Jens Herrmann - Anspruch und Wirklichkeit politischer Gemeinschaftsprojekte

Teil 11 der Artikelserie Politische Gemeinschaften aus der Zeitschrift "Rabe Ralf"

Nachdem ich in der letzten Folge das letzte der drei politischen Kommuneprojekte, die WESPE in Neustadt (Weinstraße), vorgestellt habe, versuche ich nun die zentralen Ansprüche, mit denen die drei Projekte zu Beginn ihrer Projektbiographie antraten, kurz zu resümieren. Und was denken eigentlich die KommunardInnen in den Projekten selbst? Was sind ihre Ansprüche an das Projekt und welche individuellen Wahrnehmung der Wirklichkeit in ihrem Projekt haben sie?

Projektansprüche auf dem Papier

Sieht man sich die drei Projektentwürfe an, so fällt auf, dass sie aus einem antikapitalistischen und politisch motivierten Hintergrund heraus entstanden sind. Sie wollen der kapitalistischen Verwertung der Individuen eine kollektive Alternative entgegensetzen. Dabei geht es darum, die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit aufzuheben. Am deutlichsten ist dies in den Visionen des Finkhofs und der Kommune Niederkaufungen enthalten, weniger stark auch im Entwurf des Projekt A und der WESPE. Auf der ökonomischen Ebene streben die Projekte eine starke Solidarität an, wobei es hier einen zentralen Unterschied zwischen den beiden Kommunen und dem Projekt A / WESPE gibt.

Sowohl im Finkhof als auch in Niederkaufungen soll die Solidarität über eine gemeinsame Ökonomie hergestellt werden, die bis hin zur Aufhebung einer individuellen Geldwirtschaft und zur Finanzierung aller Bedürfnisse über eine Bedürfniskasse geht. In der WESPE sollte es lediglich Ausgleichs- und Kreditfonds geben und den einzelnen Teilen des Projekts selbst überlassen bleiben, inwieweit sie Privateigentum intern abschaffen. Die beiden Kommunen greifen auch auf den Gedanken der Selbstversorgung (Subsistenz) zurück, wobei dieser im Finkhof stärker ausgeprägt ist, als in der Niederkaufunger Kommune.

Die Kommunen verstehen sich nicht als Insel-Projekte und wollen Teil politischer Auseinandersetzungen und Bewegungen sein. WESPE und Niederkaufungen wollen dazu auch dezidierte Schnittpunkte zur Gesellschaft aufbauen: zum einen in den Betrieben und Kulturinitiativen, die durch ihr Wirken Alternativen aufzeigen sollen, zum anderen durch die (individuelle) Einbindung von Projektmitgliedern in politische Bewegungen und Initiativen. Darüber hinaus wollen sie mit Kennenlernwochenenden und Kommuneseminaren einen umfassenden Einblick ermöglichen.

Experiment für neue Gesellschaft

Die Gemeinschaften haben den Anspruch, Modell und Experiment für eine neue Gesellschaft zu sein. Sie wollen eine praktische Alternative aufbauen und nicht auf eine vermeintliche Revolution warten. Sie wollen beweisen, daß es geht, anders zu leben und zu arbeiten.

Besonders weit geht der formulierte Anspruch auf ein Gemeinschaftsleben in Niederkaufungen, wo die Zurückdrängung der Kleinfamilienstruktur und des Individualismus als Ziel formuliert sind. Im Projekt A / WESPE liegt die Betonung eher auf dem Angebot und der Freiwilligkeit der ProjektteilnehmerInnen, mehr Gemeinschaft einzugehen. Der Finkhof, ganz aus den Strömungen der 70er entstanden, war stark dominiert von dem Anspruch, die elterliche Kleinfamilie zu überwinden. Eine Zeit lang orientierten sich die KommunardInnen stark an Longo Maï, an eine Gemeinschaft im Sinne eines Stammes, jedoch ohne die dortigen Hierarchien.

Das Projekt A/WESPE und Niederkaufungen zielen auf ein langfristiges und dauerhaftes Projekt. Im Finkhof gab es hierzu anfangs unterschiedliche Vorstellungen. Manchen schwebte ein Nomadentum als SchäferInnen vor – um möglichst unabhängig und ungreifbar zu sein.

Selbstverwaltung und Herrschaftsfreiheit sind weitere Ansprüche der drei Projekte. So wollen sie Entscheidungen gemeinsam treffen, internen Machtstrukturen entgegenwirken und Hierarchien abbauen. Auch hier sind die Ansprüche in Niederkaufungen und im Projekt A-Entwurf am weitesten ausgearbeitet, während sich im Finkhof vieles aus einer gelebten Praxis entwickelte.

Politische Erfolge

Abseits von den in abstrakten Büchern, Broschüren und Grundsatzerklärungen festgelegten Ansprüchen gibt es eine zweite und für den realen Weg des Projektes entscheidendere Ebene von Ansprüchen an die Projekte. So sind die eigenen Ansprüche der KommunardInnen an ihr Leben im Projekt sowie an das Projekt selbst ein Spiegel dafür, inwieweit man von einem politischen Erfolg der Kommunen sprechen kann. Man kann das Potential, welches in dem alternativen Lebensmodell liegt, der gelebten Wirklichkeit gegenüberzustellen. Deshalb geht es mir im Folgenden um die persönlichen Motivationen der KommunardInnen zum Leben in der Gruppe, ihre Ansprüche in Bezug auf die politische Rolle ihrer Projekte, sowie die konkreten Vorstellungen und Wünschen an ein alternatives Leben, Arbeiten und politisches Handeln.

Warum in einer Kommune leben?

Es gibt viele Motivationen für Menschen, in ein solches Projekt einzusteigen. Nahe liegende Gründe sind die Suche nach mehr Gemeinschaft und der Wunsch, etwas Neues, Anderes auszuprobieren. So etwa bei Astrid, die sich, nachdem ihre Kinder groß waren, eine neue Aufgabe suchte. Auch Frustration über den bisherigen Lebensweg und das politische Engagement zuvor können eine Grund für den Einstieg sein. So war Petra von der autonomen Szene gefrustet und kam mit dem Lebensmotto "wütend" nicht mehr klar. Da sprach ihr der positiv-konstruktive Lebensentwurf der Kommune Niederkaufungen "aus der Seele".

Auch der Wunsch nach mehr Verbindlichkeit im Zusammenleben und nach größeren Zusammenhängen führt Menschen in Kommunen. Andere suchen einen "Platz für Kinder und für eine gemeinsame berufliche Entwicklung", da sie die Kleinfamilie als Lebensform ablehnen.

Die Motivation der Neustädter ist unterschiedlich. Dort reicht die Motivation vom eher zufälligen Hineinrutschen in das Projekt bis hin zur Hoffnung auf eine langfristige und durchdachte Lebensperspektive.

Politische Motivationen finden sich auch bei Horst, der mit dem WESPE-Projekt seine persönlichen Wünsche und politischen Utopien umsetzen wollte. Er sagt: "Ich möchte in meinem Leben besser leben, es schöner haben. Mir stinkt´s. Ich hatte zwei Gründe: Ich möchte diesen Weg, den ich vertrete, umsetzen. Und den Menschen beweisen, das geht." Mike vom Finkhof wollte etwas anders machen und nicht so wie seine Eltern leben. Jona aus der Kommune Niederkaufungen hebt besonders die eigene Rolle hervor. So bedürfe es einer Veränderung der eigenen Lebensweisen, um die Ungerechtigkeiten in der Welt anzugehen. Einen emotionalen Blick auf die Sache hat Petra: "Der Einstieg in der Kommune hat immer was mit verliebt sein zu tun. Ich war hier in jeden verliebt, ich war in die Idee verliebt, ich war in die Kommune verliebt."

Insgesamt gehen die Aussagen der ProjektteilnehmerInnen damit in die Richtung ganz persönlicher Motivationen zum Einstieg in die Gemeinschaft. Politische Überzeugungen oder eine bewußte Entscheidung, Kommune als politisches Betätigungsfeld zu leben, sind nur selten wichtigste Motivation.

Politische Rolle der Projekte

Die Ansichten über die politische Rolle der Projekte sind sehr unterschiedlich. Mike sagt über den Finkhof, dass er sich über Politik definierte. So habe man sich in der Selbsthilfebewegung engagiert und die Kontakte hätten bis zum RAF-Umfeld gereicht. Seine Mitkommunardin Caroline konstatiert das Gegenteil: "Wir sind ein Haufen dickköpfiger Individuen, die ihr Leben gemeinsam gestalten wollen. Aber wir waren und sind keine Kommune mit Anspruch." Vielmehr handele es sich um eine recht funktionale Haus- und Produktionsgemeinschaft.

Oft wurde die Frage diskutiert, wo das Politische der Gemeinschaft anfängt. Reicht es aus, in der Gemeinschaft anders zu leben? Petras Maxime war "Das Private ist politisch." Und dazu zählten für sie die drei Eckpunkte linksradikaler Politik antisexistisch, antikapitalistisch und antiimperialistisch. Einigen ist das nicht genug. "Eine Kommune allein ist nicht politisch." Es bedürfe auch eines nach außen Tragens der gelebten Praxis. Politisch sei eine Kommune erst, wenn sie sich der öffentlichen Diskussion stelle. Uli aus Niederkaufungen meint, die anderen Lebens- und Arbeitsformen, Besitzverhältnisse und Entscheidungsstrukturen in einer Kommune müssten nach außen getragen werden. Auch für die Ex-Neustädterin Elisabeth ist das Leben in Gemeinschaft nicht per se politisch: "Es gibt keinen Automatismus, daß Gemeinschaftsleben automatisch politischer wäre." Nicht jeder hat den Anspruch, gesellschaftspolitisch zu wirken. Insgesamt wurde er selten erwähnt oder sogar negiert.

Den NiederkaufungerInnen ist der Kontakt zu ihrem direkten Umfeld wichtig, so etwa die Anbindung an eine Metropole und den Kontakt zu den Leuten ihrer Umgebung. Auffallend ist, daß sich die Wahrnehmung des Politischen in der Gemeinschaft und im näheren Umfeld meist auf den Aspekt des Vorlebens eines anderen Lebensentwurfs beschränkt und die Kommune kaum als öffentlich politischer Ort und aktiv nach außen handelnde Gemeinschaft gewünscht wird.

Auch für Anke ist eine Kommune ein Vorbild für die Gesellschaft. Horst sagt, es gehe nicht um die Szene, sondern um ihre Wirkung auf die Normalbevölkerung. Uli drückt das so aus: "Teil unseres politischen Ansatzes ist es, mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen und ihnen zu zeigen, daß man auch anders leben kann - und nicht nur den Leuten, die eigentlich sowieso von ihrem Anspruch her anders leben wollen oder was anderes machen wollen."

Anders leben, arbeiten und politisch handeln

Doch wie sollte das andere Leben aussehen? Welche anderen Lebens-, Arbeits- und Politikformen wollten die Einzelnen in den Projekten verwirklichen?

Den NiederkaufungerInnen war die Größe der Gemeinschaft wichtig, mit der sie Vielfalt und Freiheiten verbanden. Die Gemeinschaft sollte trotz der Aufhebung der Kleinfamilie eine familiäre und freundschaftliche Struktur haben. Das gemeinsame Aufziehen der Kinder war vielen Eltern wichtig.

Ein weiterer Anspruch war die gemeinsame Ökonomie. Das Leben und Arbeiten am selben Ort versprach Gleichberechtigung und größere Handlungsspielräume. Arbeit sollte nicht geschlechterspezifisch aufgeteilt und gleich bewertet werden. Das gemeinsame Arbeiten war für Jona ebenso ein Grundsatz, wie es ihm wichtig war, selbstbestimmt in seinem Arbeitsbereich agieren zu können.

Inwieweit wollte man andere Menschen überzeugen? Ulrich versprach sich zunächst viel mehr Gesellschaftsveränderung von seinem Projekt und hat nun seine Ansprüche zurückgeschraubt. Ihm ginge es nicht mehr um das klassische Verständnis von Politik, Leute direkt überzeugen zu wollen "Sie sind da, wo sie sind. Wenn ich sie erreichen will, dann darf ich nicht zu massiv auftreten, denn sonst machen sie dicht." Eine Kommune ist nie perfekt, sie ist für Horst das "alltägliche Mittelmaß des gelebten Anarchismus mit all seinen Widersprüchen und auch seinen nicht perfekten Konstrukten". Der Niederkaufunger Kommunarde Jona sieht eine Kommune als Antwort auf destruktive Demonstration oder andere Aktionen, nachdem man begriffen hat, was man ändern kann und was nicht. Ich will sehen, hier kann ich was machen und produktiv sein und nicht nur destruktiv."

Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß es bei den konkreten Formen des anderen Lebens zwischen den einzelnen Projekten erhebliche Differenzen gibt. Am ähnlichsten sind sich hier Niederkaufungen und der Finkhof, wo KommunardInnen den Wunsch vertraten, in einer Gemeinschaft mit vielen Möglichkeiten und abseits der traditionellen Kleinfamilie zu leben. Der Anspruch, eine gemeinsame Ökonomie zu machen und nach dem Bedürfnisprinzip zu leben, wird von allen Interviewten geteilt, wenngleich er nicht immer politisch motiviert ist. Das gemeinsame Leben und Arbeiten, sowie die gleiche Bewertung der Arbeit werden insbesondere in Niederkaufungen offensiv als Anspruch gesehen, ebenso wie die nicht-geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Bereits ihr Leben in einer Kommune sehen einige KommunardInnen bereits als politisch an. Viele haben jedoch auch den Anspruch, das eigene Leben offensiv und öffentlich zu propagieren. Sie wollen das andere Leben vorleben, andere Formen des Zusammenlebens aufzeigen. Die Neustädter ProjektlerInnen hatten vergleichsweise wenig konkrete Vorstellungen des alternativen Lebens, außer dem Anspruch, ohne Chef in kollektiven Strukturen arbeiten zu wollen. Für sie ging es darum, über Alltäglichkeit und Einbindung in die Stadt, durch die "Trivialität des Alltags" zu wirken. Das lag ihnen näher als der Traum vom großen politischen Konzept.

Gespräche mit den Kommunarden

Als ich in den Projekten war, führte ich mit verschiedenen ProjektteilnehmerInnen Gespräche. So traf ich im Finkhof auf Mike, (45), einem Kommunarden von der ersten Stunde. Er ist dort für Büro, Technik und Verkauf zuständig. Weiterhin sprach ich mit Caroline (50), der Kommune-Ältesten, die von Beruf wissenschaftliche Bibliothekarin ist, seit 1984 auf dem Hof lebt und dort für die Färberei, den Laden, den Markt-Verkauf und die Buchhaltung zuständig ist. Meine dritte Gesprächspartnerin dort war die 36jährige Eva. Sie arbeitet in der Kommune in ihrem Beruf als Handweberin und lebt seit 1994 auf dem Finkhof. Außerdem ist sie im Garten aktiv.

In Niederkaufungen sprach ich mit Astrid (48), die ausgebildete Bankkauffrau ist und in der Erwachsenenbildung arbeitet. Seit 1997 ist sie in der Kommune und dort für die Bereiche Verwaltung und Kommunekasse zuständig. Anke (35) ist hingegen ausgebildete Krankenschwester und seit 1995 in der Kommune. Sie arbeitet außerhalb der Kommune in der ambulanten Pflege, kümmert sich um den Garten und das Heizen. Seit der Gründung der Kommune 1986 lebt der heute 44-jährige Uli in Niederkaufungen. In der Kommune ist er für die Bereiche Verwaltung, Büro und Beratung zuständig. Er hat zwei Kinder, mit deren Mutter er in einer festen Beziehung in der Kommune lebt. Die 41-jährige Petra ist von Beruf Krankengymnastin und lebt seit 1997 in Niederkaufungen. Dort ist sie im Küchenkollektiv tätig und bietet an einem Tag in der Woche körpertherapeutische Arbeit an. Mein fünfter Interviewpartner in Niederkaufungen war Jona (34). Er lebt seit 1997 in Niederkaufungen, wo er in den Arbeitsbereichen Tagungshaus und Bildungsarbeit tätig ist. Außerdem macht er die Lohn- und Finanzbuchhaltung.

In Neustadt (Weinstraße) sprach ich mit der Diplom-Sozialpädagogin und Schreinerin Christine (42). Von Anfang an hatte sie das Projekt begleitet und arbeitete im WESPE-Schreinerei-Kollektiv "Baum". Der 36-jährige Gerold war seit 1989 bei WESPE dabei und arbeitete im Buchhandlungskollektiv "Quodlibet" sowie im Vorstand des WESPE e.V. Ulrich (36) lebt seit Anfang 1992 in Neustadt und arbeitet im Naturkostenladen "Abraxas", der Teil der WESPE ist und für den er die Verwaltung macht. Elisabeth (44) arbeitete in WESPE in ihrem Beruf als betriebswirtschaftliche Leiterin des Handwerkskollektivs "WIESE" sowie im Vorstand des Vereins. Sie stieg im Sommer 1996 aus WESPE aus. Horst ist 48 Jahre alt, und Autor des Buches "Projekt A". Damit ist er sozusagen "Erfinder" des Projektes. Über Alsfeld kam er 1990 nach Neustadt. Nach dem "Heiter bis wolkig" - Konflikt stieg er aus der WESPE aus, blieb jedoch im Umfeld.

Die ganze Serie kann als Original-Diplomarbeit gegen 5 € und einen frankierten (0,77 €) und adressierten A4-Papp-Umschlag beim Autor bezogen werden: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Aus: DER RABE RALF - Die Berliner Umweltzeitung, c/o GRÜNE LIGA Berlin e.V., Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg www.grueneliga.de/berlin/raberalf

Originaltext: www.grueneliga.de/berlin/raberalf