Freedom - Anarcho-Kommunismus (1968)

Das Ziel des Anarchismus ist die Freiheit des Individuums, damit es die eigenen Fähigkeiten in einer harmonischen Gesellschaft entwickeln kann. Die heutige Gesellschaft erfüllt diese Erwartungen nicht, da die Menschen überall ausgebeutet, einander entfremdet, getrennt und die einen gegen die anderen ausgespielt werden.

Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen vollzieht sich in verschiedenen Formen; die erste Art ist die gewohnte kapitalistische Ausbeutung, die sich mit den Gewinnen der Bourgeoisie und der Besitzenden verbindet.

Hinzu kommt dann die Ausbeutung durch die Regierenden (Staatskapitalismus) zum Nutzen einer neuen Klasse (…)

Die Rolle der Arbeitenden beschränkt sich dabei aufs Produzieren, und nur ein winziger Teil des gesamten Wohlstands fließt ihnen zu. Die fortwährende Dauer dieser Ausbeutung wird durch die Mittel der Unterdrückung und Verfremdung des Menschen durch autoritäre Institutionen gesichert. (…)

Die Aufteilung nach Berufen und Nationalitäten wird von jeder Regierung sorgfältig durchgeführt, um so ihre Macht zu befestigen, getreu der Regel: "Teile und Herrsche!"

Die Aufsplitterung der Arbeitenden in berufliche Kategorien schafft konkurrierende und sich bekämpfende Gruppen; außerdem bewirkt sie durch kleine finanzielle oder gesellschaftliche Vorteile und Auszeichnungen, daß die Solidarität der Arbeitenden zerstört wird. Durch die besondere Bevorzugung einiger Berufszweige entstehen, im Osten wie im Westen, Elitegruppen zwischen dem Proletariat und der herrschenden Klasse. (…)

In beiden Fällen fördern die Verbände, genau wie die Parteien, die Einrichtung und Schulung der Bürokratie von "proletarischen" Verwaltungsspezialisten, die die Gegensätze innerhalb der Massen verstärken und ihre Kräfte unterminieren sollen.

Die Teilung der Völker in Nationen veranlaßt die Massen zu gegenseitiger Feindschaft und erhält den nationalen, herrschenden Klassen ihre Macht, die sich auf den Patriotismus und vorgetäuschte nationale Interessen stützt.

Schließlich gestattet die Aufteilung der Menschheit die koloniale Ausbeutung, die manche Nationen dazu bringt, sich auf Kosten anderer, ja ganzer Kontinente, zu bereichern.

Die Irreführung der Öffentlichkeit wird sowohl von wirtschaftlichen wie von politischen Herrschaftsformen, aber auch von allen Parteien und Ideologien betrieben. Um die eigene Existenz zu verteidigen, müssen sie ihren wahren Zweck und ihre eigentliche Natur verleugnen. (…)

Die Parteien und Ideologien der Linken müssen in einem politischen System enden, das ihren ursprünglichen Zielen entgegengesetzt ist. Reformistische Parteien des sozialdemokratischen Typs, die die kapitalistische Herrschaftsweise von innen her durch Zugeständnisse reformieren wollen, sind völlig erfolglos geblieben. Ihre unklare Ideologie und die Verwendung staatsgebundener Formen macht ihnen die Umwandlung des Kapitalismus unmöglich.

Die sogenannten Kommunistischen Parteien dagegen (Marxisten-Leninisten, Stalinisten, Trotzkisten...) erreichen unter dem Vorwand einer totalen Veränderung nichts anderes als die Errichtung eines totalitären Regimes, das selbst nur eine andere Form der Unterdrückung und Ausbeutung ist. Die Aufgabe ihrer revolutionären Praktiken zwingt sie zu einer zunehmend reformistischen Haltung. Ihre notwendigerweise dogmatischen Ideologien und ihr ausschließlich auf den Staat hin ausgerichtetes Verhalten machen sie gleich anfällig für mögliche Rückschläge.

Programm für eine freie Gesellschaft

Die hauptsächlichen Merkmale eines freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems sind die folgenden:

1. Sozialismus ohne Staats-Kontrolle

Die Abschaffung des privaten Besitzes an den Produktionsmitteln, an den Einrichtungen von Handel und Versorgung usw. darf nicht darum durchgeführt werden, um einzig dem Staate Nutzen zu bringen. Die Überführung des Privatbesitzes in die öffentliche Hand muß vielmehr direkt erfolgen, und zwar durch Übertragen der Leitung der Fabriken an die Arbeiter und ihre Organisationen dadurch, daß die gesellschaftlichen Institutionen unter die direkte Kontrolle der Verbraucher gestellt werden. (…)

2. Planung durch die Verbraucher

(...) Die Planung von Produktion und Verbrauch (...) sollen jedermanns Sache sein und nicht dem Staat und einzelnen Gruppen oder Kasten überlassen werden. Der Plan wird von örtlichen, die Verbraucher vertretenden Ausschüssen aufgestellt; d.h. von der Bevölkerung sind Ausschüsse auf örtlicher, bezirklicher und internationaler Ebene zu bilden (...) Der fertige Plan muß die gesamte Produktion in verbindlicher Form umfassen. Er soll dabei sowohl die Bedürfnisse und Wünsche der Konsumenten berücksichtigen wie auch den beweglichen Einsatz der
Produktionseinheiten erlauben. (...)

3. Kontrolle durch die Schaffenden

Die Kontrolle der Produktion darf nicht durch Manager erfolgen, die den Produzierenden übergeordnet sind, sondern ist Aufgabe der Arbeitenden selbst, die industrielle und landwirtschaftliche Komitees bilden müssen. Gleichzeitig soll der Rest der Bevölkerung die derzeitigen örtlichen, bezirklichen und internationalen Institutionen des Staates ersetzen. Nur auf diese Art ist der politische Staat zu liquidieren. (...)

4. Vereinheitlichung der Löhne

Der in den kapitalistischen und marxistischen Systemen vorhandenen Tendenz zur (differenzierten) Lohnsteigerung muß entgegengetreten werden, um die Ungleichheit nicht zu erhalten oder zu vermehren, bzw. um zu vermeiden, daß sich eine Klasse oder ein Teil der Bevölkerung den Löwenanteil des Gesamteinkommens aneignet.

Die Einkommen der Einzelpersonen lassen sich in zwei Hauptgruppen einteilen, einmal die Lohnzahlung für geleistete Arbeit und zum anderen die Sozialleistungen (...) Gerade dieser zweite Teil muß auf Kosten des ersten ständig größer werden, und zwar in Verbindung mit einer Ausweitung der unentgeltlichen, gemeinschaftlichen Dienstleistungen (...)

5. Internationalismus

Das Verschwinden der Nationalstaaten kann nur so zustande kommen, daß einerseits internationale Vereinigungen geschaffen werden und andererseits die Nationalgebilde zu bezirklichen und örtlichen Einheiten dezentralisiert werden. (…)

6. Föderalismus

Eine anarcho-kommunistische Gesellschaft muß föderalistisch sein, wenn sie nicht totalitär werden soll. Der Föderalismus ist auf drei Wegen zu erreichen:

a) durch Aufstellen wirtschaftlicher Einheiten für Produktion und Verbrauch als Resultat der Kontrolle durch die Arbeitenden über Industrie und Landwirtschaft
b) durch Schaffung von Kollektiven, auf örtlicher, bezirklicher und internationaler Ebene, die frei konstituiert und gleichberechtigt miteinander verbunden sind.
c) durch Stärkung jener Tendenzen unter den Schaffenden, die zur freien Organisation und freien Ausdrucksformen führen.

Die Durchführung der Revolution

Anarcho-Kommunisten stehen aufgrund ihrer besonderen Organisation, die weder autoritär noch dogmatisch, noch zentralistisch, sondern föderalistisch ist, in der vordersten Reihe des revolutionären Kampfes. Die miteinander verbundenen Gruppen bleiben selbständig und bestimmen gemeinsam über eine einheitliche Ideologie.

Eine feste, einheitliche Taktik wird nicht angestrebt; die von der Organisation ausgegebene Aktionsrichtung ergibt sich vielmehr aus den laufenden Erfahrungen ihrer Gruppen.

Auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene beteiligen sich die Anarcho-Kommunisten am Kampf der Syndikalisten und fordern die zunehmende Kontrolle der Produktionsmittel durch die Schaffenden. In politischer Hinsicht lehnen sie parlamentarische Methoden und die gelenkte Zusammenarbeit der Klassen ab, vertreten einen radikalen Antimilitarismus und Antiklerikalismus und organisieren sich unabhängig vom Staat und außerhalb seiner Ordnung.

Anarcho-Kommunisten sind eine avantgardistische Minderheit, die zwei Ziele erreichen will. Einmal wollen sie den Massen zur richtigen Erkenntnis der Tatsache verhelfen, daß ihre Erziehung und ihr Fortkommen unter dem derzeitigen Regime bewußt gehemmt werden. Zum anderen bereiten sie die entscheidende Aktion vor, die im richtigen Augenblick die Freiheit bringen wird. Erst von diesem Zeitpunkt an kann man wirklich von einer Erziehung der Massen sprechen. "Kämpferischer Einsatz und Selbsterziehung", sie bilden zusammen die natürlichen Grundlagen der Revolution.

Aus: Freedom, London. Hier: Befreiung. Blätter für anarchistische Weltanschauung, Mülheim/Ruhr 1968, 21. Jahrgang, Nr. 4 u. Nr. 5

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: "Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at