Colin Ward - Anarchismus als Organisationstheorie (1)

Den Anarchismus als eine Organisationstheorie darzustellen, mag als beabsichtigtes Paradoxon erscheinen, denn laut Definition könnte man meinen, daß "Anarchie" das Gegenteil von Organisation sei. "Anarchie" bedeutet jedoch in Wirklichkeit, daß es keine Regierung, keine Autorität gibt. Kann es aber gesellschaftliche Organisation ohne Autorität, ohne Regierung geben? Die Anarchisten behaupten, daß es möglich sei, und sie sind überdies der Ansicht, daß es wünschenswert sei. Sie vertreten die Meinung, daß das Prinzip der Herrschaft die Wurzel aller unserer sozialen Probleme ist. Schließlich sind es doch die Regierungen, die Kriege vorbereiten und führen, wenn auch der einzelne gezwungen ist, an ihnen teilzunehmen und sie zu finanzieren; die Bomben, die man fürchtet, sind nicht die, die die Karikaturisten den Anarchisten zuschreiben, sondern die, die die Regierungen auf unsere Kosten zu hoher Perfektion gebracht haben. Schließlich sind es doch die Regierungen, die Gesetze erlassen und durchsetzen, die es den Besitzenden gestatten, das Volksvermögen unter ihrer Kontrolle zu halten, anstatt es mit den Habenichtsen zu teilen. Schließlich ist es doch das Autoritätsprinzip, das dafür garantiert, daß der Mensch die längste Zeit seines Lebens für jemand anders arbeitet, nicht etwa weil es ihm Spaß macht oder er über seine Arbeit verfügen kann, sondern weil es für ihn der einzige Weg ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Ich habe gesagt, daß es die Regierungen sind, die Kriege führen und vorbereiten, aber offenbar ist es nicht die Regierung allein, denn die Macht der Regierung, selbst die der absolutesten Diktatur, ist vom stillschweigenden Einverständnis der Regierten abhängig. Warum sind die Menschen damit einverstanden, regiert zu werden? Nicht nur aus Furcht, denn was haben Millionen Menschen von einer kleinen Gruppe von Politikern zu befürchten? Der Grund liegt vielmehr darin, daß sie dieselben Wertvorstellungen haben wie ihre Herrscher. Beide Herrscher und Beherrschte, glauben an das Prinzip der Autorität, der Hierarchie, der Macht. Bestenfalls unterstützen die Beherrschten eine andere zur Wahl stehende Gruppe von Herrschern - Labour statt Konservativ, Republikaner statt Demokraten, Kommunisten, Faschisten oder irgendwelche andere statt der Liberalen.

Der Mensch ist von Kindheiten auf die Vorstellung hin erzogen worden, daß er eine Autorität außerhalb seiner selbst zu akzeptieren hat - Mutter sagt, Vater sagt, der Lehrer sagt, die Kirche sagt, der Chef sagt, der Ministerpräsident sagt, die Experten sagen, der Erzbischof sagt, Gott sagt -; er hat so ausgiebig die Stimme der Autorität vernommen, daß er sich keine Alternative mehr vorstellen kann. Die Gesellschaft muß organisiert sein, sagt er, wie soll das ohne Autorität geschehen? Denn ohne Autorität hätten wir doch Anarchie!

Und die Anarchisten sind derselben Meinung. "Anarchismus" (ich zitiere Peter Kropotkin) "ist die Bezeichnung für ein Prinzip oder eine Theorie des Lebens und des Verhaltens, derzufolge man sich die Gesellschaft ohne Regierung vorstellt. In einer solchen Gesellschaft wird die Harmonie nicht durch die Unterordnung unter ein Gesetz oder den Gehorsam gegenüber einer Autorität, sondern durch freie Vereinbarungen zwischen verschiedenen territorialen und professionellen Gruppen erreicht, die sich zur Regelung der Produktion und des Verbrauchs so wie zur Befriedigung der unendlichen Vielfalt von Bedürfnissen und Wünschen eines zivilisierten Wesens frei zusammenfinden."(2) Und an einer anderen Stelle bemerkt Kropotkin: "Der Anarchismus strebt nach der vollsten Entfaltung der Individualität und gleichzeitig nach dem höchsten Grad freiwilliger Assoziierung in allen ihren Formen, in jeder nur möglichen Intensität und zu jedem nur denkbaren Zweck ständig wechselnde Assoziierungen, die in sich selbst die Elemente ihrer Dauerhaftigkeit tragen und immer die Form annehmen, die den vielfältigen Bestrebungen aller jeweils am besten entsprechen."(3)

Man könnte meinen, dies sei eine Art idealisierte Vorstellung von der Demokratie. Wenn das zutrifft, ist sie aber weit von der Art der Demokratie entfernt, die wir kennen. Denn der Begriff der Demokratie im Sinne von Selbstregierung des Volkes ist seit langem durch ein Konzept ersetzt worden, das unter Demokratie den Wettkampf rivalisierender, sich aber ähnelnder Eliten um die Stimmen des Volkes versteht. Vor über fünfzig Jahren hat Robert Michels sein Buch "Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie" geschrieben, in dem er die oligarchischen Tendenzen behandelt, die jeder angeblich demokratischen Organisation innewohnen (4). Nichts, was wir aus der Erfahrung der Gewerkschaften und der sozialistischen Bewegungen gelernt haben, hat diese These erschüttern können; vielmehr wurde sie von der Erfahrung unablässig bestätigt. Ähnliche Tendenzen lassen sich natürlich in politischen Parteien, industriellen und kaufmännischen Unternehmen, öffentlichen Körperschaften, nationalisierten Industrien usw. beobachten. Der Unterschied besteht einfach darin, daß diese Einrichtungen zumindest nicht den Anspruch erheben, "demokratisch " zu sein, dem Willen ihrer Mitglieder zu entsprechen oder sich von ihnen kontrollieren zu lassen. In gewissem Sinne tun das allerdings auch die Organisationen der Linken nicht. Dr. Victor Allen beispielsweise zeigt in seinem Buch "Power in Trade Unions" [Die Macht in den Gewerkschaften], daß "das Ziel der Gewerkschaftstätigkeit darin besteht den Lebensstandard der Mitglieder zu sichern und zu verbessern in Selbstverwaltung zu üben," (5). Ähnlich verhielt sich Hugh Gaitskell, der sich nach dem von der Labour Party auf dem Parteitag von Scarborough gefaßten Mehrheitsbeschluß zugunsten einseitiger Abrüstung weigerte, diesen Beschluß als bindend anzuerkennen, und erklärte, daß es das Ziel der Parlamentsfraktion der Labour Party sei, für eine Alternative zur gegenwärtigen Regierung zu sorgen (und nicht, wie er durchblicken ließ, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß es Frank Cousins gelungen war, den Gewerkschaftsblock in dem Sinne zu manipulieren, daß er "links" stimmte, so wie es Cousins' Vorgängern immer gelungen war, diesen Block für die Führung stimmen zu lassen).

Wir könnten sehr wohl behaupten, daß anarchistische Denker des19. Jahrhunderts, wie Proudhon und Bakunin, in ihrer Kritik der demokratischen und sozialistischen Theorie Vorläufer von Michels gewesen sind. In dem Abschnitt über die Versuche, den Einfluß der Führer zu beschränken, hat Michels dem Syndikalismus und dem Anarchismus als "Vorbeugungsmittel" je ein Kapitel gewidmet. Beide erhalten ihren Anteil an positiver Würdigung, aber Michels' Schlußfolgerungen sind nicht optimistisch.

Es dürfte überhaupt schwerfallen, einen Autor, der über Organisationstheorie geschrieben hat, zu finden, der die Chancen einer Organisation von unten nach oben optimistisch beurteilte. Wegen ihrer Bedeutung für das industrielle Management und die Regierungsverwaltung gibt es heute über die Organisation und ihre Probleme eine unabsehbare Literatur. Nur ein sehr kleiner Teil dieses ausgedehnten Schrifttums enthält Dinge, die für den Anarchisten - von seiner Rolle als destruktiver Kritiker einmal abgesehen- wertvoll sind. Allerdings gibt es bisher auch keine besonders überzeugende anarchistische Organisationstheorie, obwohl die Frage der Organisation für uns wichtig ist, ganz gleich, ob wir im Anarchismus eine Methode oder ein Ziel sehen. Tatsache ist, daß es zwar Tausende von Studenten der Staatswissenschaft, aber wohl kaum jemand gibt, der sich mit einer Gesellschaft ohne Staat beschäftigt; die Verwaltungsmethoden werden umfassend erforscht, kaum aber die Selbstregulierung. Es gibt ganze Bibliotheken und entsprechende Kurse für industrielles Management, ja riesige Honorare für Managementberater, aber es gibt kaum ein nennenswertes Schrifttum, Studienkurse oder gar Honorare für die, die das Management beseitigen und durch die Arbeiterautonomie ersetzen wollen. Der einzige Industrieberater, der je etwas ähnliches vertreten hat, war James J. Gillespie, Autor des Buches "Free Expression in Industry" und von ANARCHY 47 (Towards Freedom in Work)(6). Die klugen Köpfe verkaufen sich an die stärkeren Bataillone, und wir müssen eine Theorie entwickeln, für die bisher nur wenig konkrete Erfahrung gesammelt worden ist. Dies betrifft etwa die Untersuchungen, die in Randgebieten der Sozialpsychologie über das Wesen kleiner Gruppen, autonomer Gruppen und führerloser Gruppen durchgeführt worden sind.

Nun gehört ja jeder von uns, von völlig isolierten Leuten einmal abgesehen, zu einem ganzen Netz von Gruppen, die gemeinsame Interessen oder Ziele vertreten. Jeder kann dabei erkennen, daß es wenigstens zwei Arten von Organisation gibt. Einmal die, die einem aufgezwungen wird, die von oben gelenkt wird, und zum anderen die, die von unten gesteuert wird, die einen zu nichts zwingen kann und bei der Ein- und Austritt im freien Belieben des einzelnen stehen. Die meisten wissen, wie man einen Klub, den Zweig einer freiwilligen Organisation oder einfach eine Gruppe von Freunden ins Leben ruft, die jeden Freitag zusammen etwas trinken und Schallplatten hören. Man könnte sagen, daß die Anarchisten Leute sind, die alle Formen menschlicher Organisation in diese Art rein freiwilliger Assoziation verwandeln wollen, wo jeder ausscheiden und etwas eigenes beginnen kann, wenn es ihm nicht gefällt. Das bedeutet nicht Komitees, Abstimmungen, Mitgliedskarten. Denn der formalisierte Typ freiwilliger Organisation funktioniert, wie jeder weiß, nur, wenn ein gewisser innerer Kern von Leuten da ist, der wirklich daran interessiert und bereit ist, die anfallende Arbeit zu erledigen. Wenn das Demokratie ist, dann ist es das, was der dissidente Freudianer Wilhelm Reich work democracy genannt hat, und die Beschreibung seiner eigenen Erfahrung mit dieser Organisationsweise spiegelt genau meine Erfahrung mit anarchistischen Gruppen wider.

Reich fragt: "[...] auf welchem Prinzip beruhte denn nun unsere Organisation, wenn es keine Abstimmungen, keine Derektiven und Befehle, keine Sekretäre, Präsidenten, Vizepräsidenten etc. gab? Was uns zusammenhielt, war unsere Arbeit, unsere gegenseitige Abhängigkeit in dieser Arbeit, unser echtes Interesse an einem gigantischen Problem mit seinen vielen besonderen Aspekten. Ich hatte keine Mitarbeiter, die ich um Mitarbeit gebeten hatte. Sie waren von sich aus gekommen. Sie blieben, oder sie gingen, wenn die Arbeit sie nicht länger hielt. Wir hatten keine politische Gruppe gebildet oder ein Aktionsprogramm ausgearbeitet [...]. Jeder leistete seinen Beitrag entsprechend seinem Interesse an der Arbeit [...]. Denn es gibt objektive biologische Arbeitsinteressen und Arbeitsfunktionen, die imstande sind, die menschliche Zusammenarbeit zu ordnen. Vorbildliche Arbeit ordnet ihre Funktionsformen organisch und spontan, wenn auch nur allmählich, tastend und unter Fehlern. Im Gegensatz dazu handeln die politischen Organisationen mit ihren < Kampagnen> und <Plattformen> ohne jede Verbindung zu den Aufgaben und Problemen des täglichen Lebens."

Und an einer anderen Stelle seines Aufsatzes heißt es: "Wenn in einer Organisation persönliche Feindschaften, Intrigen und politische Manöver sichtbar werden, dann kann man sicher sein, daß ihre Mitglieder keine echten gemeinsamen Berührungspunkte mehr haben, daß sie kein gemeinsames Arbeitsinteresse mehr zusammenhält.[...] Ebenso wie organisatorische Bindungen einem gemeinsamen Arbeitsinteresse entspringen, so lösen sie sich auf, wenn die Arbeitsinteressen schwinden oder miteinander in Konflikt geraten."

Wir können aus diesen scharfsinnigen Beobachtungen bestimmte Prinzipien der Organisation ableiten. Ich habe einmal in einer Rezension des frivolen, aber nützlichen Buches "Parkinsons Gesetz" (7) versucht, vier Prinzipien einer anarchistischen Organisationstheorie aufzustellen: Die Organisationen müssen (1) freiwillig, (2) funktionsgerecht, (3) zeitlich begrenzt und (4) klein sein. Freiwillig sollen sie aus naheliegenden Gründen sein. Denn unser Eintreten für individuelle Freiheit und Verantwortlichkeit wäre zwecklos, wenn wir gleichzeitig Organisationen forderten, bei denen die Mitgliedschaft obligatorisch ist. Aus ähnlich naheliegenden, aber nicht immer beachteten Gründen sollen sie eine echte Funktion haben. Organisationen neigen dazu, auch dann weiterzubestehen, wenn sie gar keine Funktion mehr haben oder ihre früheren Funktionen überlebt haben. Zeitlich begrenzt sollen sie eben deshalb sein, weil die permanente Existenz einer der Faktoren ist, die die Arterien einer Organisation verkalken läßt, indem sie das Interesse am eigenen Überleben und damit die Tendenz fest begründet, eher den Interessen der Funktionäre als der Ausübung der scheinbaren Funktionen zu dienen. Klein sollen sie sein, weil in kleinen Gruppen, in denen man sich untereinander kennt, die bürokratisierenden und hierarchischen Tendenzen, die jeder Organisation innewohnen, sich am wenigsten entfalten können.

Aber gerade dieser letzte Punkt macht uns Schwierigkeiten. Wenn wir davon ausgehen, daß eine kleine Gruppe auf anarchistische Art und Weise funktionieren kann, dann sehen wir uns immer noch dem Problem all jener sozialen Funktionen gegenüber, die der Organisation bedürfen, aber eben der Organisation in einem viel größeren Maßstab. Wir könnten natürlich dazu sagen: "Wenn große Organisationen notwendig sind, zählt nicht auf uns. Wir werden auch ohne sie auskommen." Das könnten wir sagen, aber wenn wir den Anarchismus als eine Sozialphilosophie propagieren, dann dürfen wir sozialen Tatsachen nicht ausweichen, sondern müssen sie in Rechnung stellen. Es wäre daher besser, zu sagen: "Laßt uns nach Möglichkeiten suchen, wie man die in großem Maßstab organisierten Funktionen in solche Funktionen zerlegen kann, die von kleinen funktionellen Gruppen organisiert werden können, und wie man dann diese Gruppen auf föderative Weise miteinander verbinden kann." Dies führt uns zur anarchistischen Theorie des Föderalismus.

Die klassischen Anarchisten, die sich die Organisation der zukünftigen Gesellschaft vorzustellen suchten, dachten dabei an zwei Formen der gesellschaftlichen Institution: Im Sinne einer territorialen Einheit an die commune, ein französisches Wort, das man etwa mit dem Wort Gemeinde oder dem russischen Wort Sowjet in seiner ursprünglichen Bedeutung (8) wiedergeben könnte, das aber auch an die uralten Dorfeinrichtungen zur gemeinsamen Bodenbearbeitung erinnert; und im Sinne einer Einheit für die industrielle Organisation dachte man an das Syndikat, auch ein französisches Wort aus der Gewerkschaftssprache, wo von Syndikaten oder Arbeiterräten die Rede ist. Diese Kommunen und Syndikate stellte man sich als kleine lokale Einheiten vor, die sich untereinander zu Föderationen zusammenschließen würden, um die größeren Aufgaben des Lebens zu bewältigen. Jede Kommune und jedes Syndikat sollten aber ihre eigene Autonomie behalten, wenn die erstere auf territorialer und das letztere auf industrieller Basis Bündnisse eingingen. Proudhon und Kropotkin haben dem föderativen Prinzip große Aufmerksamkeit geschenkt, und wir wissen einiges über die Faktoren, von denen der Erfolg oder Mißerfolg von Föderationen abhängt.

"Unter Föderation", schreibt George Woodcock in seiner Biographie Proudhons, "versteht Proudhon nicht eine Weltregierung oder eine Föderation von Staaten. Für ihn hat das Prinzip des föderativen Zusammenschlusses bereits von der einfachsten Stufe der Gesellschaft an Geltung. Die Verwaltungsorgane sind auf kommunaler Ebene organisiert und der direkten Kontrolle des Volkes so zugänglich wie möglich. Oberhalb dieser untersten Ebene verliert die föderative Organisation zunehmend den Charakter eines Verwaltungsorgans und wird stattdessen zum Koordinationsorgan zwischen lokalen Einheiten. So wird, die Nation selbst zu einem föderativen Zusammenschluß von Regionen und Europa eine Föderation der Föderationen, in der die Interessen der kleinsten Provinz ebenso viel Gewicht haben werden wie die der größten, da alle Angelegenheiten durch gegenseitige Übereinkunft, Vertrag und schiedsrichterliches Verfahren geregelt werden."(9)

Ohne ein Loblied auf das politische System der Schweiz singen zu wollen, müssen wir doch anerkennen, daß, territorial gesehen, die zweiundzwanzig souveränen Kantone der Schweiz ein hervorragendes Beispiel für eine erfolgreiche Föderation darstellen. Es handelt sich um eine Föderation gleicher Einheiten, kleiner Zellen, und die Grenzen der Kantone überschneiden sich mit den linguistischen und ethnischen Grenzen, so daß diese Konföderation im Unterschied zu vielen erfolglosen föderativen Experimenten nicht von einer oder einigen wenigen mächtigen Einheiten dominiert wird. Das Problem der Föderation ist- um es mit Leopold Kuhr zu sagen - ein Problem des Teilens, nicht des Vereinens (10). Man mag die Schweizer für ziemlich schwerfällige und provinzielle Leute halten, aber in ihrem nationalen Leben gibt es gewisse Dinge, über die wir sicher nicht verfügen. Ich sprach mit einem Schweizer Bürger (oder eigentlich einem Zürcher Bürger, denn strenggenommen gibt es so etwas wie einen Schweizer Bürger gar nicht) über den Beeching Report (11), und er erklärte, es sei in der Schweiz unvorstellbar, daß der Vorsitzende eines Ausschusses in London über die Stillegung des Eisenbahnnetzes im Norden Schottlands entscheiden könne. Darüber kam ich zu Herbert Lüthys Studie über die Schweiz, in der er schreibt:

"Diese Kaskade von Volksabstimmungen, die jeden Sonntag die Einwohner ungezählter Gemeinden zu den Urnen rufen, um ihre Beamten zu wählen. Gemeindeausgaben gutzuheißen, über das Projekt eines Straßen- oder Schulhausbaus zu bestimmen; dann, nach den Gemeindeangelegenheiten, die kantonalen und schließlich [...] die gesamtschweizerischen Wahlen und Abstimmungen. [Es gibt] einige Kantone, in denen das souveräne Volk im Sinne Rousseaus noch leibhaftig in physischer Versammlung zusammentritt, um höchstpersönlich seine Gesetze und seinen Haushalt zu diskutieren und seine Behörden zu ernennen. Wer etwa denken möchte, daß dies vielleicht nur fromm bewahrte alte Formen sind, die nur noch den Wert einer touristischen Sehenswürdigkeit besitzen, der möge sich einmal, wenn er dieses kleine Land durchreist, die Auswirkungen dieser lokalen Demokratie vor Augen führen. Das einfachste Beispiel ist das Eisenbahnnetz, das dichteste der Welt, das sich um den Preis schwerer Belastungen und hoher Betriebskosten den Wünschen der kleinsten Gemeinde, des entferntesten Tales beugen mußte, auch wo es dem Gesetz der Rentabilität widersprach; dieses Verkehrsnetz ist das Resultat erbitterter politischer Kämpfe, jener (Volksbewegung), die im vergangenen Jahrhundert die kleinen schweizerischen Gemeinden gegen die zentralistischen Pläne der großen Städte [...] in Bewegung brachte. Vergleichen wir dieses Eisenbahnnetz mit dem Frankreichs, wo mit bewundernswerter geometrischer Regelmäßigkeit alles von Paris ausgeht und dort endet und wo die guten Verbindungen mit der Hauptstadt über das Wohlergehen oder den Untergang, das Leben oder den Tod ganzer Gemeinden entschieden haben: Das ist der Unterschied zwischen einem zentralistischen und einem föderalistischen Staat. Und vergleichen wir dann die Eisenbahnkarte, die am einfachsten zu lesen ist, mit jener der wirtschaftlichen Tätigkeit und der Bevölkerungsbewegungen. Diese Streuung der Industrien über die ganze Schweiz bis in die scheinbar abgelegensten Gegenden war es, worauf die Festigkeit und das Gleichgewicht des sozialen Aufbaus dieses Landes beruhte und die ihm die schrecklichen Industriekonzentrationen des 19. Jahrhunderts mit ihren Elendsvierteln und ihrem entwurzelten Proletariat erspart [hat]." (12)

Wie schon bemerkt, zitiere ich das alles nicht, um die Schweizer Demokratie zu preisen, sondern um darauf hinzuweisen, daß das föderative Prinzip, das im Mittelpunkt der anarchistischen Sozialtheorie steht, viel mehr Beachtung verdient, als ihm in den Lehrbüchern der Politikwissenschaft zuteil wird. Sogar im Zusammenhang mit den üblichen politischen Institutionen hat seine Anwendung weitreichende Auswirkungen.

Es gibt auch noch eine andere ansprechende anarchistische Organisationstheorie, die man etwa die Theorie der spontanen Ordnung nennen könnte: Angesichts eines gemeinsamen Bedürfnisses wird eine zufällige Ansammlung von Menschen durch Versuche und Irrtümer, durch Improvisation und Experiment aus dem Chaos heraus Ordnung entwickeln, - und diese Ordnung wird dauerhafter sein und in einem engeren Verhältnis zu ihren Bedürfnissen stehen als irgendeine von außen aufgezwungene Ordnung. Kropotkin hat diese Theorie einerseits aus seinen Beobachtungen der Geschichte der menschlichen Gesellschaft und der sozialen Biologie abgeleitet, die ihn zu seinem Buch "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" (13) veranlaßten, und andererseits aus seiner Beschäftigung mit den Anfängen der Französischen Revolution und mit der Pariser Kommune von 1871. Die meisten revolutionären Situationen, die Ad-hoc-Organisationen, die nach Naturkatastrophen entstehen, ja jede Aktivität, die sich außerhalb bereits bestehender organisatorischer Formen und hierarchischer Autorität entfaltet, sprechen für diese Theorie. Ihre Verwirklichung könnte man etwa am ersten Aldermaston March (14), oder an der weitverbreiteten Besetzung von Kasernen durch Squatters (15) im Sommer 1946 beobachten. Von Juni bis Oktober 1946 besetzten 40.000 Menschen aus England und Wales, die keine Wohnung hatten, aus eigener Initiative tausend Lager. In ihrem Bestreben, diese kahlen Baracken in ein richtiges Zuhause zu verwandeln, organisierten sie öffentliche Einrichtungen aller Art - beispielsweise gemeinsame Küchen, Wäschereien und Kinderstätten. Sie schlossen sich außerdem zu einer Gesellschaft zum Schutz der Squatters zusammen (Squatters' Protection Society). Ein wichtiges Kennzeichen dieser Squatter-Gemeinschaften bestand darin, daß sie von Leuten gebildet wurden, die außer der Tatsache, daß sie keine Wohnung hatten, kaum irgendwelche Gemeinsamkeiten aufwiesen - es gab unter ihnen Kesselflicker und Akademiker. Im folgenden Winter berichtete ein Korrespondent des "News Chronicle" über eines dieser Lager in Lancashire:

"Es gibt zwei Lager innerhalb des Lagers - die offiziellen Squatters (d.h. die, die nach der ersten Besetzung in die Baracken eingewiesen wurden) und die inoffiziellen Squatters (die Veteranen, die unter stillschweigender Duldung bleiben durften). Beide zahlen die gleiche Miete von zehn Schilling pro Woche - aber damit hört die Ähnlichkeit bereits auf. Obwohl man erwarten würde, daß, da ja beide Miete zahlen, ihnen auch die gleichen Privilegien gewährt wurden, verhält es sich tatsächlich keineswegs so. Handwerker haben in den Baracken der offiziellen Squatters Trennwände gezogen, Waschbecken und zahlreiche andere Annehmlichkeiten angebracht. Dies sind die Schafe; die Böcke dagegen müssen notgedrungen für sich selbst sorgen. Eine der jungen Truppenbetreuungsoffiziere, die dem Wohnungsministerium zugeteilt sind, gab einen interessanten Kommentar zur Lage. Auf ihrem Inspektionsbesuch hatte sie festgestellt, daß die Böcke mit Energie an die Arbeit gegangen waren, Trennwände improvisierten, Vorhänge aufhingen, die Wände strichen und damit die Initiative ergriffen. Die offiziellen Squatters dagegen saßen mürrisch herum, ergriffen keinerlei Initiative und rührten keinen Finger, um sich selbst zu helfen. Sie beklagten vielmehr ihr Schicksal, obwohl sie teilweise den furchtbarsten Elendsvierteln entronnen waren. Solange die überarbeiteten Angestellten der Behörden es nicht schafften, zu ihnen zu kommen, machten sie von sich aus keinen Versuch zur Verbesserung ihrer Lage."

Meines Erachtens ist das eine sehr aufschlußreiche Geschichte. Das bezieht sich nicht nur auf die Squatters, sondern vor allem auf den Unterschied zwischen der Geistesverfassung, die aus freier, unabhängiger Aktion hervorgeht, und jener, die von Abhängigkeit und Untätigkeit geprägt ist: Es ist der Unterschied zwischen Menschen, die etwas unternehmen und für sich selbst handeln, und solchen, die die Dinge einfach über sich ergehen lassen

Ein weiteres Beispiel für die Anwendung der Theorie von der spontanen Organisation war das Pioneer Health Center in Peckham, das in ANARCHY 60 erörtert worden ist (16). Dieses Projekt wurde im Jahrzehnt vor dem Krieg von einer Gruppe von Ärzten und Biologen begonnen, die das Wesen der Gesundheit und des gesunden Verhaltens erforschen wollten, anstatt wie die übrigen Vertreter ihres Berufs nur die Krankheit zu studieren. Sie beschlossen, einen Klub zu gründen, dessen Mitglieder als Familien beitraten und eine Vielzahl von Einrichtungen benutzen konnten, wofür ein Familien-Mitgliedsbeitrag entrichtet und die Zustimmung zu regelmäßigen medizinischen Untersuchungen erteilt werden mußte. Um zu einwandfreien Schlüssen zu kommen, hielten es die Biologen von Peckham für notwendig, menschliche Wesen zu beobachten, die frei waren - frei, nach ihrem Gutdünken zu handeln, und frei, ihren Wünschen Ausdruck zu verleihen. Folglich gab es keine Regeln, Satzungen oder Führer. "Ich war die einzige Person mit Autorität ", erzählte Dr. Scott Williamson, der Gründer, "und ich benutzte sie nur dazu, jeden, der Autorität geltend machen wollte, daran zu hindern." In den ersten acht Monaten herrschte Chaos. "Mit den ersten Mitgliedsfamilien", schreibt ein Beobachter, "kam eine Horde undisziplinierter Kinder an, die vom ganzen Gebäude Besitz ergriffen, wie sie wohl eine leere Londoner Straße in Besitz genommen hätten. Sie kreischten und rannten wie Straßenlümmel durch alle Räume, zerschlugen Geräte und Möbel" und machten so das Leben für jedermann unerträglich. Scott Williamson jedoch "bestand darauf, den Frieden nur so wiederherzustellen, daß man den Kindern gestattete, auf die verschiedenen Anregungen, mit denen sie auf ihrem Weg konfrontiert wurden, zu reagieren". "In weniger als einem Jahr war das Chaos auf eine Ordnung reduziert, in deren Rahmen man täglich Gruppen von Kindern schwimmen, Schlittschuh laufen, radfahren, turnen oder ein Spiel machen, gelegentlich auch ein Buch in der Bibliothek lesen sehen konnte. [...] Das Herumrennen und Kreischen gehörte der Vergangenheit an."

In seinem Buch "Health the Unknown", in dem das Experiment von Peckham geschildert wird, kam John Comerford zu dem Schluß: "Eine Gesellschaft, die in angemessenen Verhältnissen sich selbst überlassen ist, um sich spontan zu formieren, entwickelt also ihre eigene Lösung und erreicht eine Harmonie, der eine übergeordnete Führung nichts Gleichwertiges entgegensetzen kann."(17)

Von dramatischeren Beispielen ähnlicher Art wissen diejenigen zu berichten, die genug Mut oder genug Vertrauen besaßen, um sich selbst verwaltende und auf Strafe verzichtende Gemeinschaften jugendlicher Straffälliger einzurichten - wie etwa August Aichhorn, Homer Lane und David Wills. Homer Lane war ein Mann, der - seiner Zeit um Jahre voraus - eine Gemeinschaft jugendlicher Delinquenten, Jungen und Mädchen, begründete, die Little Commonwealth hieß (18). Lane pflegte zu erklären, daß "Freiheit nicht einfach gewährt werden kann. Sie muß vom Kind in Entdeckung und Erfindung erworben werden." Getreu diesem Prinzip, so berichtet Howard Jones, "weigerte er sich, den Kindern ein System der Leitung aufzuerlegen, das den Institutionen aus der Welt der Erwachsenen nachgebildet war. Die auf Selbstregierung beruhende organisatorische Struktur der Little Commonwealth hatten die Kinder selbst langsam und mühsam entwickelt, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen." Aichhorn war ein ähnlich mutiger Vertreter der gleichen Generation, der in Wien eine Einrichtung für umweltgeschädigte Kinder leitete. In seinem Buch "Verwahrloste Jugend" beschreibt er eine besonders aggressive Gruppe folgendermaßen: "Außer den schon eingangs geschilderten Angriffen, die sehr arg waren, kam es zur Zertrümmerung von Barackeninventar, eingeschlagenen Fensterscheiben, mit Füßen eingetretenen Türfüllungen usw. Es ereignete sich auch, daß einer durch das doppelt geschlossene Fenster sprang, unbekümmert um etwaige Verletzungen durch die dabei zerbrechenden Glasscheiben. Der Mittagstisch blieb schließlich unbesetzt, weil jeder sich irgendeinen Winkel im Tagraum suchte, um dort, auf dem Boden kauernd, sein Essen zu verzehren. Schreien und Heulen hörte man von weitem [...]."(19)

Aichhorn und seine Mitarbeiter aber legten sich eine Zurückhaltung auf und bewiesen ein Vertrauen in ihre Methode, die man nur übermenschlich nennen kann; sie schützten ihre Mündel vor dem Zorn der Nachbarn, vor der Polizei und den städtischen Behörden, und endlich trug die Geduld Früchte. Die Kinder fanden sich nicht nur zurecht, sondern sie entwickelten auch starke Zuneigung zu denen, die sich mit ihnen beschäftigten. Dieses Vertrauen bildete die Grundlage für den Prozeß der Umerziehung. Die Kinder sollten ja schließlich entgegen den Beschränkungen erzogen werden, die ihnen die Umwelt auferlegte.

Immer wieder sind solche seltenen Menschen, die über genügend moralische Kraft und die endlose Geduld und Nachsicht verfügten, die diese Methode erfordert, in ähnlicher Weise belohnt worden. Aber im täglichen Leben ist es oder scheint es mir wenigstens sehr schwierig, diese Methode anzuwenden. Die Tatsache, daß man es da nicht mit so tief verwirrten Menschen zu tun hat, würde weniger drastische Erfahrungen zur Folge haben. Außerdem aber stehen wir im normalen Leben, außerhalb der mit Bedacht geschützten Umgebung, ja deshalb in einer engere Wechselbeziehung zu anderen, weil wir eine Aufgabe lösen wollen. Die offenkundige Ziellosigkeit und die zeitraubende Spanne, in der man auf das Erscheinen der spontanen Ordnung warten müßte, würden meiner Ansicht nach aber die große Gefahr mit sich bringen, daß sich irgendein starker Mann einmischt, der versucht, eine Ordnung und Methode zu diktieren, nur damit endlich etwas erreicht wird.

An dieser Stelle sollte man ein Experiment erwähnen, an das der Leser schon gedacht haben mag. In den Jahren 1939 und 1940 führten drei Psychologen, Lewin, Lipitt und White, Experimente durch, um die Auswirkungen verschiedener Führungstechniken auf das Gruppenverhalten von elfjährigen Jungen zu untersuchen. Diese Gruppe wurde von Erwachsenen geleitet, die sich drei verschiedener Führungsmethoden bedienten. Gemäß der ersten Methode bestimmte der Erwachsene die Grundsätze, das Verhalten und die Tätigkeit der Gruppe; diese Technik hieß "autoritär". Die zweite Methode bestand darin, daß der Erwachsene die Mitglieder der Gruppe dazu ermunterte, diese Fragen mitzuentscheiden, und sich ihnen gegenüber freundschaftlich und kooperativ verhielt, indem er sie in Verfahrensfragen beriet und Alternativvorschläge einbrachte, sofern das notwendig war; diese Technik wurde "demokratisch" genannt. Die dritte Methode bestand darin, daß der Erwachsene den Jungen vollständige Entscheidungs- und Handlungsfreiheit gewährte und seine eigenen Initiativen und Anregungen auf ein Minimum beschränkte; diese Technik hieß "laisser faire". Bei der autokratischen Methode wurde festgestellt, daß sie zu einer unterwürfigen Haltung der Kinder gegenüber dem Leiter, zu einer gewissen Apathie gegenüber vor ihnen liegenden Aufgaben, zu geringer Kooperation untereinander und, sobald der Leiter abwesend war, zu einem Mangel an Selbstdisziplin führte. Die Laisser-faire-Gruppe schien von der Zahl und dem komplexen Charakter ihrer Probleme überwältigt und erreichte wenig. Der demokratischen Gruppe halfen ihre Leiter, konstruktive Kanäle für ihre Anstrengungen zu finden und so die Hilflosigkeit zu vermeiden, zu der die Laisser-faire-Gruppe verurteilt zu sein schien. Die demokratische Gruppe war zugleich schöpferischer, friedlicher und selbstdisziplinierter als die autoritäre Gruppe, weil die meisten ihrer Unternehmungen von den Mitgliedern selbst geleitet wurden und man ihnen die Möglichkeit gegeben hatte, eine gewisse Gruppensolidarität zu entwickeln. Bei einem Vergleich, bei dem das Verhalten derselben Gruppe unter der Führung verschiedener Erwachsener getestet wurde, ergab sich, daß die Reaktion auf einen bestimmten Führungsstil auch von den früheren Erfahrungen der Gruppe mit anderen Führungsstilen abhing. So war eine Gruppe unter einem "autoritären " Leiter ziemlich passiv, aber nachdem sie einen Leiter mit "demokratischen" Führungsmethoden gehabt hatte, begegnete sie einem zweiten "autoritären" Leiter mit Mißvergnügen.

In unserem Zusammenhang könnte man eine ganze Reihe von Anmerkungen zu diesem Experiment machen. Die Laisser-faire-Methode dürfte wohl diejenige sein, die eigentlich zur spontanen Ordnung führen sollte. Vielleicht wurde der Ordnung im Rahmen dieses Experiments zu wenig Zeit gegeben, um aus dem Chaos herauszuwachsen. Die "demokratische" Methode war nicht wirklich demokratisch, weil der Leiter nicht von oder aus der Gruppe gewählt worden war. Er scheint in der Tat die Rolle des guten Lehrers gespielt zu haben, der zur Hilfe bereit ist, sich selbst aber zurückhält. Natürlich ist es möglich, wie Muzafer Sherif in seinem Kommentar zu Lewins, Lipitts und Whites Experiment unterstrichen hat, daß eine bestimmte Technik nicht die gleiche Wirkung hat, je nachdem, ob sie von einem außerhalb der Gruppe stehenden Leiter oder von einem nicht offiziell zum Leiter ernannten Mitglied aus der Gruppe selbst angewandt wird.

Aber die Rolle der Leiter veranlaßt uns zur Frage nach dem Wesen der Leitung und wie sich diese in die anarchistische Organisationstheorie einordnen läßt. Die Anarchisten glauben an führerlose Gruppen. Wenn dieser Ausdruck dem Leser bekannt vorkommt, dann wegen jener paradoxen Methode, die unter der Bezeichnung Technik der führerlosen Gruppe von der britischen und australischen Armee während des Kriegs angewandt wurde, um auf diese Weise Führer auszuwählen. Die Armeepsychiater erkannten, daß sich die Qualifizierung zum Führer oder Mitläufer nicht in der Isolierung zu erkennen gibt. Sie ist vielmehr, wie Major Gibb feststellte, "von einer bestimmten sozialen Situation abhängig - die Führung wechselte von Situation zu Situation und von Gruppe zu Gruppe ". Oder wie es der Anarchist Michail Bakunin schon vor hundert Jahren gesagt hat: "Ich nehme und ich gebe - so ist das menschliche Leben. Jeder lenkt und wird gelenkt. Deshalb gibt es auch keine feste und dauerhafte Autorität, sondern einen ständigen Wechsel von gegenseitiger, zeitlich begrenzter und vor allem freiwilliger Autorität und Unterordnung."(20) Dieser Aspekt wurde auch in den Berichten über das Experiment von Peckham nachdrücklich unterstrichen, das wir als Beispiel für die Theorie von der spontanen Organisation erwähnt haben.

Der Leser sollte sich aber dadurch nicht täuschen lassen, daß diese Ausführungen so betörend einleuchtend sind. Denn das anarchistische Konzept der Leitung ist in seinen Konsequenzen wahrhaft revolutionär; um das zu erkennen, braucht man sich nur umzusehen, denn überall ist das entgegengesetzte Konzept am Werk: das der hierarchischen, autoritären, privilegierten und permanenten Leitung. Es gibt nur sehr wenige vergleichende Untersuchungen über die Auswirkungen dieser beiden einander entgegengesetzten Wege zur Organisation der Arbeit. Auf zwei davon will ich später eingehen, eine weitere, über Architektenbüros, wurde vor ein paar Jahren für die RIBA (21) unter dem Titel "The Architect and His Office" herausgebracht. Die Arbeitsgruppe, die den Bericht vorbereitete, entdeckte zwei verschiedene Einstellungen zum Prozeß des Entwerfens, denen zwei verschiedene Arbeits- und Organisationsmethoden entsprachen. Die eine wurde als zentralistisch qualifiziert, da sie durch eine autokratische Form der Leitung gekennzeichnet war, die andere als locker [dispersed], da sie, wie man es nannte, "eine informelle Atmosphäre frei fließender Ideen" förderte. Das ist ein sehr lebhaft empfundenes Problem unter Architekten. W.D.Pile, Leiter der Architekten- und Bauabteilung des Erziehungsministeriums (der in dieser Eigenschaft dazu beigetragen hat, die wichtigsten und überzeugendsten Erfolge britischer Nachkriegsarchitektur, nämlich das Schulbauprogramm, zu fördern), erwähnt unter den Eigenschaften, die er von einem Mitglied der Bauabteilung erwartet: "Er muß an das glauben, was ich die unhierarchische Organisation der Arbeit nenne. Die Arbeit muß nicht nach dem Star-System, sondern nach dem Repertoire-System organisiert werden. Der Leiter der Arbeitsgruppe kann oft einem Mitglied aus derselben Gruppe untergeordnet sein. Das wird nur akzeptiert werden, wenn allgemein anerkannt ist, daß das Primat der besten Idee und nicht dem älteren Mitglied gehört." Und einer unserer größten Architekten, Walter Gropius, verkündet, was er die Technik der "Zusammenarbeit unter Menschen" nennt, "die die schöpferischen Instinkte des Individuums freisetzt, anstatt sie zu ersticken. Das Wesen einer solchen Technik", erklärt Gropius weiter, "sollte darin bestehen, den Nachdruck auf die individuelle Freiheit der Initiative anstatt auf die autoritäre Leitung durch einen Vorgesetzten zu legen [...] und so die individuellen Anstrengungen durch ein kontinuierliches Geben und Nehmen ihrer Mitglieder zu synchronisieren [...]."

Das führt uns natürlich zu einem anderen Eckstein der anarchistischen Theorie, der Idee der Arbeiterkontrolle in der Industrie. Ich will hier nicht näher darauf eingehen, da die modernen vergleichenden Untersuchungen, die Belege für die anarchistische Argumentation enthalten, schon in ANARCHY 2, 8, 10 und 40 besprochen worden sind. Die Bücher, um die es ging, sind "Decision-Making and Productivity" von Seymour Melman, "Autonomous Group Functioning" von P.G.Herbst und "Organizational Choice" von Trist, Higgin, Murray und Pollock (22).

Wenn man gegen die Idee der Arbeiterkontrolle unter Berufung auf die Komplexität und die Größenordnungen der modernen Industrie Einwände erhebt, dann greifen wir noch einmal auf das föderative Prinzip zurück. Es ist gar nichts Abwegiges an der Vorstellung, daß sich eine große Zahl autonomer industrieller Einheiten zu einer Föderation zusammenschließen und ihre Tätigkeit koordinieren kann. Wenn man durch Europa reist, kann man die Linien von einem Dutzend Eisenbahnnetzen - kapitalistischen und kommunistischen - benutzen, die durch freie Vereinbarung der verschiedenen Unternehmen, ohne jede zentrale Behörde, koordiniert sind. Man kann einen Brief an jeden Ort der Welt schicken, aber es gibt keine Weltpostbehörde - die Vertreter der verschiedenen Postbehörden haben einfach so alle fünf Jahre einen Kongreß.

Wenn nun einige Leser mit kybernetischem Denken vertraut sind, werden sie erkennen, daß in diesem Zusammenhang auch einige der Ideen von Gordon Pask und Stafford Beer über sich selbst organisierende Systeme von Bedeutung sind. Beer bemerkt in seinem Buch "Cybernetics and Management", es sei eine Tatsache, "daß unsere ganze Konzeption der Leitung naiv, primitiv und von einer nahezu an Vergeltung erinnernden Idee der Kausalität beherrscht wird. Leitung ist in den Augen der meisten Menschen (und was für ein Licht wirft das auf eine hochentwickelte Gesellschaft!) ein rohes Zwangsverfahren."(23) Er erzählt auch die Geschichte vom Besuch eines Marsbewohners, der die Tätigkeit auf der unteren Ebene eines großen Unternehmens, also die Gehirne der Arbeiter, und das organisatorische Schaubild untersucht, das zeigen will, wie das Unternehmen geleitet wird. Er kommt zu dem Schluß, daß die Geschöpfe an der Spitze der Hierarchie Köpfe von mehreren Metern Umfang haben müßten.

Ich bat den Neurologen Grey Walter, für ANARCHY einen Bericht über die Bedeutung der Kybernetik für Anarchisten zu schreiben. Er verfaßte einen guten Bericht über die Entwicklung der Kybernetik, aber abgesehen von seiner Schlußfolgerung, nämlich daß das zentrale Nervensystem ein Modell einer anarchosyndikalistischen Gemeinschaft darstelle, hat er die Bedeutung der Idee von den sich selbst organisierenden Systemen nicht besonders hervorgehoben (24). Doch hat sein Artikel einen Computer-Programmierer, John McEwan, dazu angeregt, für uns einen Aufsatz zu schreiben, in dem genau die Verbindungen hergestellt werden, die wir auf Grund der Schriften von Pask und Beer vermutet hatten. Ich kann den Artikel hier nicht zusammenfassen, er findet sich in ANARCHY 31. Aber seine Schlüsse sind für unsere Betrachtung des Anarchismus als eine Organisationstheorie von Bedeutung. Er versucht, zwei Modelle der Entscheidung und Leitung einander gegenüberzustellen:

"Einmal gibt es das Modell, das unter Theoretikern des Managements in der Industrie als anerkannt gilt und das sein Gegenstück in der konventionellen Denkweise über die Regierung findet, die in der Gesellschaft als Ganzem verbreitet ist. Es ist dies das Modell einer starren pyramidenartigen Hierarchie, mit Kommunikations- und Befehlssträngen, die von der Spitze zur untersten Ebene der Pyramide verlaufen. In ihr gibt es eine feste Beschreibung der Verantwortung, jedes Element hat seine bestimmte Rolle, die zu befolgenden Regeln sind auf jeder Ebene innerhalb ziemlich enger Grenzen festgesetzt und können nur durch eine Entscheidung von Leuten geändert werden, die einen höheren Rang in der Hierarchie einnehmen. Die Rolle der Spitzengruppe in der Hierarchie wird manchmal mit der des <Gehirns> des Systems verglichen.

Das andere Modell stammt aus der Kybernetik sich selbst organisierender Systeme. Es verfügt über große Variationsmöglichkeiten, die ausreichen, um mit einer komplexen, unvorhersehbaren Umwelt fertig zu werden. Dieses System ist dadurch gekennzeichnet, daß sich seine Struktur ständig ändert, daß es sich im Zeichen fortwährender Rückkoppelung seitens der Umwelt modifiziert, daß es einen Überfluß an Möglichkeiten der Leitung hervorbringt und komplizierte, untereinander verbundene Kontrolleinrichtungen bedingt. Wissen und Entscheiden sind über das ganze System verteilt, in einigen Bereichen vielleicht konzentrierter als in anderen.

Gibt es irgendeinen Theoretiker, der von der sozialen Organisation - der heutigen oder zukünftigen - Vorstellungen entwickelt hat, die diesem Modell entsprechen? Ich glaube, ja. Man vergleiche nur Kropotkin in seinen Ausführungen über jene Gesellschaft, die <die vollste Entfaltung [...] der freiwilligen Assoziierung in allen ihren Formen, in jeder nur möglichen Intensität und zu jedem nur denkbaren Zweck [erstrebt]; ständig wechselnde Assoziierungen, die in sich selbst die Elemente ihrer Dauerhaftigkeit tragen und immer die Formen annehmen, die den vielfältigen Bestrebungen aller jeweils am besten entsprechen. Eine Gesellschaft, der im voraus festgelegte und durch Gesetz versteinerte Formen zuwider sind, die vielmehr nach Harmonie in einem ständig wechselnden, flüchtigen Gleichgewicht zwischen unzähligen verschiedenen Kräften und Einflüssen strebt, die alle wieder ihr eigenes Ziel verfolgen [.. .]>."

Wir haben einmal eine Bemerkung von Richard Titmuss zitiert, wonach gesellschaftliche Ideen im kommenden halben Jahrhundert in England ebenso wichtig werden können wie technische Neuerungen. Ich bin der Überzeugung, daß die sozialen Ideen des Anarchismus - autonome Gruppen, Arbeiterkontrolle, föderatives Prinzip - eine zusammenhängende Theorie der sozialen Organisation bilden werden, die eine wohlbegründete und realistische Alternative zur autoritären, auf Hierarchien und Institutionen ausgehenden Philosophie darstellt, die wir überall um uns herum in Aktion sehen. Die Menschen werden gezwungen sein, erklärte Kropotkin, "neue Organisationsformen für die gesellschaftlichen Funktionen zu finden, die heute der Staat mit Hilfe der Bürokratie. erfüllt", und "so lange das nicht erreicht ist, wird gar nichts erreicht werden ". Ich meine, daß wir entdeckt haben, wie die neuen Organisationsformen aussehen sollen - wir müssen nun die Voraussetzungen dafür schaffen, sie in die Praxis umzusetzen.

Anmerkungen:
(1) Colin Ward, "Anarchism as a Theory of Organisation ", in: Anarchy 62, April 1966, S. 97-109.
(2) Kropotkin, "Anarchism", in: Encyclopaedia Britannka, XI.Aufl., Bd.I, 1959, S. 873-877, hier S. 873.
(3)Pierre Kropotkine, L'anarchie: sa Philosophie - son Ideal, Paris 1896, S. 17-18.
(4) Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen Über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 191 1. (Neudruck der 2. Aufl., hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Werner Conze, Stuttgart 1957.)
(5) V. I. Allen, Power in Trade Unions. A Study of their Organisation in Great Britain, London-New York-Toronto 1954, S. 15.
(6) James J.Gillespie, Free Expression in Industry. A social-psychological study of work and leisure, London 1948; ders., "Towards Freedom in Work ", in: Anarchy 47, Januar 1965, S. 5-32.
(7) C Northcote Parkinson, Parkinsons Gesetz und andere Untersuchungen über die Verwaltung. Düsseldorf 1958 (englisches Original: Parkinson's Law, London 1958).
(8) Offenbar ist nicht der exakte Wortsinn gemeint, denn dann könnte commune kaum mit Sowjet wiedergegeben werden. Es geht hier vielmehr um den Sowjetgedanken, um die kommunistische Räteidee, wie sie ursprünglich in der Sowjetunion verwirklicht zu werden schien.
(9) George Woodcock, Pierre-Joseph Proudhon. A Biography, London 1956, S. 249.
(10) Ein Leopold Kuhr ist nicht nachzuweisen. Möglicherweise liegt hier eine Verwechslung mit Theodor Kuhr und seiner Untersuchung "Die Trennung der Gewalten und das germanische Recht", Mannheim-Berlin-Leipzig 1934; Neuausgabe unter dem Titel "Demokratie und Monopol in den Vereinigten Staaten", Bad Nauheim 1954, vor.
(11) Es handelt sich um den Bericht einer Kommission, die die Möglichkeiten zur Rationalisierung des britischen Eisenbahnwesens untersucht hat: Richard Beeching - British Railway Board -, The Reshaping of British Railways, London 1963.
(12) Herbert Lüthy, Die Schweiz als Antithese. Originaltitel: "La Suisse a contre-courant", in: Revue economique franco-suisse, Dezember 1961. Die bearbeitete deutsche Fassung in: Herbert Lüthy, Nach dem Untergang des Abendlandes, Köln-Berlin 1964, S.422-451, hier S.432-434.
(13) Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Autorisierte deutsche Ausgabe besorgt von Gustav Landauer, Leipzig 1910.
(14) Der erste Protestmarsch nach Aldermaston (westlich Londons), dem Standort der Waffenabteilung der britischen Atomkraftbehörde, fand Ostern 1958 statt.
(15) Ansiedler ohne Rechtstitel. Squatters haben auch in jüngster Zeit leerstehende Häuser in verschiedenen englischen Städten besetzt, was jeweils zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei führte.
(16) Anarchy 60, Februar 1966, S. 52-64.
(17) John Comerford, Health the Unknown. The story of the Peckham experiment, London 1947.
(18) Vgl. Anthony Waever, "The Work of David Wills", in: Anarchy 15, Mai 1962. S. 129-138.
(19) August Aichhorn, Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Mit einem Geleitwort von Sigm. Freud [Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd.XTX], Leipzig-Wien-Zürich 1925, S.219.
(20) Michail Bakunin, Gott und der Staat, in: BGW, Bd.I, S.lll.
(21) Royal Institute of British Architects.
(22) Seymour Melman, Decision-Making and Productivity, Oxford 1958; P. G. Herbst, Autonomous Group Functioning. An exploration in behaviour theory and measure-ment, London 1962; E. L.Trist u.a., Organizational Choice. Capabilitiesof groups at the coal face under changing technologks. The loss, re-discovery and transformation of a work tradition, London 1963.
(23) Stafford Beer, Cybernetics and Management, London 1959, S. 21. Deutsche Ausgabe: Kybernetik und Management, Hamburg 1959, S. 36. (24) W. Grey Walter, "The Development and Significance of Cybernetics", in: Anarchy 25. März 1963. S. 75-89.
(24) John D. McEwan, «Anarchism and the Cybemetics of Self-Organizing Systems », in: Anarchy 31, September 1963, S.270-283, hier S.278.

Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/Colin_Ward_Anarchismus_als_Organsisationstheorie.htm