Sozialphilosophische Arbeitsgemeinschaft Berlin/Hamburg - Revolution oder Evolution? (1968)

Die beiden Begriffe dieser Frage werden in verschiedenen Wissensgebieten gebraucht. Die Frage ist daher zunächst zu präzisieren.

In den Gesellschaftswissenschaften bezeichnet man als Evolution die im Geschichtsablauf erfolgende friedliche Fortentwicklung. Ihr gegenüber steht der gewaltsame Umsturz, die Revolution.

In den Naturwissenschaften spricht man von der "biologischen Evolution" als dem Gegenstand der Abstammungslehre und meint hiermit die Entwicklung höherer Lebensformen aus primitiveren. Anstatt der Revolution treten hier Katastrophen und Mutationen (sprunghafte Änderungen der Erbanlagen) auf.

Die Frage des Themas ist also im soziologischen Sinne zu verstehen. Von und für Anarchisten gestellt, läßt sie sich etwa folgendermaßen formulieren: Kann das Ideal der herrschaftslosen Gesellschaft durch allmähliche, friedliche Entwicklung erreicht werden, oder ist es nur durch die gewaltsame Veränderung der jeweils herrschenden Verhältnisse herbeizuführen?

Diese Frage soll in der folgenden Untersuchung klar und unwiderleglich beantwortet werden. Die Antwort darf weder zu den naturwissenschaftlichen oder soziologischen Fakten noch zu der anarchistischen Idee selber in Widerspruch stehen.

Die genauere Formulierung der Frage läßt erkennen, daß diese allein im Hinblick auf die Entwicklung einer herrschaftslosen Gesellschaft zu verstehen ist. Als erstes muß deshalb die Bestimmung dieser Gesellschaftsform erfolgen. Sodann sind die Voraussetzungen des dauerhaften Bestehens der herrschaftslosen Gesellschaft zu untersuchen und aus ihnen die Antwort auf die Thema-Frage abzuleiten.

Für die herrschaftslose Gesellschaft sind folgende Merkmale als unabdingbar festzulegen:

Die Gegner der anarchistischen Idee erklären die aufgeführten Merkmale für nicht realisierbar und deshalb die herrschaftslose Gesellschaft selbst als Utopie. Nach der "anarchistischen Gesellschaftslehre" ist die von ihr erstrebte Gesellschaftsform sehr wohl realisierbar und auf die Dauer funktionsfähig, sofern die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

  1. Das Bestehen einer nur zweckbestimmten und auf horizontaler Ebene gegliederten Gesellschaftsordnung;
  2. Gesellschaftsglieder, die ohne Ausnahme vollständig in ihrer Gesellschaft integriert sind.

Die 1. Voraussetzung enthält die Begriffe der Gesellschaftsordnung, der Zweckbestimmtheit und der horizontalen Gliederung, die zunächst zu erklären und bezüglich ihrer unbedingten Notwendigkeit zu untersuchen sind.

Gesellschaftsordnungen sind schon im Tierreich als funktionsbestimmender Überbau größerer Gemeinschaften erforderlich. Beim Menschen regeln sie nicht nur die innergesellschaftlichen Funktionen, sondern liefern dem Einzelnen die zur Eigenorientierung notwendigen Wertbegriffe. Die Gesellschaftsordnung kann daher die Verwirklichung der gemeinsamen "sittlichen Idee" genannt werden. Keine Gesellschaftsform ist ohne eine gesellschaftliche Ordnung existenzfähig.

Die Ordnung der herrschaftslosen Gesellschaft soll nach den gegebenen Voraussetzungen "nur zweckbestimmt" sein und außerdem eine "horizontale Gliederung" besitzen.

"Nur zweckbestimmt" soll hier zum Ausdruck bringen, daß die Gesellschaftsordnung allein dem natürlichen Zweck der Vergesellschaftung, d.h. nur der "Selbstverwirklichung" des Einzelnen dient. In seiner Selbstverwirklichung erreicht er das größtmögliche Maß an Freiheit. Die allgemeine Selbstverwirklichung ist das Ideal des gesellschaftlichen Seins, die "Herrschaftslosigkeit".

"Horizontale Gliederung" ist die gesellschaftliche Erscheinungsform des "egalitären Prinzips", d.h. sie bedingt ein sozial gleichwertiges Nebeneinanderbestehen der einzelnen Einheiten der Gesellschaft. Sie ist die Alternative zur vertikalen oder autoritären Gliederung.

Eine horizontale Gliederung dient ausschließlich der Kommunikation, d.h. dem gegenseitigen Informationsaustausch zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Einheiten. Werden in den Informationsfluß interessenfreie Einrichtungen eingeschaltet, etwa solche der Kybernetik (Regelungstechnik), stabilisieren sich die innergesellschaftlichen Verhältnisse ständig selbst. Das gilt sowohl für das Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen wie für das der Wirtschaft und das der kommunalen Hand. Auf humanem Gebiet werden dadurch gesellschaftliche Spannungen vermieden und die "Soziale Gleichwertigkeit" garantiert. Auf ökonomischem Gebiet sichert es die bedarfsgerechte und interessenfreie Koordination der Fachgebiete, bzw. der Vielzahl an Produktions- und Verteilereinheiten. Die gesamten gesellschaftlichen Funktionen werden durch die "Soziale Automation" einflußfrei geregelt sein (Geräte statt der Räte!). Die horizontale Gliederung ist unerläßlich dafür.

Nach dieser Darstellung kann es als erwiesen gelten, daß die erste der Voraussetzungen für das geordnete Bestehen herrschaftsloser Gesellschaften zweckmäßig und notwendig ist. (...)

Eine herrschaftslose Gesellschaft kann (...) nur auf der Grundlage allseitiger, freiwilliger Anerkennung existieren. Es ist jetzt zu beweisen, daß eine solche Anerkennung praktisch erreichbar ist, und daß sie nur durch die als zweite Voraussetzung aufgeführte "Vollständige Integration" zu erreichen ist.

Integration bedeutet Ganzheit, Unversehrtheit. Teile, die zusammen ein echtes Ganzes bilden, sind integriert. Hier handelt es sich um geistige Integration: Die Glieder einer Gesellschaft sind nur dann in ihr integriert, wenn die Normen der Gesellschaft zu integrierten Teilen ihrer Persönlichkeit geworden sind. (…)

Die einmal integrierten sozialen Normen und Verhaltensmuster machen erst die Person zur Persönlichkeit. Die Auswertung dieser Erkenntnisse im Sinne einer zielbewußten Evolution ist mit eine der Aufgaben des wissenschaftlichen Anarchismus.

Nachdem die Eignung und Durchführbarkeit der Integration außer Frage steht, ist zu überlegen, ob es daneben noch andere Möglichkeiten gibt, die die Anerkennung der herrschaftslosen Gesellschaftsordnung garantieren könnten. Manipulationen, die das normale Denken beeinträchtigen (Drogen, Gehirnwäsche usw.) sind selbstverständlich auszuschließen, da sie dem Zwang gleichzusetzen sind.

Von besonderer Bedeutung ist dagegen eine andere, immer wieder propagierte Möglichkeit, die verstandesmäßige, freiwillige Einordnung. Der Glaube an die Kraft der Vernunft, das typische Merkmal materialistischer Gesellschaftstheorien, muß in diesem Zusammenhang leider als unrealistisch und falsch bezeichnet werden. Er beruht auf veralteten, im Grunde idealistischen Auffassungen von der menschlichen Persönlichkeit, vor allem der sogenannten "Willensfreiheit". Dabei wird übersehen, daß die bewußte "Motivation" unseres Verhaltens oft durch unbewußt bleibende Einflüsse der "Tiefenperson" getäuscht und verfälscht wird. Vernunft und Wille gehören zwar zu den Grundlagen der herrschaftslosen Gesellschaft, bieten aber für sich alleine keine Gewähr für soziales Verhalten.

Der Einwand, daß auch die Integration eine Art von Zwang darstelle, ist leicht zu widerlegen. Die gesellschaftliche Prägung kann nicht als Zwang bezeichnet werden, da sie einem Anspruch des Einzelnen an die Gesellschaft entspricht. Sie wird nur dann zu Zwangshandlungen führen, wenn die integrierten Normen nicht rational begründet sind. Da die anarchistische Gesellschaftsordnung und die ihr gemäße Sittlichkeit nur rational begründet sind, können sie kein Anlaß für Konflikte in und zwischen den Gesellschaftsgliedern sein.

Damit ist bewiesen, daß das geordnete Bestehen einer herrschaftslosen Gesellschaft sowohl eine entsprechende. Gesellschaftsordnung als auch vollständig integrierte Gesellschaftsglieder voraussetzt. Die Antwort auf die Frage, wie sich diese Voraussetzungen verwirklichen lassen, ob durch Revolution oder die Mittel der Evolution, wird zugleich die Antwort auf unsere Thema-Frage sein.

Zur Entscheidung bedarf es keiner besonderen Kenntnisse. Schon ein einfaches Überdenken der ermittelten Voraussetzungen zeigt, daß die Frage nicht durch ein Entweder-Oder zu beantworten ist.
Revolutionen sind nicht konstruktiv, sie ändern nur die bestehenden Machtverhältnisse. Auch eine anarchistische Revolution wird diesen Verlauf nehmen, wenn ihr nicht vollintegrierte Gesellschaftsglieder zur Verfügung stehen. Ihr Erfolg hängt also von einer vorausgegangenen Evolution ab.

Daraus ergibt sich, daß die Evolution auch in anarchistischer Sicht der übergeordnete Begriff sein muß. Ohne sie ist keine der Voraussetzungen für herrschaftslose Gesellschaftsformen zu verwirklichen. Sie vollzieht sich auf wirtschaftlichem, technischem, wissenschaftlichem und auf geistigem Gebiet. Die Evolution auf geistiger Ebene kann als Befreiung unseres Denkens von irrationalen und subjektiven Wertvorstellungen bezeichnet werden.

Da die Evolution auch auf den übrigen Gebieten als Rationalisierung in Erscheinung tritt, haben wir in der gesellschaftlichen Evolution einen Allgemeinen Rationalisierungsprozess vor uns. Das heißt, daß die "gesellschaftliche" Evolution nur eine Phase der "biologischen" Evolution ist. Als solche ist sie ein natürlicher, entwicklungsgeschichtlich bedingter Vorgang. Es handelt sich dabei um die letzte Entwicklungsstufe der nervösen Substanz. In ihr vollendet sich die biologische Kommunikation in Form der herrschaftslosen Gesellschaft und der ihr gemäßen "Geistesfreiheit".

Die gesellschaftliche Evolution ist daher in allgemein menschlicher und in anarchistischer Hinsicht von grundsätzlicher Bedeutung. Als Voraussetzung der sozialen Integration der Gesellschaftsglieder und damit der herrschaftslosen Gesellschaft ist ihre Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit bewiesen.

Nach dem klaren ,Ja" zur Evolution zurück zur Revolution. Auch sie ist auf Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit hin zu untersuchen.

Unsere anthropologischen Überlegungen hatten gezeigt, daß die spontane Revolution keine "freie" Gesellschaft schaffen kann, auch wenn sie ein entsprechendes Modell besitzt. Der Verlauf der geschichtsbekannten Revolutionen bestätigt das. Machtwechsel oder allenfalls eine "freiere" Gesellschaft waren die Folgen.

Es ist zuzugeben, daß die unreifen und teils falschen Vorstellungen von einer freien Gesellschaft zu den Mißerfolgen beigetragen haben. Hauptgrund hierfür war der Konservativismus, d.h. das zähe Festhalten an den einmal integrierten Normen, ungeachtet ihrer Gültigkeit. Herrschaftsverhältnisse, die aufgrund seelischer oder weltanschaulicher Bindungen bestehen (z.B. religiöser Art), werden durch Zwang nicht beseitigt, sondern nur unterdrückt. Dasselbe gilt für die mit traditionellen Vorstellungen verbundenen Vorrechte.

Wenn auch die im freiheitlichen Sinne fehlgeschlagenen Revolutionen dem Glauben an eine "Erlösung" durch sie wenig Abbruch getan haben, so führten sie doch zu einer Umbildung der revolutionären Methodik. Nach den Theorien der "Permanenten Revolution" ist zwar der spontane Umsturz seiner Stoßkraft wegen erforderlich, ihm hat jedoch eine Periode ständiger "Revolutionsbereitschaft" zu folgen, die eine revolutionäre Bewußtseinsbildung beim Einzelnen bewirken soll.

Das verstößt nicht gegen die anarchistische Idee. Ersetzen wir die "revolutionäre" Bewußtseinsbildung durch eine "anarchistische", die ja die Integration der kommenden Generationen mit einschließt, dann ist nicht mehr nur die gemeinsame, spontane Aktion, sondern jede Art des gemeinsamen, aktiven Einsatzes gegen irgendeine Herrschaftsform mit dem Ziel, sie zu zerstören, gerechtfertigt.

Diese Definition bringt nicht nur die erweiterten Möglichkeiten der revolutionären Taktik zum Ausdruck, sie begrenzt auch den Zweck der Aktionen und verändert ihn dadurch. "Revolution" bedeutet wörtlich übersetzt "Umwälzung", d.h. in unserem Falle einen "Wechsel" in den Herrschaftsverhältnissen. Um das zu verhindern, darf der Zweck der revolutionären Aktionen nur Destruktiv sein. "Zerstören" ist zudem ein Zweck, der verhältnismäßig leicht erfüllbar ist. Um ihn sicher erfüllen zu können und außerdem das Entstehen neuer Herrschaftsverhältnisse zu verhindern, ist eine "Rationale Steuerung" der revolutionären Aktionen erforderlich. Sie gehört zum Aufgabenbereich des wissenschaftlichen Anarchismus. Die Zweckmäßigkeit gesteuerter revolutionärer Aktionen steht damit fest.

Gegen diese Auffassung können allenfalls idealisierte Einwände erhoben werden. Einer von ihnen soll hier besprochen werden, weil er auch von Anarchisten gelegentlich erhoben wird. Es ist der Einwand gegen die Gewalt als solche. Sofern er dem individuellen Charakter entspringt, ist er eine persönliche Entscheidung, die zu respektieren ist, die aber nicht Grundlage einer allgemeinverbindlichen Norm sein kann. Die sittliche Forderung nach Herrschaftslosigkeit, bzw. nach Gewaltverzicht, kann sich weder auf Autorität noch auf die sogenannte "Menschlichkeit" oder irgendein "Naturrecht" berufen. Sie ist ausschließlich rational und pragmatisch zu begründen, d.h. sie hat sogar für herrschaftslose Gesellschaftsformen nur relative Gültigkeit. Unter autoritären Bedingungen muß der Einzelne selber entscheiden, wie er sich der Gewaltanwendung gegenüber verhalten will.

Die Frage "Gewalt oder Gewaltlosigkeit", die Ursache ständiger Diskussionen, kann somit klar in sich widerspruchsfrei beantwortet werden. Die Antwort lautet: "In der autoritären Gesellschaft steht die Gewaltanwendung nicht im Widerspruch zur anarchistischen Idee. Die Anarchistische Bewegung wird sich der Gewalt bedienen, wenn dies den Umständen nach Erfolg verspricht. Die Beteiligung daran ist eine Angelegenheit der individuellen Entscheidungsfreiheit."

Was für die Gewaltanwendung gilt, trifft auch auf die revolutionäre Tätigkeit zu. Revolutionäre Betätigung ist mit der anarchistischen Idee und mit dem Bekenntnis zu ihr vereinbar. So bleibt als letztes die Frage nach der Notwendigkeit revolutionärer Tätigkeit. Muß nicht die der anarchistischen Idee innewohnende "Kraft" von allein zu ihrer Verwirklichung führen? Diese auf falschen Vorstellungen beruhende Frage ist zu verneinen. Ideen können erst dann wirksam werden, wenn sie nicht nur rational bejaht, sondern integrierte Teile der Persönlichkeit geworden sind. Gerade das wird aber von autoritärer Seite verhindert. Die Integration im freiheitlichen Sinne hängt daher vom Erfolg vorangegangener Tätigkeit ab. Die Notwendigkeit der revolutionären Tätigkeit ist dadurch bewiesen.

In den rational gesteuerten Aktionen haben wir daher ebenfalls eine zweckmäßige und unabdingbare Erscheinung der gesellschaftlichen Entwicklung zu sehen. Sie erfüllen gewissermaßen eine "fermentative" Aufgabe beim Evolutionsprozeß, d.h. sie müssen stets aufs neue die evolutionsfeindlichen Umstände beseitigen, damit eine Weiterführung des Prozesses möglich wird. Auf die Frage des Themas kann es daher nur eine Antwort geben: "Evolution und Revolution!"

Aus: Befreiung. Blätter für anarchistische Weltanschauung, Mülheim/Ruhr, Nr. 7/1968

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at