht verschwinden. Dem Sklaven, der seine eigenen Ketten schmiedet, wird niemals die Erlösung kommen.

Deshalb sei uns der 1. Mai eine machtvolle Kundgebung gegen jeden Militarismus und gegen die große Lüge des Nationalismus, hinter der sich stets nur die brutalen Interessen der Besitzenden verbergen.

Eine neue Zukunft gilt es zu schaffen auf den Fundamenten des freiheitlichen Sozialismus, unter dessen frischem Hauche die vermoderten Anschauungen vergangener Zeiten und die wurmstichigen Institutionen der Gegenwart im Abgrund des Gewesenen verschwinden werden, um einer Ära wahrhafter Freiheit, Gleichheit und Menschenliebe Platz zu machen.

In diesem Sinne feiern wir den 1. Mai als Symbol eines kommenden Werdens, das aus den Tiefen des revolutionären Volkes selbst emporkeimen wird, um die Welt zu erlösen vom Fluche der Klassenherrschaft und der Lohnsklaverei.

R.R.

Aus: „Der Syndikalist" 4. Jg. (1922), Nr. 16

Originaltext: www.fau-bremen.de.vu