Jens Herrmann - WESPE - Das @ndere Modell

Teil 10 der Artikelserie Politische Gemeinschaften aus der Zeitschrift "Rabe Ralf"

Das WESPE-Projekt in Neustadt an der Weinstraße entwickelte sich aus zwei verschiedenen Richtungen: aus einer lokalen Gruppe aus der Kleinstadt selbst und einem überregionalen Netzwerk, das aus dem sogenannten "Projekt A"-Entwurf hervorging.

Was verbirgt sich hinter "Projekt A", und was wurde daraus? Horst Stowasser, Schriftsetzer und Autor zahlreicher anarchistischer Bücher und Broschüren, kommt hier eine Sonderrolle zu. Aus seiner Unzufriedenheit mit der anarchistischen Szene in Deutschland und seinen persönlichen politischen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen entwickelte er Anfang der 80er Jahre ein alternatives, anarchistisch-libertäres Projektkonzept. Er hielt seine Ideen in dem Buch "Das Projekt A" fest. Es erschien 1985, zunächst konspirativ verteilt mit nummerierten Einzelausgaben, weil staatliche und gesellschaftliche Repressionen befürchtet wurden.

Entwurf: Das "Projekt A"

"Das Projekt A" ist eine sehr persönliche Utopie. Auf knapp 100 Seiten legt Stowasser dar, was die grundsätzliche Konzeption ist und wie es im Detail aussehen könnte, wie er sich die Organisation und den Aufbau vorstellt und wohin das führen könnte. Auch den zu erwartenden Schwierigkeiten wendet er sich zu. Der Text soll ein praktischer Entwurf sein, dem es nicht um eine gesellschaftliche Debatte geht. Es ist ein Vorschlag für Leute, die konkret interessiert sind, das Projekt mit zu gestalten, "die für sich, für ihre ganz persönlichen Bedürfnisse ebenso wie für den Zustand der "Bewegung" und deren Praxis Alternativen suchen." [1] Stowasser stellt klar, daß er für Anarchisten schreibt und Projekt A ein Konzept mit langfristiger Perspektive ist. Sein persönliches Ziel erklärt er so: "(...) ich will, daß zwischen politischer Arbeit, Freundschaft und Geld verdienen keine Widersprüche mehr bestehen, oder anders gesagt, daß die Trennung zwischen diesen Bereichen aufgehoben wird." Er sieht drei Motivationen, die für Leute wichtig sein könnten, in das Projekt einzusteigen: die persönliche Verwirklichung, eine anarchistische Perspektive oder auch ein Berufsinteresse. Alle drei sind ihm gleich recht und wichtig, denn gerade das Zusammenspiel unterschiedlicher Motivationen sei ein tragfähiges Fundament für das Projekt. Die Trennung zwischen privatem Leben und politischer Betätigung sieht er als fatal an. Sie sei Grund für die politische Misere, in der die anarchistische Bewegung stecke. Stowasser möchte eine praktische Alternative aufzeigen, einen "Ausweg finden, ihn zeigen und gehen." Stowassers Begriff von Anarchismus ist ein sehr praktischer und nicht bloß ein plakativer, der lediglich an der Verbreitung von "Anarchismus als Idee" interessiert ist. In der Bewegung herrsche jedoch der plakative und theoretische Anarchismus weit vor. Gerade dies jedoch beschränke den Anarchismus als politisches Konzept auf eine relativ kleine Gruppe, eine Szene, die nur an der Theorie und ihrer Verbreitung interessiert sei. Ihm geht es darum, den Anarchismus einer breiten Schicht der Bevölkerung zugänglich zu machen, indem er sich in deren Kontext begebe, denn nur so seien die Ideen für die Bevölkerung verständlich.

Wie soll hierfür die Struktur aussehen? Zunächst erklärt der Autor die ökonomische Mikrostruktur. Sie ist ein Verbund sogenannter "Doppelprojekte". Unter Doppelprojekten versteht er eine "feste Kopplung von zwei Projekten, von denen eines Geld abwirft, das andere Geld verbraucht". Dabei ist dies nicht dogmatisch, sondern von der Idee her zu verstehen. Es gibt zwei Gründe, warum es Doppelprojekte sein sollen: 1. Um eine "gesunde Mischung zwischen Projekten mit "plakativem" und "praktischem" politischem Wert zu erreichen." 2. Um eine ökonomische Stabilität der Projekte zu gewährleisten, gerade auch der politischen, die keine Gewinne erwirtschaften können. Doppelprojekte allein sind nichts neues, was ihre besondere Wirkung ausmacht ist die Vernetzung. Dies bezeichnet er als Projektverbund. Ein dritter wichtiger Punkt ist das gemeinsame Leben. "Im Regelfall sollte jedes Doppelprojekt auch an eine gemeinsame Wohngruppe gekoppelt sein. Man mag das Wohngemeinschaft, Kollektiv oder Kommune nennen." Das soll der Entfremdung entgegenwirken, die durch die Trennung von Wohnen und Arbeiten entstehe. Der Projektverbund setzt besondere Wachstumsprozesse frei, da die Projekte "geballt auf einmal" auftreten. "Dieser Projektverbund soll möglichst alle wichtigen Lebensbereiche abdecken. Nicht (...) nur solch ökonomische Randbereiche klassischer alternativer Produktion (...), sondern vor allem Produktion und Dienstleistungen, die die Menschen in der Stadt brauchen und in Anspruch nehmen werden." Dadurch soll es ermöglicht werden, daß die Leute aus dem Projekt ihre Bedürfnisse weitgehend innerhalb des Projektes befriedigen können, somit wenig Geld aus dem Projekt wieder abfließt. Zum anderen soll dadurch verhindert werden, ein sozio-ökonomisches Ghetto aufzubauen. Zwischen den Projekten soll eine gemeinsame Ökonomie aufgebaut werden, in der sich zum einen die Doppelprojekte gegenseitig stützen, andererseits aber auch eine gemeinsame Kasse eine Ausgleichsfunktion zwischen verschiedenen Projekten wahrnehmen kann.

Über allem steht das Ziel, nämlich eine Stadt mit einem anarchistisch-libertären Netzwerk zu unterwandern. Um sich vor Leuten zu schützen, die andere Ziele mit ihrer Projektteilnahme verfolgen, einfach nur eine Geschäftsgrundlage oder ein sicheres persönliches Auskommen suchen, soll es im Projekt "Auswahl-Filter" und eine "eingebaute Sicherheitsstrukturen" geben. Die Leute sollen sich an die "ethisch, politisch und moralisch verbindlichen Grundsätze" des Projektes gebunden fühlen.

Als Beschlußgremium, das die Inhalte des Projektes festlegt, sieht Stowasser die Vollversammlung, welche im Projekt "Rat" heißen soll. Der Rat ist die Gesamtheit der Projektmitglieder. "Es ist denkbar, daß die Gesamtheit nur allgemeine Grundsätze, nach denen Gelder verteilt werden sollen, festlegt und eine Gruppe mit der Ausführung der Beschlüsse betraut. Diese Gruppe jedoch hat keine generelle Entscheidungsbefugnis, sondern ist ausführendes Organ. Man merkt schon, daß allein diese unterste Ebene gemeinsamer Entscheidungsfindung eine Art Übergangsterrain ist für anarchistische Verhaltensmuster. Hier üben wir schon im Kleinen (...) Gesellschafts- und Verhaltensstrukturen ein, wie wir sie für den Aufbau libertärer Gesellschaftsstrukturen dringend brauchen und können müssen." Einzige moralisch-ethische Sanktion, die dem Rat letztlich seinen Mitgliedern gegenüber zur Verfügung steht, ist der Ausschluß. Er soll jedoch nur dann erfolgen, wenn ein Projekt sich praktisch durch sein Verhalten bereits selbst vom Gesamtprojekt distanziert hat, sich an die Regeln nicht mehr gehalten hat.

Im Projekt soll es eine möglichst große Vielfalt von Lebensformen aber auch ökonomischen Modellen geben. Die Projekte sollen autonom sein und selbst über ihre Bedürfnisse und Handlungsweisen entscheiden können. Anfangs sollten die Handlungen der ProjektteilnehmerInnen jedoch realistisch bleiben. Erst wenn das Projekt sich stabilisiert hat, kann die "Schöne Utopie" ausgelebt werden, wie etwa der Berufswechsel, das Reisen, die Freizeit . Die Etappe der Stabilisierung setzt Stowasser nach fünf Jahren an.

Danach folgt ein Abschnitt über die Chronologie des Vorgehens. Zunächst müssen sich die MacherInnen des Projektes finden. Erstes Kriterium dafür ist die Sympathie. Des weiteren plädiert er für das Aufstellen eines Kriterienkataloges für MitmacherInnen. Dies vor allem wegen der enormen Belastung, die er auf die Urgruppe, die sich für die konkrete Umsetzung des Projektes zusammenfinden soll, zukommen sieht. Wichtig ist ihm dabei, daß sich viele im mittleren Alter befinden, optimistische Realisten sind und auch Leute dabei sind, die Geld- und Sachwerte einbringen können. In Bezug auf die politische Gesinnung der TeilnehmerInnen vertraut er darauf, daß sich im wesentlichen nur anarchistisch-libertäre Menschen von einem solchen Projekt angezogen fühlen.

Danach stellt er die Gründung der Urgruppe bzw. der Pioniergruppe vor. Sie entsteht aus losen Diskussionszusammenhängen und Treffen zu dem Projekt und dem Buch. Die Gruppe ist weiterhin offen für neue Interessierte. Sie soll ein Sperrkonto einrichten, auf dem von jeder/m TeilnehmerIn ein monatlicher Beitrag eingezahlt wird. Dieses soll zum einen die Ernsthaftigkeit des Projektes unterstreichen und zum anderen nötiges Startkapital zu sammeln helfen. Die Urgruppe soll sich ihr Projekt ausarbeiten, das bestehende Konzept diskutieren und gegebenenfalls verändern.

Bleibt die Frage, wo das Projekt gestartet werden soll. Hierzu hat der Autor klare Vorstellungen. Es soll eine mittlere Kleinstadt sein, die eine gesunde Mischstruktur aufweist. Kulturell sollte in der Kleinstadt nicht viel los sein, denn damit hätte das Projekt einen Startvorteil und kann in diese Lücke eindringen. Die politische Struktur der Kleinstadt sei eher unwichtig, während sie eine lebenswerte Umgebung bieten und zudem nicht weit von einer Großstadt entfernt sein sollte. Wichtig wäre auch, daß die Grundstückspreise nicht zu hoch sind. Vor dem Projektstart sollte bereits Kontakt zu örtlichen links-anarchistischen Leuten aufgenommen werden. Nach und nach sollten die ProjektlerInnen in die Stadt ziehen. "Ein kleiner Teil der Urgruppe zieht zunächst einmal in die Stadt und beginnt mit 2-3 gut ausgesuchten Doppelprojekten. Der größere Teil der Urgruppe bleibt wo er ist und 'sichert ab'". Nach und nach sollen dann alle Projekte nachziehen, wobei ihnen die bereits übergesiedelten Projektteile helfen. So lange sich die Projekte wirtschaftlich noch nicht konsolidiert haben, sollte der Schwerpunkt der Arbeit jedoch auf der ökonomischen Seite und beim Kennenlernen und Erkunden angesiedelt sein und nicht auf der politischen - ohne das dabei Standpunkte geleugnet oder verschwiegen werden sollen.

Am Ende der Darstellung steht dann ein Blick auf die gesellschaftlichen Perspektiven des Projektes. So geht Stowasser davon aus, daß ein erfolgreiches Projekt in einer Stadt sehr bald in Nachbardörfer und Städte hinein expandiert und es auch Verbindungen zu Großstädten geben wird. So verbreitet sich die Idee und Praxis des Projektes durch Zeitschriften, Reisen, Vorträge, Seminare Filme etc.. "So werden wir dazu beitragen, daß sich ständig und immer mehr neue Projekte bilden und - Jahre nach uns - an anderen Orten mit ihren Projekten beginnen." Bestehende Projekte können nun auch neue Projekte fördern und aufbauen. Nach und nach würde es so die Gesellschaft verändern und umwälzen, sie revolutionieren. Beispiele solcher Entwicklungen sieht er in der anarchistischen Bewegung zur Einführung des Achtstundentages in Chicago 1886 oder auch in Spanien 1936.

Am Ende setzt er sich nochmal kritisch mit seinem Entwurf auseinander und macht die folgenden Schwachpunkte aus: 1. Die Gefühle der ProjektlerInnen, denn gerade der zwischenmenschliche Bereich ist besonders wichtig und schwierig. Hier müssen die Menschen im Projekt lernen zueinander "einfühlsam, tolerant und verständnisvoll zu sein." 2. Die zweite Gefahr liegt in der Integrationsfähigkeit des Systems - insbesondere auf ökonomischer Ebene. 3. Die Gefahr der Repression durch die Gegner des Projektes. 4. Die Kontakte zur Bewegung: "Unser Projekt wird sicher nach einiger Zeit viel Aufmerksamkeit im libertären Lager erregen. Und viel Kritik. Und viele Debatten. Viele Theoretiker werden ein neues Aufgabenfeld finden." Die Gefahr liegt darin, sich in der Auseinandersetzung mit dieser Kritik zu verstricken und darüber das Projekt zu vergessen. 5. Der Rat:, bei dem alle Probleme zusammen laufen, wird es am schwersten haben, sie zu lösen.

Diskussion und Weiterentwicklung

Das Buch fand große Verbreitung in der linken Szene der BRD und so bildeten sich - wie im Projektentwurf vorgesehen - verschiedene Diskussions- und Projektgründungsgruppen, geographisch und inhaltlich getrennt. Sie trafen sich bei den bundesweiten Projekt A-Treffen, zunächst bei Stowasser in Wetzlar, später dann auch an anderen Orten. An den Diskussions- und Vorbereitungsgruppen beteiligten sich insgesamt mehrere hundert Menschen, die über 3 Jahre mitdiskutierten. 1988 galt es, einen Standpunkt für das Projekt A zu finden. Zur Debatte standen Alsfeld (Hessen), Leer (Niedersachsen) und Neustadt/Weinstraße (Rheinland-Pfalz). Die Gruppe entschied sich auf dem sogenannten "Sekttreffen" im Juli 1988 für Alsfeld als offiziellen Projektmittelpunkt. Leer und Neustadt sollten assoziierte Nebenprojekte werden für Leute, die nicht nach Alsfeld gehen wollten. [2] Gerade in der Anfangszeit waren viele Menschen aus der politischen Szene - manche pragmatisch, andere vor allem an der inhaltlich-ideologischen Diskussion interessiert. Aber es blieben genügend praktisch orientierte Leute übrig, um mit einer sehr viel kleineren Gruppe nach Alsfeld zu gehen. Doch bald begann der Streit um politische Standpunkte und lähmte das Projekt. Die Menschen verstritten sich und das Projekt scheiterte. Viele gingen wieder weg, andere siedelten gar nicht erst über nach Alsfeld. Inzwischen hatte sich jedoch in Neustadt einiges entwickelt.

In Neustadt vollzog sich quasi parallel eine zweite Projektbiographie. Dort hatte sich aufgrund einer Volkszählung 1987 eine lokale Boykottinitiative gegründet. Die Leute lernten sich besser kennen und hatten Lust, auch nach der Volkszählung weiterhin gemeinsame politische Arbeit zu machen. Ein Mitglied der Initiative brachte das "Projekt A" - Buch mit und stellte es der Gruppe vor. Sie beschlossen, sich damit zu beschäftigen und arbeiteten das Buch gemeinsam durch. Dabei erkannten sie viele Parallelen zur eigenen Situation, so daß sich die Gruppe entschloß, das Konzept auch für die eigene politische Arbeit ernst zu nehmen und sich an dem Projekt A-Netzwerk zu beteiligen. Jedoch beschlossen sie, das Konzept eher als Anregung denn als Doktrin zu verstehen. Die Besitzer eines leerstehenden Fabrikgebäudes in der Innenstadt von Neustadt traten dann 1989 an die Initiative heran und boten ihnen das Gebäude zu sehr guten Konditionen zum Kauf an. Spontan entwarf die Gruppe Konzepte, um auf dem Gelände ein Gemeinschaftsprojekt zu gründen, den späteren Ökohof. Sie beschafften Gelder, pachteten ab Mitte 1988 und kauften dann im April 1990 das Gelände, renovierten und sanierten, gründeten Betriebe etc. Mit dem Scheitern des Projekts A in Alsfeld kamen nun auch zunehmend Leute von dort nach Neustadt, denn hier lief das Projekt. Es florierte und expandierte rasant. Immer mehr Kollektivbetriebe wurden gegründet, bzw. schlossen sich der WESPE an. Es bildete sich eine sehr aktive Kulturgruppe.

Realisierung: Die WESPE

W.E.S.P.E., so nennt sich der in Neustadt gestartete Projektzusammenschluß, der sich als Teil des bundesweiten "Projekt A"-Zusammenschlusses sieht. WESPE soll Utopie zum Anfassen sein. Sie soll ein praktischer Ansatz zur Verwirklichung von Anarchie im Alltag sein. Der Minimalkonsens von WESPE ist in den drei Stichpunkten selbstverwaltet, ökologisch und libertär zusammenzufassen. [3] Der Zusammenschluß möchte seine Grundsätze und Handlungsweisen dabei nicht an eine vorgefertigte Ideologie anlehnen, sondern durch Erfahrungen selbst erwerben. Dabei geht es den Leuten um "Lebensqualität" und auch "Spaß", um "linke Lebenslust". Konkret gehören der WESPE Initiativen, selbstverwaltete Betriebe und Wohngemeinschaften an, die sich in Kollektiven organisieren. Jedes Kollektiv hat dabei Autonomie in seiner Organisation und Handlungsweisen. Das Spektrum der Initiativen reicht von politischen Gruppen, die sich ad hoc zu einem Thema zusammenfinden bis hin zu dauerhaften Gruppen, wie etwa die Männer- und Frauengruppe(n), dem Kulturkollektiv "Wespennest" e.V., einer Mediengruppe, oder dem anarchistischen Dokumentationszentrum "AnArchiv". In der WESPE waren zu Hochzeiten 14 Betriebe zusammengeschlossen: eine Möbel- und eine Bauschreinerei (BAUM und HOLZWÖRK), ein Installationsbetrieb (WIESE) mit Erfinderwerkstatt, ein Ökobaustoff- und Möbelhandel (FIRNIS), eine Buchhandlung (QUODLIBET), ein Bioladen (ABRAXAS), eine Restaurationswerkstatt für Antiquitäten (FIRNIS), ein Fahrradladen (PIRAD), ein umweltanalytisches Labor (LAUS), ein Transportunternehmen für Bio-Lebensmittel (A&D), ein An- und Verkaufsladen für Elektronik und Perkussionsinstrumente (IKKES SHOP), ein Antiquitätengeschäft (ANTIKLADEN DEIDESHEIM), ein Verlags- und Werbeatelier (DIE LETTER, heute CONTIGO).

Die Philosophie der Betriebe zeichnet sich aus durch selbstbestimmtes Arbeiten mit möglichst wenig Entfremdung und Hierarchien, einem menschenwürdigem Auskommen mit einem sicheren Einkommen, Arbeit, die Spaß macht, sinnvolle Produkte oder Dienstleistungen, ökologisch verträglich produzieren, handeln und beispielgebend wirken, Transparenz aller Betriebsbereiche, Arbeitsplätze, die Müttern und Vätern Zeit für ihre Kinder lassen und insbesondere Frauen überhaupt ein Berufsleben ermöglichen, Möglichkeiten des Wechsels der Funktionen im Betrieb, Chancen zum Berufswechsel bei Interessenswandel. Wobei nicht immer alle diese Ansprüche von den einzelnen Betrieben auch verwirklicht werden.

Die konkrete Struktur der WESPE ist ein Netzwerk. So wird in der Broschüre "WESPE à la Carte" beschrieben: "Alle Strukturen, die es heute in der WESPE gibt, wandeln sich in ihren Details und Feinheiten ständig." Fester Bestandteil der WEPSE ist das monatliche Plenum auf dem Ökohof, der den Mittelpunkt des Projektes darstellt. Das Plenum ist nicht öffentlich und erörtert überwiegend Sachfragen und aktuelle Probleme. Die Teilnahme ist - wie überall in WESPE - freiwillig. Nach dem Plenum findet ein "politischer Dämmerschoppen" statt, wo auch Raum für andere Themen und Probleme ist. In Entscheidungsfragen wird auf dem Plenum ein Konsens angestrebt.

Die meisten Probleme im Projekt tauchen jedoch auf der Ebene der einzelnen Gruppen auf, wo sie auch meist gelöst werden. "Ins WESPE-Plenum gelangen nur noch Themen, die für uns alle relevant sind." Unterhalb des Plenums gibt es Gremien, die sich auf bestimmte Gebiete spezialisiert haben. Sie arbeiten dem Plenum zu, bereiten Entscheidungen vor und arbeiten Lösungen aus. Gremien sind in den Bereichen Finanzen, Verwaltung, Interne Transparenz, Bautechnik, Rechtsfragen, Öffentlichkeitsarbeit, Streitschlichtung etc. eingerichtet worden. Die Mitglieder der Gremien arbeiten ehrenamtlich. Darüber hinaus gibt es den "großen Ratschlag", ein Klausurtreffen, das ein bis zwei mal pro Jahr auswärts stattfindet und dazu dienen soll, einen kritischen Rückblick zu halten und ein "Brainstorming" für die mittlere Zukunft zu ermöglichen.

Zur eher internen Kommunikation gibt es außerdem die monatlich erscheinende Zeitschrift "Stichpunkte" und zur strikt internen Kommunikation die Zeitschrift "Kraftbrühe".

Krise, Konflikte, Auflösung

Nach einer fast euphorischen Aufbauphase des WESPE-Projektes in Neustadt zeichneten sich nach 3 Jahren erste Probleme ab. So war nicht mehr genügend Geld zur Fertigstellung der Kneipe da und die ersten Betriebe mußten sich der harten ökonomischen Realität anpassen. Manche vielleicht blauäugige Firmengründung rächte sich nun. Im Sommer 1994 fand der bis dahin im Groben doch sehr positive Projektverlauf eine jähe Unterbrechung. [4] Für Sommer 1994 war das große Coming-Out des WESPE Projektes geplant. Die Kneipe "Wespennest" im Ökohof sah ihrer Eröffnung entgegen und das Projekt hatte sich scheinbar stabilisiert. Die Kulturgruppe plante die erste Großveranstaltung. Um dem Ganzen einen angemessenen Rahmen zu geben, mieteten sie für ein Wochenende das Hambacher Schloß und stellten ein großes Kulturprogramm auf. Der große Renner sollte die Punkrockband "Heiter bis wolkig" sein. Doch es kam alles anders. Drei Tage vor Beginn der Veranstaltung ging bei WESPE ein Fax ein, aus dem hervorging, daß ein Bandmitglied eine Frau vergewaltigt haben soll, und die WESPE wurde aufgefordert, der Band abzusagen. Auf der daraufhin von der veranstaltenden Kulturgruppe einberufenen Plenum kam es zum Streit, wie nun zu verfahren sei. Es wurde lange diskutiert und die Differenzen der WESPE-Mitglieder in der Frage, wie nun zu verfahren sei, aber auch grundsätzlicher, auf der ideologischen Ebene, was den Vorwurf der Vergewaltigung anging, traten nun deutlich zu Tage. Die Diskussion zog sich bis in die Nachtstunden und die Wenigen noch anwesenden beschlossen, die Band auftreten zu lassen. Dabei wurde den KritikerInnen zugestanden, daß sie ihre Kritik vor Ort frei äußern können. Doch damit war offenbar kein Kompromiß gefunden. Auch gab es erhebliche Proteste von linken - insbesondere feministischen - Gruppen aus der ganzen Bundesrepublik. So kam es beim und schon vor dem Auftritt der Band auf dem Hambacher Schloß zu einer sehr aufgeheizten Stimmung. Der Konflikt eskalierte bis hin zu Handgreiflichkeiten. Viele Leute verstanden die Welt nicht mehr, sahen sich in Konflikten, die sie überforderten. Eine systematische Aufarbeitung des Konfliktes fand später nicht mehr statt. Ein Riß ging quer durch die Betriebe, Initiativen und WGs. Leute wechselten kein Wort mehr miteinander und gingen sich aus dem Weg. In der Folge zogen sich immer mehr Leute aus der WESPE zurück, der Zenit des Projektes war überschritten. [5] Mit der Kommunikationsunfähigkeit, die sich damit immer mehr ins Projekt einschlich, traten auch verstärkt ökonomische Probleme auf. Einzelne Kollektive gingen Pleite und die Zeit des Wachstums war vorbei: keine neuen Betriebe und Initiativen, keine neuen Leute. Der anfängliche Schwung der Euphoriephase war vorbei und die WESPE wurde zunehmend als eine Last empfunden. Die Plena wurden immer schlechter besucht und auch andere Gemeinschaftsaktivitäten nahmen rapide ab. Einen weiteren Konflikt stellte zwei Jahre später der Bruker-Konflikt dar. Der rechtsextreme "Ernährungspapst" Max Otto Bruker sollte in Neustadt auftreten. Der Bio- und der Buchladen verkauften die Eintrittskarten zur Veranstaltung. Daraufhin kam es zu einem Streit zwischen WESPE-Mitgliedern und auch bundesweiten Zusammenhängen über die unterstützende Tätigkeit durch Teile der WESPE. Es entstanden neue Gräben zwischen WESPE-AktivistInnen. Ende 1996 war der Ansatz von WESPE zunächst einmal gescheitert. Übrig blieben die Kulturgruppe und vier Betriebe sowie der Ökohof und viele Einzelpersonen, die in Neustadt hängen geblieben sind oder schon vorher dort waren.

Fußnoten:
[1] Horst Stowasser: Das Projekt A, 2. Auflage, Wetzlar, 1992
[2] Vgl. Elisabeth Voß: In einer Kleinstadt selbstverwaltet, ökologisch und libertär leben, In: Burghard Flieger/Bernd Nicolaisen/Rolf Schwendeter (Hrsg.): Gemeinsam mehr erreichen; Kooperation und Vernetzung alternativökonomischer Betriebe und Projekte, München: AG SPAK-Bücher; Bonn: Stiftung Mitarbeit, 1995
[3] Broschüre: "WESPE à la Carte", Neustadt/Weinstraße, ohne Erscheinungsjahr
[4] Anmerkung: Es ist schwer, die Vorkommnisse dieser Zeit in ihrer Komplexität darzustellen, da ich auch auf die Aussagen der Interviewten sowie einiger persönlicher Randinformationen und Schriftstücke angewiesen bin. Deshalb erhebt die Darstellung an diesem Punkt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und 100%-ige Richtigkeit. Vielmehr kann ich die Ereignisse nur grob darzustellen versuchen.
[5] Quelle: Interviews mit WESPE-AktivistInnen

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Aus: DER RABE RALF - Die Berliner Umweltzeitung, c/o GRÜNE LIGA Berlin e.V., Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg

Originaltext: www.grueneliga.de/berlin/raberalf