Was ist eigentlich AnarchaFeminismus?

Inhalt:

Anstelle eines Vorworts (Frühjahr 2003)

Anfang der 20er Jahre zählte die FAU Deutschland (FAUD), eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft, über 100 000 Mitglieder, sie war somit die größte anarchistische Organisation, die es in Deutschland bis heute gab. Davon waren aber gerade mal 10% Frauen, die wenigsten davon sind namentlich erwähnt, kein Wunder, ist doch sowohl die Geschichte des Anarchismus als auch die der FAU eine Geschichte der Männer. Hinzu kommt noch die Dreifachbelastung der Frauen durch Arbeit, Haushalt und Politik, wobei letztere auf Kosten der anderen oft zurückgesteckt oder gar aufgegeben werden musste.

Die wenigen Frauen waren allzu oft Anhängsel oder schlicht die ‚Frau von’, eigene politische Meinungen oder gar Aktivitäten wurden ihnen nicht zugesprochen, denn ‚die weibliche Arbeitskraft gehört schon von Natur aus nicht in die Fabriken und Kontore’[1]. Auch verheiratete Männer waren nicht gern gesehen: ‚In Deutschland sind verheiratete Genossen für die anarchistische Propaganda fast immer untauglich. Es hat seinen Grund einerseits in den grenzenlosen Egoismus der deutschen Frauen...’[2]. Darum propagierten die männlichen Genossen die freie Liebe als Alternative zur einengenden Ehe, allerdings mit ganz anderen Vorstellungen als anarchistische Frauen wie Emma Goldman: freie Liebe wurde von vielen Genossen schlicht als Promiskuität definiert, Genossinnen wurden deshalb oft als frei verfügbare Betthupferl betrachtet, jede Genossin hatte für jeden Genossen dazusein. Für Emma Goldman, wohl die bekannteste unter den Anarchistinnen, war freie Liebe aber vor allem die Befreiung von gesellschaftlichen Moralvorstellungen und das Recht auf eine selbstbewusste und autonome Sexualität.

Warum aber zogen die männlichen Genossen nicht auch die Konsequenz ihres anarchistischen Denkens im privaten Bereich? Sie traten ein für die völlige Abschaffung jeglicher Herrschaftsverhältnisse, wollten, dass alle Menschen in Freiheit leben könnten und über ihr Leben selbst bestimmen sollten. Auf der anderen Seite setzten sie sich aber dafür ein, dass ihre Frauen oder Töchter in den traditionell zugewiesenen Bereichen wie Küche oder Haushalt blieben. Proudhon, einer der ‚Urväter’ der anarchistischen Theorie, bezeichnet das Haus als Platz der Frau, der Mann hingegen ist zuständig für alle ‚außerhäuslichen’ Bereiche. Mit den weiblichen Emanzipationsvorstellungen sieht Proudhon wie viele andere seiner Genossen, etwa auch Johann Most (‚Die Gottespest’) die Moral des Volks gefährdet: ‚Lieber die Frau hinter Schloss und Riegel, als emanzipiert.’[3] Der Platz der Frau ist und bleibt der häusliche Bereich, die Kindererziehung; Hausfrau und Mutter sollten die erstrebenswerten Ziele jeder Frau sein, andere weibliche Tugenden wie Einfachheit und Güte ergänzen sein reaktionäres, im völligen Gegensatz zu seinem ökonomischen und sozialen Ideen stehendes Frauenbild.

Ein Problem ergibt sich auch aus dem sogenannten proletarischen Antifeminismus: Frauen als Billigkonkurrenz am Arbeitsmarkt, vom Kapital nur allzu oft als industrielle Reservearmee zum Lohndumping eingesetzt, dasselbe Problem, mit dem sich heute insbesondere MigrantInnen von ihren inländischen ArbeitskollegInnen konfrontiert sehen.[4] So waren mitunter die Männer der ArbeiterInnenbewegung die entschiedensten Vertreter der Zuweisung der Frauen in den häuslichen Bereich. Andere sahen in den Frauen zumindest so etwas wie eine nicht zu unterschätzbare Hilfstruppe der Partei, aber noch war es ‚ihre Revolution’, in die sich die Frauen einzumischen drohten. Ausgenommen von Krisensituationen wie zur Zeit der Pariser Kommune oder bei Streiks bzw. gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Exekutive, bei der Frauen in vorderster Front kämpften, versuchten Männer immer wieder, ihre weiblichen Genossinnen aus ‚ihrer’ Organisation zu drängen.

Die Arbeiterinnen unter den Frauen wollten gleichberechtigt in der FAUD neben den Männern kämpfen, aber angesichts der Auseinandersetzungen mit den männlichen Genossen, die ihnen nur allzu oft zu spüren gaben, dass sie in einer Gewerkschaft fehl am Platz wären, wurde der Wunsch nach einer eigenständigen autonomen Frauenorganisation, und zwar für alle Frauen, egal ob Arbeiterin oder Hausfrau, immer größer. Als sie begannen, sich in lokalen Frauenbünden zu organisieren, führte das durch männlichen Genossen zum Vorwurf der drohenden Spaltung und zur Befürchtung, ihre eigene Kampfkraft zu verlieren. Doch die Frauen ließen sich nicht entmutigen, sie steigerten ihre Entschlossenheit, um ihre Autonomie (auch) in ihrer Organisationsform zu erkämpfen, denn ‚jene Männer sind, trotzdem sie ein knallrotes Parteibuch in der Tasche tragen, nichts anderes als Ausbeuter und Sklavenhalter’[5]. So gründeten die Frauen syndikalistische Frauenbünde, in denen sie autonom und ohne Bevormundung durch die Männer agieren konnten; 1921 zählte dieser etwa 10 000 Frauen.  Die Frauen beschäftigten sich mit ihrer Rolle in der Gesellschaft, aber auch mit der Idee von freien Schulen, den Methoden der Geburtskontrolle und Empfängnisverhütung. Für diese Mädchen und Frauen war durch die Erfahrungen mit den männlichen Genossen und deren Ablehnung ihrer Rechte auf ein Leben frei von Unterdrückung und Vorherrschaft klar geworden, dass mit der Abschaffung des Kapitals nicht auch die Befreiung der Frau einherginge; um diese müssten sie sich schon selbst bemühen, denn auf die Unterstützung der Männer konnten sie nur allzu selten zählen, ohne bevormundet zu werden. Ebenso, wie der Arbeiter nicht mit dem Kapitalisten zusammen an einem Tisch seinen Befreiungskampf führen wird, genauso wenig wollen die Frauen mit den Männern gemeinsam auf ihre Befreiung warten. [6]

Haupt – und Nebenwiderspruch, eine Theorie des Irrtums

Dass der Kapitalismus der Hauptwiderspruch sei und Sexismus logischerweise als Nebenwiderspruch mit dem Kapitalismus verschwindet, ist weder in libertären Strömungen geschehen, noch eine von AnarchaFeministInnen akzeptierte Argumentationsweise, um den Sexisten nicht genau so heftig zu bekämpfen, wie den Kapitalisten. (Zum leichteren Verständnis für die AnhängerInnen dieser Theorie kann das Wort ‚Sexismus’ mit dem Wort ‚Rassismus’ ersetzt werden.) Wenn die Gesellschaft eine freie ist und alle Menschen, die in ihr leben, faktisch gleich sind, also keine Klassenunterschiede mehr existieren, dann muss immer noch vehement daran gearbeitet werden, dass es auch keine Unterschiede mehr zwischen Frauen und Männern gibt. Denn nur durch eine Änderung der Gesellschaftsform werden die Stereotypen Frau – Mann und das damit verbundene Denken und Handeln nicht einfach verschwinden...

Macht die Augen auf und beobachtet, wie sich Männer gegenüber Frauen bei Diskussionsrunden verhalten oder welche Aufgaben im politischen Alltag eher von Frauen übernommen werden und welche eher von Männern... Und treten wir allen Typen in den Arsch, wenn es ihnen wieder mal gar nicht auffällt, wie sie sich uns gegenüber verhalten! Nur durch das ständige Bewusstmachen des (oft auch unbewussten) Rollenverhaltens kann dieses überwunden und somit wirkliche Gleichheit erreicht werden.

In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen!
Wir wollen nicht länger Opfer sein, wir kämpfen für eine bessere Welt!


Was ist Anarchismus?

Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft – also nicht Chaos oder Terror, wie uns so oft überall fälschlicherweise erzählt wird. Eine anarchistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Hierarchie, die größtmögliche Freiheit für alle Menschen wird dadurch ermöglicht; alle sind frei und gleich, es gibt kein arm und reich mehr, weil es keine Möglichkeit mehr gibt  Reichtum anzuhäufen. Sämtliche Unterdrückungsmechanismen müssen beseitigt werden, um frei leben zu können – frei von Staat, Polizei, Kirche oder Herrschaftsideologien.

Die glücklichen SklavInnen sind die schlimmsten FeindInnen der Freiheit!

Das Gesellschaftssystem, in dem wir momentan leben, basiert auf Ausbeutung, Autorität, Herrschaft und Konkurrenzdenken – die klassische freie Marktwirtschaft, die uns zwar zwischen 100 verschiedenen Zahnpastasorten und noch mehr anderen Quatsch wählen lässt, uns aber in den Knast bringen kann, wenn wir uns Lebensmittel klauen, um nicht zu verhungern. Dieses Zusammenspiel zwischen Staat (also Gesetz, Exekutive...) und Wirtschaft funktioniert nur dann, wenn auch alle daran glauben, dass dieses System das beste ist, was uns passieren konnte/ kann. Dafür sorgen Massenmedien, Kirche oder andere Ablenkungsmethoden á la ‚Brot und Spiele’ – wir sollen eben nicht soviel darüber nachdenken, warum die einen immer reicher und die anderen immer ärmer werden. In einer anarchistischen Gesellschaft gibt es keine Unterdrückung mehr, kein oben und unten, denn eine freie Gesellschaft ist aufgebaut auf gegenseitiger Hilfe und Solidarität, statt Egoismus, Konkurrenzdenken und Profitgier. Kein Mensch bestimmt über einen anderen, alle entscheiden über alle ihre Bedürfnisse und setzen diese gemeinsam um.

Ein Leben ohne Chef und Staat – warum wollen das dann nicht mehr?

Offensichtlich liegt den Herrschenden sehr viel daran, die Idee des Anarchismus schlecht zu machen, als politische Bewegung zu verleugnen und totzuschweigen (nicht nur den Herrschenden, auch viele Linke, allen voran die TrotzkistInnen sehen in AnarchistInnen ‚kleinbürgerliche TräumerInnen’ – aber das ist eine andere Geschichte). Das aber der Traum einer libertären Gesellschaft wahr werden kann lehrt uns die Geschichte: Millionen von ArbeiterInnen schufen in Spanien eine anarchistische Gesellschaftsform und verteidigten die Republik gemeinsam mit anderen linken Organisationen in einem blutigen Krieg erfolglos gegen die europäischen FaschistInnen. Oder in der Ukraine. Oder in Kronstadt. ....[7]

Es liegt an uns – nur wir selbst können unser Leben verändern!

Was ist AnarchaFeminismus?

Der Begriff selbst, eine Wortschöpfung von amerikanischen Feministinnen, stammt aus den 70er Jahren und bedeutet Radikalfeminismus, gemischt mit libertäre Ideen und  anarchistischer Theorie und Praxis. Der Begriff begann sich bald auch in Europa zu etablieren und viele Anarchisten sahen dadurch eine Möglichkeit, Frauen für den Anarchismus zu begeistern.

Während für viele männliche Genossen das vorrangige Ziel von Frauenpolitik stets die Rekrutierung von Frauen für die gemeinsame Sache war, ging es den Frauen in der anarchistischen Bewegung um ihre ganz konkrete Emanzipation. Das bedeutete sowohl die Thematisierung und Veränderung der weiblichen Lebensbedingungen, wie auch die Verankerung ihrer Forderungen in der Bewegung. Allzu oft wurden und werden feministische Forderungen nicht als solche wahrgenommen, sondern zum Teil des ‚großen Kampfes’ hinzugezählt, für die mensch als AnarchistIn sowieso einstehen würde. Was immer wieder dazu führt, dass die Emanzipation der Frauen als nicht so wichtig betrachtet und die sexistische (oft strukturelle) Unterdrückung in anarchistischen (antiautoritären) Gruppen totgeschwiegen wird – á la ‚das gibt’s doch bei uns nicht, wir sind doch AnarchistInnen’. Stets beton(t)en die Radikalfeministinnen ihre Distanz zum bürgerlichen Feminismus, der sich auf die Einforderung gleicher Rechte beschränkte - wie im Falle des Frauenwahlrechts oder der Lohnarbeit von Frauen - und dabei die übergeordneten HERRschaftsstrukturen der Gesellschaft unangetastet ließ. Die bürgerlichen Feministinnen kämpften gegen die Abhängigkeit von ihren Männern und tauschten ihr ‚Recht auf Arbeit’ lediglich gegen die Abhängigkeit von Vater Staat ein – was dazu führte, dass die proletarischen Frauen, die sowieso arbeiten mussten, um nicht zu verhungern, ihre Interessen in eigenen Organisationen durchzusetzen versuchten. So kämpfte die proletarische Frauenbewegung an zwei Fronten -  gegen die Unterdrückung durch den Kapitalismus und das Patriarchat, während die bürgerliche Frauenbewegung sich auf letzteres konzentrierte.

Anarchistinnen / Feministinnen werden oft vergessen...

... aber das liegt nicht daran, dass es keine gegeben hat oder keine was zu sagen hatte. Vielmehr haben wir es mit dem gleichen Problem zu tun wie mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung: die, die Geschichte machen, sie also für die Ewigkeit zu Papier bringen, haben kein Interesse daran, dass ‚unsere’ Geschichte aufgezeichnet wird. Die Vergangenheit war schon immer eine Aneinanderreihung von Revolutionen und Kämpfen um soziale Gerechtigkeit bzw. gegen Armut, Religion oder Kultur dienten und dienen oft nur als Vorwand. Aber in nur wenigen Geschichtsbüchern wird uns die Vergangenheit so erzählt – vielmehr ist unsere Geschichte die der Könige und Kaiser, kaum ein Wort über die verhungernde Bevölkerung in all den Jahrhunderten. Kein Wunder – wer sollte es auch aufschreiben, lesen und schreiben blieb bis ins 18.Jahrhundert ein Privileg des Adels, Klerus und des aufkommenden BürgerInnentums; und dass diese sich nicht für das ‚gemeine Volk’ interessierten braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden.

Mit der Industrialisierung und der daraus folgenden Entstehung und Massenverarmung der ‚vierten Klasse’, des Proletariats, begannen einige, die Geschichte zu hinterfragen – Karl Marx und Friedrich Engels entwickelten ihre Theorie des historischen Materialismus: nach ihren Überlegungen ist Geschichte die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und der Kampf der sozialen Schichten gegeneinander – ‚Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen’.

Auch die AnarchistInnen wurden sich bewusst, dass in all den Geschichtsbüchern kein Platz für sie sein werde – der spanische BürgerInnenkrieg ist z.b., wenn überhaupt, eine Fußnote in sämtlichen Schulbüchern. So begannen sie ihre eigene Geschichte zu schreiben, doch wo sind in dieser die Frauen? Und wie in der bürgerlichen Geschichtsschreibung kaum eine Frau vorkommt, so erging es den Frauen auch in der anarchistischen Geschichte – nicht, dass es keine gegeben hätte, keineswegs, die Macher, also die Schreiber der Geschichte waren lediglich Männer, die es nicht der Mühe wert fanden und finden, Anarchistinnen zu erwähnen.

Dabei gibt es neben der wahrscheinlich bekanntesten Anarchistin Emma Goldman noch viele andere Frauen, die ihre feministischen Positionen und Forderungen in von Männern dominierten Organisationen entwickelten und stolz vertraten, egal, wie hart und entmutigend der Kampf gegen Kapitalismus und Patriarchat war bzw. ist. Luise Michel (Frankreich), Wera Figner (Russland), Voltairine de Cleyre (USA), Ito Noe (Japan), Natascha Notkin (Russland) oder Milly Witkop-Rocker (Deutschland) sind nur wenige Namen in der Masse der vielen Anarchistinnen, die die Geschichte nicht nennt.

Jede einzelne Lebensgeschichte ist für sich einzigartig und birgt eine Fülle von Erfahrungen im Kampf um soziale Gerechtigkeit und eine anarchistische Gesellschaft – sie alle in dieses Heftchen zu zwängen, würde keine Broschüre mehr ergeben, sondern ein hunderte Seiten dickes Buch... Stellvertretend für die vielen Anarchafeministinnen liegt uns besonders die Biografie von Emma Goldman und Luise Michel am Herzen – zwei Frauen, die der Anarchismus und der ständige Kampf um Anerkennung und Akzeptanz ihrer Meinungen ein Leben lang begleitet haben.

Emma Goldman – If I can’t dance, it’s not my revolution!

So oder ähnlich lautet das wohl berühmteste Goldman-Zitat, das sie anlässlich einer Tanzveranstaltung, die sie mit einigen GenossInnen besucht hatte, zu einem jungen Genossen sagte, der sie darauf hinweisen wollte, dass es sich für einen ‚Agitator der anarchistischen Bewegung’ nicht gehörte zu tanzen; erst recht nicht so ausgelassen und wild wie Emma das zu tun pflegte. Sie konnte nicht glauben, dass eine Sache, die für ein schönes Ideal stand, für Anarchie, Zufriedenheit und Freiheit von Konventionen und Vorurteilen, die Verleugnung des Lebens und der Freude fordern könnte – ‚die Sache durfte nicht erwarten, dass ich zur Nonne und die ganze Bewegung zu einem Kloster würde.’ [8]

Emma Goldman war sicher eine der dickköpfigsten, eigenwilligsten, schillernsten und auch bekanntesten Persönlichkeiten der anarchistischen Bewegung, nahm sie doch kein Blatt vor dem Mund, um andere ihre Meinung zu sagen oder ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen [9]. Geboren wurde sie am 27. Juni 1869 in der russischen Stadt Kovno in einem konservativ-jüdischen Elternhaus; besonders unter dem autoritären, brutalen Vater litt Emma sehr. Vom siebten bis zum dreizehnten Lebensjahr lebte sie bei ihrer Großmutter im deutschen Königsberg, wo sie die Schule besuchen konnte und auch aufs Gymnasium gehen wollte, was daran scheiterte, dass sich ihr Religionslehrer weigerte ein positives Zeugnis über ihren ‚guten Charakter’ auszustellen.[10] So zog sie mit ihren Eltern nach Petersburg, wo sie über ihre Schwester Kontakte zu revolutionären StudentInnen knüpfte und nihilistische Literatur zu schätzen lernte. Außerdem sah sie, dass viele russische Frauen politisch tätig waren und sich an revolutionären Aktionen beteiligten. 1886 brach sie als Sechszehnjährige endgültig aus dem konservativen Milieu des Elternhauses aus, folgte ihrer Schwester Helene in die USA und entkam somit auch den Heiratsplänen des strengen Vaters. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich dort, wie schon in Russland, zunächst als einfache Arbeiterin in der Textilindustrie von New Haven und Rochester. Nur dass ihr die Ausbeutung und Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse in einem ‚entwickelten’ kapitalistischen Land im Vergleich mit dem zaristischen Russland noch um einiges grausamer erschien. Zudem kam eine sexuelle Abhängigkeit der ArbeiterInnen von ihren Vorgesetzten, woraus Goldman später ihre Theorien über die sexuelle Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder u.a. die Gründe für Prostitution ableitete.

1886 erreichten die ArbeiterInnenkämpfe der 80er Jahre, die auch die junge Emma zunehmend bewegten, in den Vereinigten Staaten ihren Höhepunkt: bei Streiks für die Einrichtung des 8-Stunden-Tages kam es am Haymarket zu einer Großdemonstration der Chicagoer ArbeiterInnen der Mc Cormick Harvester Company, bei der ein Unbekannter durch eine Bombe mehrere Polizisten tötete bzw. schwer verletzte. Die Polizei schoss in die Menge und es kam zu einem blutigen Zusammenstoß, der zahlreiche Opfer forderte. Eine allgemeine Hysterie unter der Bevölkerung war die Folge des Bombenanschlages. Viele anarchistische Arbeiter wurden verhaftet und fünf von ihnen ohne Beweise der Schuld an der Explosion im November 1887 hingerichtet. („Der Zwischenfall von Chicago war der Beginn des populären amerikanischen Vorurteils gegen jede Art von Anarchismus.“ George Woodcock)

Die sogenannte ‚Haymarket-Affaire’, die aus Emma Goldman eine Anarchistin geformt hatte, stellt nicht nur einen äußerst wichtigen Einschnitt in ihrem Leben dar, sondern prägte von nun an die Vorurteile gegenüber AnarchistInnen als bombenwerfende TerroristInnen auf der ganzen Welt.[11]

In New York - wo sie seit 1889 lebte - lernte sie bald ihren russischen Landsmann Alexander Berkman, mit dem sie ihr ganzes Leben lang eine tiefe Freundschaft und Beziehung verband, und  Johann Most, den aus Deutschland geflohenen Herausgeber der ‚Freiheit’ kennen. Most wurde ihr Idol, ihr Gott, ‚ich betete ihn an.’[12]Anfangs verbrachten sie viel Zeit miteinander, Most war von ihrem Redetalent begeistert, verliebte sich in sie und schickte sie mit seinen Thesen auf Vortragsreise durch die Staaten. Als sie jedoch begann, diese zu hinterfragen, sich von ihm zu lösen und eigene Gedanken zu entwickeln, wurde ihm bewusst, dass aus seinem Traum, Emma zuhause am Herd und die Mutter seiner Kinder, nichts werden würde. (...)[13]

Enttäuscht darüber, dass auch ‚große Anarchisten’ bloß Männer waren und ihren Traum von Freiheit und Gleichheit längst nicht für alle vorgesehen hatten, beschloss sie ihr Leben ganz dem Ideal des Anarchismus und der Emanzipation der Frau zu widmen; durch viele Treffen und Versammlungen mit GenossInnen hatte sie Wissen und Erfahrungen gesammelt, die sie bei Vortragsreisen und öffentliche Auftritten mit ihrem bemerkenswertem Redetalent entweder auf Deutsch[14] oder auf Jiddisch einer großen Menge näherbrachte.

Als im Mai 1892 die Arbeiter der Carnegie Steel Company in Homestead (Pittsburgh) für höhere Löhne streikten, der Vorsitzende Clay Frick aber alle Verhandlungen mit der Gewerkschaft der Eisen- und Stahlarbeiter ablehnte und die Streikenden fristlos entlassen lies, wollte Alexander Berkman ein Zeichen setzen: er unterrichtete Emma von dem Plan des Attentats auf Frick und gemeinsam überlegten sie fieberhaft, wie sie das Geld für die nötigen Materialen auftreiben könnten. Emma erinnerte sich an Dostojewskis ‚Schuld und Sühne’ und beschloss, ihren Körper zu verkaufen, um Geld für ihre riskantes Vorhaben zu verdienen. Ihr ‚Debüt’ am Straßenstrich konnte sie allerdings nicht ‚erfolgreich’ umsetzen und so suchte sie nach anderen Möglichkeiten um an Geld zu gelangen.[15] Schließlich schoss Berkman auf Frick, verletzte diesen schwer und wurde dafür zu 22 Jahren Haft verurteilt. Die Presse begann wieder mit ihrer Hetze gegen AnarchistInnen, Emma verzweifelte fast am Verlust Berkmans und versuchte diesen mit mehr und mehr Arbeit zu verdrängen.

Bei einer Rede am Union Square in New York anlässlich einer Demonstration der Arbeitslosen wurde sie wegen ‚Anstiftung zum Aufruhr’ zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Worte ‚Nun, demonstriert vor den Palästen der Reichen; fordert Arbeit. Wenn sie euch keine Arbeit geben, fordert Brot. Wenn sie euch das nicht geben wollen, nehmt es euch. Das ist euer heiliges Recht!’[16] waren im Land der ersten geschriebenen Verfassung wohl zu viel für die Obrigkeit. Emma arbeitete im Gefängnis Blackwell’s Island als Krankenschwester und kam bald schon zum Schluss, dass der Knastaufenthalt ihre Theorie, Armut erzeuge Kriminalität, bestätigen würde.

Nach ihrer Entlassung reiste sie 1895 nach Europa, um sich in Wien im Allgemeinen Krankenhaus zur diplomierten Hebamme und Krankenschwester ausbilden zu lassen. Vor dem Antritt ihrer Ausbildung fuhr sie quer durch Schottland und England, wo sie Vorträge hielt, anarchistische ‚Stars’ wie Kropotkin, Malatesta[17] oder Luise Michel[18] kennen lernte. Besonders aber die bittere Armut in den Slums der englischen Industriestädte erschreckte sie sehr und steigerte ihre Entschlossenheit für die Sache des Anarchismus zu kämpfen.

Zurück in New York ging sie ihrer Arbeit als Hebamme und Krankenschwester nach und stieß dabei immer wieder in den Elendsvierteln auf Frauen, die Kinder zur Welt bringen mussten, die sie gar nicht wollten und auch nicht ernähren konnten bzw. schaurige Methoden anwandten, die oft den Tod der Frau bedeuteten, um die Babys loszuwerden. Goldman selbst konnte keine Kinder bekommen, da sie sich in jungen Jahren dazu entschloss, eine notwendige Operation nicht durchführen zu lassen, und so anstelle eines eigenen Kindes ‚alle’ Kinder zu lieben: ‚... nicht Frieden, sondern Kampf würde mein Schicksal sein. In einem solchen Leben war kein Platz für ein Kind’[19]. Damals schon prophezeite ihr ein Arzt, dass sie, wenn sie sich gegen die Operation entscheiden würde, immer große Menstruationsschmerzen haben werde, worunter sie Zeit ihres Lebens litt.[20]

Von da an war ein wichtiger Punkt ihrer Theorien, dass Frauen selbst entscheiden müssten, wann und ob sie Kinder in die Welt setzen wollen -  die Möglichkeit zur Empfängnisverhütung muss für alle Frauen gegeben sein; mit dieser radikalen Forderung war Goldman den Menschen ihrer Zeit weit voraus und stieß oft auf enormen Widerspruch speziell unter den männlichen Genossen.

Als der amerikanische Präsident McKinley bei einem Attentat eines selbsternannten Anarchisten erschossen wurde, kam es wiedereinmal zu einer massiven Verfolgung der anarchistischen Bewegung: der ‚roten Emma’ blieb nichts anderes übrig, als von ihren Vortragsreisen eine Pause einzulegen und unter einem Pseudonym als Krankenschwester weiter zu arbeiten. Die amerikanische Regierung hatte, in Überlegungen, wie die anarchistischen ‚Untriebe’ zu stoppen wären, das ‚Federal Antianarchist Law’ erlassen, das US-Behörden erlaubte, bekannten AnarchistInnen die Einsreise zu verweigern bzw. bereits eingereisten AnarchistInnen des Landes zu verweisen.[21]

Die Idee eines eigenen Sprachrohrs für ihre libertären Theorien hatte Goldman schon länger. Als ihr langjähriger Freund Alexander Berkman nach vierzehn Jahren Knast 1906 endlich entlassen wurde, gründeten sie die Zeitschrift ‚Mother Earth’. Sie und Berkman wurden die beiden stärksten motorischen Kräfte des amerikanischen Anarchismus, der - seit Ende der 80er Jahre durch Desillusionierung und staatliche Verfolgung erheblich geschwächt - jetzt beinahe ausschließlich eine Sache Osteuropäischer und italienischer EinwandererInnen, vor allem der NeueinwandererInnen in der untersten Schicht der ArbeiterInnenschaft, war. Sie arbeiteten mit den anarchosyndikalistischen Organisationen in der USA zusammen, ohne sich vorbehaltlos mit ihnen zu identifizieren. Emma Goldman fürchtete, eine bürokratisierte syndikalistische Massenbewegung werde die individuelle revolutionäre Initiative lähmen und ganz allgemein freiheitsfeindlich wirken.

In den folgenden Jahren ging Emma immer wieder auf Vortragsreisen und verdiente so das nötige Geld für die Herausgabe von ‚Mother Earth’; auf der Basis ihrer Vorträge veröffentlicht sie 1911 eine Zusammenfassung ihrer Aufsätze: Anarchism and other Essays[22]. Im April 1912 hatten GenossInnen in San Diego, Kalifornien, eine Veranstaltung organisiert, zu der Goldman mit ihrem Lebensgefährten und großen Liebe Ben Reitmann[23] reiste, obwohl ihnen davon abgeraten wurde, da in San Diego kriegsähnliche Zustände herrschten. Eine patriotische Bürgerwehr, die Vigilantes, hatte sich selbst dazu auserkoren, die Stadt von AnarchistInnen und anderen ‚Abschaum der Menschheit’ freizuhalten; in diesem Kampf verloren viele Mitglieder der I.W.W.[24] ihr Leben. Sie wurden dazu gezwungen die amerikanische Fahne zu küssen, während auf sie eingeprügelt wurde, Büros der I.W.W. wurden überfallen und oft kam es auch zu Schusswechseln. Emma und Ben ließen sich allerdings von ihrem Vorhaben nicht abbringen und die Vigilantes nutzten die ‚Gelegenheit’, um Reitman zu entführen, ihn zu demütigen, die Buchstaben I.W.W. auf sein Hinterteil einzubrennen, zu schlagen und am Ende noch zu teeren und in Ermangelung von Federn seinen Körper mit Salbeigestrüpp zu striegeln.[25] Reitman überlebte schwer verletzt, doch die Verunsicherung und Angst ließen Emma nicht mehr in Ruhe.

Emma Goldmann sprach sich oft für die ‚freie Liebe’ aus, was bedeutete, dass nur auf der Basis der Freiwilligkeit eine Liebesbeziehung glücklich und möglich wäre. Die Ehe mache aus Frauen lebenslang Abhängige und sexuelle Objekte; wenn aber Frauen und Männer frei gewählt und ohne Zwang zusammenleben wollten, dann müssten erst einmal die verstaubten gesellschaftlichen Moralvorstellungen abgelegt werden. Durch ihre Tätigkeit als Hebarme, Krankenschwester und der Teilnahme an einer Pariser Konferenz, bei der Kondome und andere Verhütungsmittel diskutiert wurden, war sie sehr gut mit Empfängnisverhütungsmitteln vertraut.

Doch auch ‚unnatürliche’ Themen wie Homosexualität lagen Emma am Herzen. Ihre Genossen wollten sie teilweise sogar zensurieren, da ‚der Anarchismus schon genug Missverständnissen ausgesetzt wäre’ und ‚es nicht ratsam wäre, die Missverständnisse noch zu vermehren, indem man sexuelle Perversionen aufgriff’. Sie ignorierte sie selbstsicher und entschlossen, um für diese Dinge, die ihr so wichtig waren, wie die Gleichwertigkeit aller Formen von Liebe, die Geburtenkontrolle oder der Kampf gegen die moralischen Vorurteile, zu kämpfen.[26] 1916 wurde sie verhaftet, weil sie ein Gesetz verletzte, laut dem die Verbreitung von Informationen über Verhütungsmittel verboten war.

Sie ging dafür ebenso ins Gefängnis wie für ihren aktiven Antimilitarismus. Nach Ausbruch des 1.Weltkrieges gründete sie mit Berkman die ‚No Conscription League’, die 1917 verboten wurde und Wehrdienstverweiger unterstützte. Mother Earth wurde der Postvertrieb verboten und musste schlussendlich 1917 ganz eingestellt werden. Nach zwei Jahren Gefängnis wurde sie mit Alexander Berkman und anderen AnarchistInnen aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen und nach Russland deportiert.

Mit viel Enthusiasmus kehrte sie in ihre alte Heimat zurück und hoffte dort die revolutionären Zustände vorzufinden, von denen sie immer geträumt hatte. Doch die BolschewistInnen erwiesen sich als genauso unterdrückerisch und grausam: viele russische AnarchistInnen waren inhaftiert, die anarchistische Machno-Bewegung in der Ukraine war gewaltsam niedergeschlagen worden und ein neues Reich, aufgebaut auf Blut, Unterdrückung und Bürokratie hatte das alte zaristische abgelöst. Lenin hieß der neue ‚Zar’ und nichts hatte im Sowjet-Staat etwas mit einer befreiten Gesellschaft gemeinsam. Emma Goldman kam zu dem Schluss, dass das ‚bürokratische Monstrum’ des bolschewistischen Staates die russische Revolution, ‚das größte Ereignis von Jahrhunderten’, erstickt hatte[27]. Vergeblich protestierten sie und Berkman bei Lenin gegen die Verfolgung der AnarchistInnen, vergeblich bemühten sich beide, die Regierung von einem gewaltsamen Vorgehen gegen die aufständischen ArbeiterInnen und Matrosen von Kronstadt abzuhalten. Auch der Aufstand in Kronstadt wurde unter viel Blutvergießen niedergeschlagen und enttäuscht flohen beide aus dem ‚neuen’ Russland.

Schließlich lebte Goldman zurückgezogen in Frankreich und schrieb ihre Autobiographie ‚Gelebtes Leben’. Nach dem Ausbruch der spanischen Revolution keimte in Emma noch kurz die Hoffnung eine freie Gesellschaft zu erleben. Sie reiste extra nach Spanien, um dort die AnarchistInnen in ihrem Kampf gegen die europäischen FaschistInnen zu unterstützen, doch auch diese Hoffnung endete in einer schmerzlichen Niederlage der spanischen AnarchistInnen.

Emma Goldman starb während einer Vortragsreise am 14. Mai 1940 in Toronto, Kanada.  Ihre Täume um eine bessere, gerechtere Welt aber leben weiter und ihre Theorien und Ideen haben viele Menschen für die Sache des Anarchismus begeistert und begeistern sie noch heute.

We will never give up fighting!


Im folgenden Text aus dem Jahre 1911 fordert Emma Goldman die Frauen polemisch dazu auf, sich von der ‚Emanzipation zu emanzipieren’. Er stammt aus: Emma Goldman, Frauen in der Revolution, Bd. 2, Berlin 1977, S. 9-18; amerikanische Erstveröffentlichung in: Emma Goldman, Anarchism and other Essays, New York 1911 und steht stellvertretend für viele namenlose Anarchistinnen, deren Meinungen in einer zwar anarchistischen, aber doch männlich geprägten  Geschichtsschreibung keinen Platz gefunden haben.

Emma Goldman - Das Tragische an der Emanzipation der Frau

Ich beginne mit einem Eingeständnis: Ungeachtet aller politischen und Wirtschaftstheorien, die sich mit den Hauptunterscheidungsmerkmalen verschiedener Gruppen von Menschen befassen, ungeachtet aller unnatürlichen Abgrenzungen zwischen den Rechten der Frau und den Rechten des Mannes, bin ich der Überzeugung , dass es einen Punkt gibt, an dem diese Unterscheidungen nicht länger in Widerspruch zueinander stehen und zu einem großen Ganzen zusammenwachsen.

Was nicht bedeutet, dass ich einen Friedensvertrag unterbreiten will. Die allgemeinen sozialen Gegensätze, die heute überall zu Tage treten und die herbeigeführt sind durch gegensätzliche und widersprüchliche Interessen, werden in dem Moment ihre Absurdität offenbaren, da die Neuordnung unseres sozialen Lebens, das sich gründet auf dem Grundsatz wirtschaftlicher Gerechtigkeit, Realität geworden ist.

Frieden oder Harmonie zwischen den Geschlechtern und den Menschen hängt nicht allein von der formalen Gleichstellung der Menschen ab und setzt auch nicht das Auslöschen individueller Merkmale und Eigenarten voraus. Das Problem, das sich uns heute stellt und dessen Lösung dringend ansteht, liegt darin, seine eigenen Bedürfnisse zu leben und gleichzeitig die Bedürfnisse der anderen nicht außer acht zu lassen, auf andere Menschen eingehen zu können und doch die eigene Persönlichkeit zu bewahren. Für mich ist das die Basis, auf der sich die Massen und der Einzelne, der wahre Demokrat und der wahre Mensch, Mann und Frau ohne Feindschaft und Opposition begegnen können. Der Wahlspruch sollte nicht sein: Vergebt einander, sondern eher: Versucht, einander zu verstehen. Der oft zitierte Satz der Madame de Stael: "Alles zu verstehen, bedeutet alles zu vergeben", hat mich nie sonderlich angesprochen, er hat so etwas Konfessionelles; jemandem zu vergeben, beinhaltet ein Stückchen Selbstgerechtigkeit. Jemanden zu verstehen ist ausreichend. Mein Eingeständnis ist zum Teil Ausdruck meiner grundsätzlichen Einschätzung der Frauenemanzipation und deren Auswirkung auf die Geschlechter.

Die Emanzipation sollte es der Frau ermöglichen, im wahrsten Sinne menschlich zu sein. All jene Kräfte in ihr, die nach Anerkennung und Aktivität verlangen, sollten voll zum Ausdruck kommen; alle unnatürlichen Schranken abgebaut und der Weg zu größerer Freiheit geräumt werden von allen Spuren Jahrhunderte langer Unterwerfung und Sklaverei.

Das war das ursprüngliche Ziel der Frauenbewegung. Aber das, was seither erreicht wurde, hat die Frau isoliert und sie der Quelle der Freude beraubt, die für sie so wichtig ist. Die nur rein formelle Emanzipation hat aus der Frau von heute ein unnatürliches Wesen gemacht, das an die Produkte französischer Baumzucht erinnert mit ihren arabesken Bäumen und Sträuchern, Pyramiden, Rädern und Kränzen; dabei kommt alles mögliche zum Ausdruck, nur nicht ihre inneren Fähigkeiten und Eigenschaften. Von solchen unnatürlichen weiblichen Wesen gibt es eine ganze Reihe, besonders in den sogenannten intellektuellen Kreisen.

Freiheit und Gleichheit für die Frau! Was für Hoffnungen und Erwartungen wurden durch diese Worte geweckt, als sie das erste Mal ausgesprochen wurden von einigen der größten und mutigsten Geister jener Zeit. Eine neue, leuchtende und strahlende Sonne schien aufzugehen über einer neuen Welt; in dieser Welt hatte die Frau die Freiheit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen - ein Ziel, das große Begeisterung, den Mut, die Ausdauer und das unermüdliche Bemühen der vielen Männer und Frauen sicherlich wert war, die alles einsetzten gegen eine Welt des Vorurteils und des Nicht-Verstehens. Auch meine Hoffnungen richten sich auf dieses Ziel, jedoch glaube ich, dass die Emanzipation der Frau, wie sie heute interpretiert und auch gelebt wird, nicht dorthin führen kann. Es ist heute für die Frau notwendig geworden, sich von der Emanzipation zu emanzipieren, will sie wirklich frei sein. Das mag paradox klingen, ist jedoch nur zu wahr.

Was hat sie durch die Emanzipation erreicht? In einigen Staaten gleiches Wahlrecht. Hat das etwa unser politisches Leben vom Schmutz befreit, wie einige wohlmeinende Befürworter voraussagten? Ganz sicher nicht. Tatsächlich ist es an der Zeit, dass Leute mit klarem und vernünftigem Beurteilungsvermögen aufhören, über politische Korruption in schulmeisterlichem Ton zu reden. Korruption in der Politik hat nichts zu tun mit dem Moralverständnis oder der lockeren Moral einiger Politiker. Sie beruht einzig auf materialistischen Umständen. Politik ist das Spiegelbild der Wirtschaft und Industrie mit ihren Wahlsprüchen: ‚Nehmen ist seliger als geben’, ‚Kaufe billig und verkaufe teuer’, ‚Eine schmutzige Hand wäscht die andere’. Es besteht keine Hoffnung, dass die Frau - trotz Stimmrecht - je die Politik vom Schmutz befreien wird.

Die Emanzipation hat der Frau wirtschaftliche Gleichberechtigung gebracht; d.h. sie kann sich ihren eigenen Beruf und ihr eigenes Handwerk wählen; da sie jedoch nach wie vor physisch nicht in jedem Fall in der Lage ist, es mit dem Mann aufzunehmen, muss sie oft alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte aufwenden, ihre Vitalität verbrauchen und ihre Nerven aufs Äußerste anspannen, um den Marktwert zu erreichen. Und nur ein Bruchteil ist erfolgreich, denn nachweislich wird den Lehrerinnen, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Architektinnen und weiblichen Ingenieuren weder das gleiche Vertrauen wie ihren männlichen Kollegen entgegengebracht, noch werden sie gleich bezahlt. Und die, die tatsächlich die so verlockende Gleichstellung erreichen, erreichen sie größtenteils auf Kosten ihres physischen und psychischen Wohlergehens. Wie viel Unabhängigkeit ist erreicht, wenn die Masse der arbeitenden Frauen und Mädchen die Borniertheit und den Mangel an Freiheit zuhause eintauscht gegen die Borniertheit und den Mangel an Freiheit in der Fabrik, den Ausbeutungsbetrieben, im Kaufhaus oder Büro? Dazu kommt die Belastung vieler Frauen, die nach einem harten Arbeitstag sich auch noch um Heim und Herd kümmern müssen - kalt, trostlos, unaufgeräumt, unfreundlich! Was für eine herrliche Unabhängigkeit! Kein Wunder, dass so viele junge Mädchen, die ihre ‚Unabhängigkeit’ hinter dem Ladentisch, der Näh- oder Schreibmaschine gründlich satt haben, jede Möglichkeit zu heiraten sofort wahrnehmen. Sie wollen genauso gern heiraten wie die Mädchen der Mittelklasse, die endlich dem elterlichen Gewahrsam entfliehen wollen. Eine sogenannte Unabhängigkeit, die einzig dazu führt, ein minimales Auskommen zu haben, ist nicht so verlockend und ideal, dass man erwarten könnte, eine Frau würde alles dafür hergeben. Unsere so gepriesene Unabhängigkeit ist letztendlich nur ein Prozess der ständigen Vergewaltigung der natürlichen Eigenschaften der Frau, ihres Liebesempfindens und Muttergefühls. Dennoch ist die Lage der Arbeiterinnen um vieles natürlicher und menschlicher als die ihrer scheinbar viel glücklicheren Schwestern in einem Beruf, der einen höheren Bildungsgrad voraussetzt - Lehrerinnen, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, weibliche Ingenieure etc., die nach außen würdig und korrekt erscheinen müssen, während ihr Gefühlsleben erkaltet und erstickt.

Die Borniertheit der heutigen Auslegung der Unabhängigkeit und Emanzipation der Frau; die Angst vor der Liebe zu einem Mann, der ihr gesellschaftlich unterlegen ist; die Furcht davor, dass ihre Liebe sie ihrer Freiheit und Unabhängigkeit beraubt; der Horror davor, dass sie durch Liebe oder Muttersein daran gehindert wird, ihren Beruf richtig auszuüben - all dies trägt dazu bei, dass die emanzipierte Frau von heute zu einer zwangsmäßigen Jungfrau wird, an der das Leben mit seinen großen Höhen und Tiefen vorübergeht, ohne ihr Innerstes zu berühren oder gar zu packen. Emanzipation, wie sie von der Mehrheit ihrer Anhängerinnen und Vertreterinnen verstanden wird, ist viel zu eng gefasst, als dass sie Raum lassen würde für grenzenlose Liebe und Verzückung, die in der Empfindungswelt der wahren Frau, Geliebten und Mutter so tief verankert sind.

Die Tragik der sich selbst versorgenden oder wirtschaftlich unabhängigen Frau liegt nicht in zu viel, sondern in zu wenig Erfahrung. zwar ist sie ihren Schwestern vergangener Generationen überlegen in Bezug auf ihr Wissen von der Welt und den Menschen; aber gerade deshalb spürt sie umso deutlicher den Mangel an Wesentlichem im Leben, das allein den Geist des Menschen bereichern kann und ohne das die Mehrzahl der Frauen zu Automaten ihres Berufes geworden sind.

Dass es dazu kommen würde, wurde schon lange vorausgesagt von denen, die erkannt hatten, dass es auf dem Gebiet der Ethik viele Relikte gab aus der Zeit, da der Mann uneingeschränkt regierte; Überreste, die noch immer für brauchbar gehalten werden. Und, was wichtiger ist, viele der emanzipierten Frauen können ohne sie gar nicht zurechtkommen. In jeder Bewegung, die abzielt auf die Zerstörung existierender Institutionen und deren Ersetzung durch fortschrittlichere und perfektere Einrichtungen gibt es Anhänger, die theoretisch für die radikalsten Ideen eintreten, im täglichen Leben allerdings genauso spießbürgerlich sind wie andere, Ehrbarkeit vortäuschen und von ihren Gegnern nicht schlecht angesehen werden möchten. Es gibt z.B. Sozialisten und auch Anarchisten, die laut proklamieren, Besitz sei Diebstahl, gleichzeitig jedoch empört darüber sind, dass ihnen jemand soviel wie vielleicht ein halbes Dutzend Stecknadeln schuldet.

Die gleichen Spießbürger gibt es auch in der Frauenbewegung. Sensationsreporter und schlechte Literaten haben die emanzipierte Frau derart dargestellt, dass es dem normalen Sterblichen und seinen Mitbürgern die Haare zu Berge stehen lässt. Jede Frauenrechtlerin wurde wie George Sand dargestellt, als sei sie absolut unmoralisch. Nichts war ihr heilig. Sie zeigte keine Achtung vor der idealen Beziehung zwischen Mann und Frau. Kurz, Emanzipation war ein Synonym für leichtsinniges Leben voll Lust und Sünde, ohne Rücksicht auf Gesellschaft, Religion und Moral. Die Frauenrechtlerinnen zeigten sich über derartige Missinterpretation äußerst empört und - leider fehlte es ihnen an Humor - brachten all ihre Energien auf, um zu beweisen, dass sie absolut nicht so schlecht waren wie dargestellt, sondern ganz im Gegenteil. Natürlich konnte die Frau, solange sie die Sklavin des Mannes gewesen war, nicht gut und rein sein, nun aber, da sie frei und unabhängig war, würde sie beweisen, wie gut sie sein konnte und dass ihr Einfluss eine befreiende Wirkung auf alle gesellschaftlichen Einrichtungen haben würde. Die Frauenrechtsbewegung hat sicherlich viele alte Fesseln gesprengt, gleichzeitig jedoch zum Entstehen neuer beigetragen. Die große, wahre Frauenrechtsbewegung hat nur wenige Anhängerinnen gefunden, die der Freiheit furchtlos ins Gesicht sehen konnten. Ihre bornierte und puritanische Einschätzung der Bewegung verbannte den Mann als Störenfried und zwielichtigen Charakter aus ihrem Gefühlsleben. Um keinen Preis wurde der Mann toleriert, außer vielleicht als Vater eines Kindes, da ein Kind ja schlecht ohne Vater geboren werden konnte. Glücklicherweise werden jedoch auch die strengen Puritaner nie stark genug sein, das angeborene Verlangen nach Mutterschaft abzutöten. Aber die Freiheit der Frau steht in engem Verhältnis zur Freiheit des Mannes, und viele meiner sogenannten emanzipierten Schwestern scheinen zu übersehen, dass ein in Freiheit geborenes Kind Liebe und Zuneigung von allen es umgebenden Menschen braucht, seien sie nun männlich oder weiblich. Leider liegt es an dieser bornierten Einschätzung zwischenmenschlicher Beziehungen, dass das Leben der Männer und Frauen von heute oft recht trostlos erscheint.

Vor ungefähr fünfzehn Jahren erschien ein Werk der großartigen Norwegerin Laura Marholm ‚Die Frau. Eine Charakterstudie’, (Woman, a Character Study). Sie war eine der ersten, die aufmerksam machte auf die Leere und Borniertheit der damaligen Vorstellung von Frauenemanzipation und ihren trostlosen Einfluss auf das Innenleben der Frau. In ihrem Werk erzählt Laura Marholm die Geschichte einiger begabter Frauen von internationalem Ruhm: die hervorragende Eleonora Duse; die großartige Mathematikerin und Schriftstellerin Sonya Kovalevskaia; die Künstlerin und Dichterin Marie Bashkirtzeff, die so jung gestorben ist. In jeder Biographie dieser außergewöhnlichen Frauen zieht sich wie ein roter Faden ihr unbefriedigtes Streben nach einem ausgefüllten, harmonischen und schönen Leben und die Unruhe und Einsamkeit, da es ihr verweigert ist. Aufgrund dieser großartigen psychologischen Schilderungen ergibt sich zwangsläufig die Folgerung, dass, je intelligenter eine Frau ist, es desto schwieriger für sie ist, einen passenden Partner zu finden, der in ihr nicht nur Sexualität, sondern auch den Menschen, den Freund, den Kameraden und ihre Persönlichkeit anerkennt, die nicht auf ein Charaktermerkmal verzichten könnte oder sollte. Der Durchschnittsmann mit seinem Eigendünkel und seinem lächerlichen Gefühl der Überlegenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht ist für die Frau, wie sie in der Charakterstudie von Laura Marholm dargestellt ist, ein unmöglicher Partner. Genauso unmöglich ist für sie der Mann, der nur ihren Geist und ihre Intellektualität sieht, aber nicht die Frau in ihr ansprechen kann.

Intellekt und aufrechter Charakter werden gewöhnlich als die Merkmale einer starken und großen Persönlichkeit angesehen. Für die Frau von heute stellen diese Merkmale ein Hindernis für ihre volle Anerkennung dar. Für über 100 Jahre wurde die traditionelle Ehe, gestützt auf die Bibel, „Bis dass der Tod Euch scheidet“, als eine Einrichtung angesehen, die gleichbedeutend war mit der Herrschaft des Mannes über die Frau, mit ihrer völligen Ausgesetztheit gegenüber seinen Launen und Befehlen und absoluter Abhängigkeit von seinem Namen und seiner Unterstützung. Immer wieder hat es sich gezeigt, dass in der traditionellen Ehe die Frau in ihrer Funktion beschränkt war auf seine Dienerin und Mutter seiner Kinder. Und dennoch gibt es viele emanzipierte Frauen, die eine Ehe mit all ihren Nachteilen der Beschränktheit eines Alleinlebens vorziehen: eingeengt und unerträglich, da moralische und gesellschaftliche Vorurteile sie an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit hindern.

Die Erklärung für ein derartig inkonsequentes Verhalten vieler fortschrittlicher Frauen liegt darin begründet, dass sie die Bedeutung der Emanzipation nie richtig erkannt haben. Sie dachten, dass das einzig Notwendige die Befreiung von äußeren Zwängen sei; der innere Zwang, der auf das Leben und die Entwicklung einen viel schädlicheren Einfluss ausübt - ethische und gesellschaftliche Konventionen - wurden außer acht gelassen, und sie haben das ihrige getan. Sie scheinen in den Köpfen und Herzen der aktivsten Frauenrechtlerinnen genauso verwurzelt zu sein wie schon in den Köpfen und Herzen unserer Großmütter.

Diese inneren Zwänge, haben sie nun die Form von öffentlicher Meinung oder der Frage „Was sagt Mutter dazu“, oder der Bruder, der Vater, die Tante oder irgendein anderer Verwandter; was wird Mrs. Gundy, Mr. Comstock, der Arbeitgeber, die Erziehungsbehörde dazu sagen? Diese ganzen Wichtigtuer, Detektive der Moral, Gefangenenwärter der menschlichen Seele, was sagen sie dazu? Solange die Frau nicht gelernt hat, ihnen die Stirn zu bieten, fest auf ihren eigenen Füßen zu stehen und auf ihre eigene, unbeschränkte Freiheit zu pochen, ihrer inneren Stimme zu lauschen, ob es nun geht um die größte Kostbarkeit im Leben, die Liebe zu einem Mann, oder um ihr großartigstes Privileg, einem Kind das Leben schenken zu können, ist sie nicht wirklich emanzipiert. Wie viele emanzipierte Frauen sind mutig genug zuzugeben, dass in ihnen die Stimme der Liebe ruft, ganz heftig in ihrer Brust klopft und drängt, gehört und befriedigt zu werden.

Der französische Schriftsteller Jean Reibrach versucht in einem seiner Romane, "Neue Schönheit" (New Beauty), die ideale, schöne, emanzipierte Frau darzustellen. Dieses Ideal wird verkörpert durch ein junges Mädchen, eine Ärztin. Sie spricht sehr schlau und weise darüber, wie man Kinder füttert; ist sehr gütig und verteilt an arme Mütter kostenlos Medikamente. Sie spricht mit einem jungen Bekannten über Hygienebedingungen der Zukunft und darüber, dass verschiedene Bazillen und Keime ausgerottet werden sollen durch den Bau von Steinwänden und Fußböden und die Abschaffung von Teppichen und Gardinen. Es versteht sich, dass sie sehr schlicht und praktisch gekleidet ist, meistens trägt sie schwarz. Der junge Mann, der bei ihrer ersten Begegnung tief beeindruckt war von der Weisheit dieser emanzipierten Frau, beginnt allmählich, sie zu verstehen und erkennt eines Tages, dass er sie liebt. Sie sind beide jung, und sie ist gütig und schön, und gleichwohl sie immer sehr streng gekleidet ist, wird der Eindruck gemildert durch einen blütenweißen Kragen und Manschetten. Man würde erwarten, dass er ihr von seiner Liebe spricht, aber er hält so etwas für viel zu romantisch. Vor der reinen Schönheit des Mädchens verstecken sich errötend Poesie und Liebestaumel. Er unterdrückt seine innere Stimme und bleibt korrekt. Auch sie verhält sich ständig korrekt, rational und wohlerzogen. Ich glaube fast, wären die beiden einen Bund eingegangen, hätte der junge Mann es darauf ankommen lassen zu erfrieren. Und ich muss zugeben, dass ich an diesem neuen Schönheitsbild nichts Schönes entdecken kann, denn das Mädchen ist ebenso kalt wie die Steinmauern und Fußböden aus ihren Träumen. Da sind mir romantische Liebeslieder, Don Juan und die Venus, eine nächtliche Entführung bei Mondschein mit Strick und Leiter, verfolgt vom Fluch des Vaters, den Tränen der Mutter und dem Klatsch der Nachbarn wesentlich lieber als Korrektheit und eiserne Anstandsformen. Wenn Liebende es nicht fertig bringen, ohne Einschränkung zu geben und zu nehmen, handelt es sich nicht um Liebe, sondern um einen Geschäftsabschluss, in dem ständig Plus und Minus gegeneinander abgewogen werden.

Die größte Einschränkung erfährt die heutige Emanzipation durch ihre unnatürliche Steifheit und bornierten Anstandsregeln, die in der Seele der Frau eine Leere hervorrufen, die es ihr versagt, vom Quell ihres Lebens zu trinken. Ich habe weiter oben bereits erwähnt, dass zwischen der altmodischen Mutter und Hausfrau, die sich ständig bereithält, um für das Glück ihrer Kinder und das Wohl ihrer Lieben zu sorgen und der wirklich emanzipierten Frau eine tiefere Verwandtschaft besteht als zwischen der letzteren und ihrer angeblich so emanzipierten Schwester. Die Schülerinnen der Emanzipation erklärten mich schlicht und einfach zur Heidin, auf die nur noch der Scheiterhaufen warte. Ihr blinder Eifer ließ sie übersehen, dass mein Vergleich zwischen dem Alten und Neuen einzig darauf abzielte zu beweisen, dass die meisten unserer Großmütter mehr Blut in ihren Adern hatten und sehr viel humorvoller, witziger und sicherlich auch sehr viel natürlicher, herzlicher und unkomplizierter waren als die meisten unserer emanzipierten Geistesarbeiterinnen, die die Universitäten, Studienzimmer und Büros bevölkern. Was nicht bedeutet, dass ich zurückkehren möchte zur Vergangenheit oder die Frau in ihren alten Bereich, die Küche und Kinderpflege, zurückdrängen möchte.

Eine Lösung liegt im Vorwärtsstreben in Richtung auf eine schönere und klarere Zukunft. Unbedingt müssen wir über alte Traditionen und Gewohnheiten hinauswachsen. Die Frauenbewegung hat erst einen winzigen Schritt in diese Richtung getan. Es bleibt zu hoffen, dass sie die Kraft aufbringt, weiterzustreben. Das Stimmrecht oder gleiche Bürgerrechte sind angemessene Forderungen, jedoch beginnt die wahre Emanzipation weder an der Wahlurne noch in den Gerichten. Sie beginnt im Herzen der Frau. Die Geschichte lehrt uns, dass jede unterdrückte Klasse die wahre Befreiung von ihren Beherrschern nur durch eigene Anstrengungen erreicht hat. Es ist notwendig, dass die Frau dieses einsieht, dass sie erkennt, dass ihre Freiheit so weit reichen wird wie ihre Kraft zur Erreichung ihrer Freiheit. Es ist daher umso wichtiger, sich von der Last der Vorurteile, Traditionen und Gewohnheiten zu lösen. Die Forderung nach gleichen Rechten ist gerecht und fair; letztendlich ist jedoch das wichtigste Recht das Recht auf Liebe und darauf, geliebt zu werden. Soll die teilweise Emanzipation tatsächlich zu vollständiger und reiner Emanzipation werden, so muss aufgeräumt werden mit der lächerlichen Vorstellung, geliebt zu werden, Geliebte und Mutter zu sein, sei gleichbedeutend mit Sklave und Untertan zu sein. Es muss aufgeräumt werden mit der absurden Vorstellung des Dualismus der Geschlechter oder dass Mann und Frau Vertreter zweier feindlicher Lager seien.

Kleinlichkeit spaltet, Großzügigkeit verbindet. Lasst uns groß und großzügig sein. Lasst uns über all das Triviale das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren. In der echten Beziehung zwischen Mann und Frau wird es keinen Sieger und keinen Besiegten geben sondern nur eines: immer wieder zu geben, um dadurch bereichert zu werden, tiefer empfinden zu können und gütiger zu werden. Dies allein kann die Leere ausfüllen, kann das Tragische an der Emanzipation der Frau ersetzen durch Glück, grenzenloses Glück.

Luise Michel – Es lebe die Kommune!

Luise Michel wurde am 20. April 1830 in Vroncourt, Ostfrankreich, geboren und wuchs bei den Großeltern auf; sie hatte eine glückliche Kindheit, denn ihre Großeltern, geprägt von der französischen Revolution, erzogen sie mit viel Liebe und Nachsicht. Luise Michel selbst sah die Wurzeln ihrer revolutionären Gesinnung in der freien Erziehung, die sie genossen hatte. Die Liebe zur Natur und Literatur, die ihr schon als Kind sehr wichtig war, begleitete sie ihr ganzes Leben lang. Zwei Kindheitserinnerungen prägten sie besonders: das Elend der Bauern und den Umgang der Menschen mit den Tieren. Um das Leid ein bisschen zu lindern verschenkte sie das Geld ihrer Familie an die arme Bevölkerung der Stadt. Der Besuch der Dorfschule war für Michel keine Bereicherung – sie war schlicht unterfordert und überlegte sogar, ein neues Geschichtsbuch zu verfassen, da ihr das alte als unvollständig erschien.

Nach dem Tod ihrer Großeltern zog sie mit ihrer Mutter in ein anderes Örtchen, Audeloncourt, wo sie eine Ausbildung als Grundschullehrerin absolvierte. Als sie allerdings an einer öffentlichen Schule unterrichten wollte, sollte sie einen Eid auf den Kaiser schwören, was sie verweigerte. So begann sie mit wenigen Mitteln 1852 ihre eigene ‚Freie Schule’ zu eröffnen, in der sie trotz Ärger mit den Aufsichtsbehörden, die Kinder mit fortschrittlichen Methoden unterrichtete. Um dem Misstrauen der Provinz-Bevölkerung zu entkommen ging sie 1856 zusammen mit ihrer Freundin Julie Longchamps nach Paris, wo sie in privaten Freien Mädchenschulen Arbeit fanden; nebenbei erweiterte Michel ihr Wissen in ‚männlichen’ Domänen wie Mathematik, Tier- und Pflanzenkunde, sowie Pädagogik durch Besuche an der Volksuniversität. Inzwischen hatte sie auch begonnen, unter dem männlichen Pseudonym ‚Louis Michel’ Artikel zu publizieren, in der sie ihre libertären Gedanken zu Papier brachte. Außerdem arbeitete sie in der republikanischen Opposition, schloss sich der Gruppe ‚Droit des Femmes’ (Rechte der Frauen) an und leistete politische und soziale Arbeit. Durch viele Besuche in linken Clubs und bei politischen Veranstaltungen lernte sie spätere AktivistInnen der Kommune kennen und wurde Mitglied in der Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation, die gleiche Löhne für Frauen und Männer, Trennung von Kirche und Staat usw. forderten.

Schon während der Belagerung Paris durch die deutschen Truppen im deutsch-französischem Krieg 1870/71 war Luise Michel eine der bekanntesten AktivistInnen; zwar gehörte sie einer Gruppe an, die speziell weibliche Aufgaben wie die Versorgung der Verwundeten oder die Organisation von Volksküchen übrig hatte, doch schrieb sie auch revolutionäre Aufrufe und konfrontierte die anderen Frauen ihrer Gruppe mit sozialistischen Ideen.

Als im März 1870 die Kommune ausgerufen wurde, gehörte sie dem ‚Wachsamkeitskomitee der Frauen des 18.Arrondissement’[28] an und beteiligte sich aktiv mit vielen anderen Frauen im Kampf um eine neue Gesellschaft und für die Kommune. In einem von ihr verfassten Manifest schrieb sie: ‚...wir  – die Frauen von Paris, werden Frankreich und dem Rest der Welt zeigen, dass sie es im Augenblick der höchsten Gefahr verstehen, auf die Barrikaden, auf die Mauern von Paris, wenn die Reaktion die Türen aufbricht, wie ihre Brüder im Blut und ihr Leben für die Verteidigung und den Triumph der Kommune, das heißt des Volkes zu geben! (...) Es lebe die Weltrepublik! Es lebe die Kommune!’[29]

Beim Angriff der Regierungstruppen im Mai 1871 kämpfte Luise mit ihrem Frauenbataillon auf den Barrikaden, bis sie verwundet wurde. Sie konnte fliehen, der Staat hatte aber ihre Mutter als Geisel genommen und zwang sie so zur Rückkehr. Um sie nicht zur Märtyrerin zu machen, entkam sie dem Todesurteil und wurde mit vielen anderen KommunardInnen auf die Insel Nouméa (Neukaledonien, eine Kolonie von Frankreich) deportiert – das Urteil lautete lebenslange Verbannung.

Dort beschäftigte sich Luise Michel ausgiebig mit der heimischen Tier- und Pflanzenwelt, knüpfte Kontakte mit der indigenen Bevölkerung, denen sie auch Lesen und Schreiben beibrachte; später eröffnete sie eine Schule, in der sie unter der Woche die Kinder der Verbannten unterrichtete, während sie am Wochenende weiterhin die Indigenas betreute. Ihre Freundschaft mit der einheimischen Bevölkerung ging so weit, dass sie diese bei einem Aufstand gegen die französische Kolonialmacht unterstützte, im Gegensatz zu einigen GenossInnen, die für das Heimatland die WärterInnen-Rolle spielten.

1880 wurde sie begnadigt und einige Jahre später ging sie nach London und Frankreich zurück, beschäftigte sich weiterhin mit den Ideen des libertären Sozialismus und arbeitete trotz ihrer anarchistischen Überzeugung und der diversen Streitigkeiten mit verschiedenen linken Lagern weiterhin mit MarxistInnen zusammen. Luise Michel trat besonders für die Rechte der Frauen ein, ging auf Vortragsreise mit GenossInnen, organisierte Kampagnen und Kongresse. 1886 wurde sie erneut verhaftet und zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, da sie angeblich bei Plünderungen von Bäckereien führend teilgenommen hatte. Die Zeit im Knast nutzte sie, um ihre Memoiren zu schreiben; nach drei Jahren kam sie vorzeitig frei.

1888 überlebte sie ein Attentat, doch wegen der ständigen Bedrohung durch politische GegnerInnen wanderte sie nach London aus und lebte dort von 1890 bis 1895. Später kehrte sie wieder nach Paris zurück, gab die Zeitung ‚Libertaire’ heraus und ging weiter auf Vortragsreisen.

Am 9.Jänner 1905 starb Luise Michel in Marseille; hunderttausend nahmen an ihrem Begräbnis in Paris teil – als offene, undogmatische Anarchistin hatte sie die verschiedensten Menschen begeistert und mit ihren libertären Ideen angesteckt.

Gekürzt aus Lohschelder, Silke: ‚Anarchafeminsmus’, S. 39ff

Luise Michel - Warum ich Anarchistin wurde

Anarchistin wurde ich während der Deportationsfahrt nach Neukaledonien. Im Laufe der vier Monate sahen wir nichts als Himmel und Wasser, nur manchmal erschien am Horizont das weiße Segel eines Schiffes. Unser Schiff, vom leichten Rhythmus der Wellen gewiegt, so, als ob zwei riesige Arme es greifen, ächzte, wenn es in die tiefen Wellentäler sackte; und der Wind tönte in den Segeln. – Ich hatte Zeit, viel Zeit zum Nachdenken. – Die Kommune. Ich sah unsere Genossen am Werk, und nach und nach kam ich zu der Überzeugung, dass selbst die Redlichsten, könnten sie die Macht ausüben, den Schurken ähnlich würden, die sie einst bekämpften. Ich sah die Unmöglichkeit, dass sich die Freiheit mit einer wie auch immer gearteten Macht vereinbaren lässt. Ich fühlte, wenn die Revolution irgendeine Regierungsform annimmt, ist es um sie geschehen; und wenn Institutionen der Vergangenheit, die schon zu verschwinden schienen, doch bestehen bleiben – dann tragen sie nur ein anderes Etikett.

Für jeden Menschen, der zur Macht gelangt, ist der Staat letztlich Widerspiegelung seiner selbst, er betrachtet ihn wie der Hund den Knochen, den er zernagt, und nur zu seinem eigenen Vorteil verteidigt er ihn. So wie die Macht hart, egoistisch und grausam macht, so erniedrigt Sklaverei, und nur die Anarchie kann es vollbringen, dass der Mensch frei und glücklich lebt. Wissen wir denn, ob das, was uns heute utopisch erscheint, in der nächsten, übernächsten Epoche nicht schon Realität sein kann? Damit das entrechtete Volk nicht länger mit seinem eigenen Blut die trügerischen Schimären – Parteien und Staaten – am Leben erhält, müssen wir für die Verwirklichung der Anarchie kämpfen, und weil ich Zwang und Unterdrückung ablehne, bin ich Anarchistin.

Unser Problem mit den großen anarchistischen Denkern – eine feministische Kritik

Obwohl Anarchisten stets betonten, für alle Menschen die größtmögliche Freiheit zu wollen, eine Gesellschaftsform anzustreben, in der alle gleichwertig ohne Klassenunterschiede zusammenleben können und gemeinsam ihre Bedürfnisse regeln, scheint es, als ob die Hälfte der Menschheit davon ausgeschlossen wäre – zumindest wenn mensch die Ideen und Vorstellungen zum Frauenbild bestimmter anarchistischer ‚Klassiker’ liest. Gerade bei Proudhon kommt frau da einfach das Kotzen: er sah durch die Kritik an der Ehe die Moral des Volkes gefährdet und lehnte alle Emanzipationsbestrebungen der Frauen schlicht ab – ein glatter Widerspruch zu seinen fortschrittlichen libertären Theorien.

... und ein Sexist bleibt ein Sexist bleibt ein Sexist, auch, wenn er sich den Anarchismus auf die Fahnen schreibt!

Pierre - Joseph Proudhon (1809-1865): auch nur ein Geist seiner Zeit

Proudhon gilt als Urvater der anarchistischen Theorie und als Schöpfer des libertären Sozialismus. Er wurde in ärmlichen Verhältnissen geboren und musste die Schule früh abbrechen, um sich selbst zu ernähren. Proudhon bildete sich eigenständig weiter und schrieb zahlreiche ökonomische und politische Texte – seine Schrift ‚Was ist Eigentum?’ ist wohl die berühmteste von allen. Er forderte die Abschaffung des Staates, die Quelle der Unterdrückung, und dessen Ersetzung durch ein föderalistisches System, basierend auf dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe; das Geld sollte abgeschafft und durch den Tauschhandel ersetzt werden. Die arbeitende Klasse würde unterdrückt, weil dieser Tauschhandeln ungerecht sei (und unmoralisch – ein Wort, das bei Proudhon öfter vorkommt; was er allerdings unter ‚Moral’ verstanden hat, kann nur geraten werden...). Das Eigentum müsse besser verteilt werden und der Missbrauch dessen abgeschafft werden. Mit seinen Thesen beeinflusste er große Teile der anarchistischen Bewegung; der proletarische Antifeminismus unter den Anarchisten dürfte wohl auch seine Wurzeln in Proudhons Überlegungen zum Geschlechterverhältnis und speziell zur Familie haben.

Die Familie bildete für Proudhon den Kern der Gesellschaft, er unterschied sich in dieser Hinsicht kein bisschen von den Ansichten der konservativen und reaktionären Kräfte damals und heute; er steigerte die Bedeutung der Familie sogar noch, indem er seine revolutionären Bestrebungen in den Dienst der Familie stellen wollte. Den Geschlechtern waren bestimmte ‚Wirkungsbereiche’ zugeteilt: so war ‚logischerweise’ das Heim, die Küche, die Kindererziehung... der weibliche Bereich, in dem die Frau alleine und autonom schaffen und walten konnte – ‚Der Haushalt (...) ist das Königreich der Frau, das Denkmal der Familie.’[30] Alles andere war Männersache und jegliche Emanzipationsbestrebungen sah er als Gefährdung der Ehe und der ‚Moral’ (wiederum ist nicht klar, welche Moral er da meinte). Außerdem war die Frau dem Mann in der körperlichen und geistigen Entwicklung weit unterlegen und rangmäßig irgendwo unter dem Mann und über dem Tier angesiedelt – eine Überlegung, die sein extrem patriarchalisches Denken widerspiegelt und obendrein im krassen Widerspruch zur anarchistischen Logik steht; es sei denn, er verstand Frauen nicht als Menschen, die also auch nicht frei und gleich leben bräuchten – dann jedenfalls wären seine Überlegungen schlüssig. Allerdings argumentierte er nicht auf diese Weise, sondern wies immer wieder auf den ‚eigenen Bereich’ der Frauen, das Haus, hin, in dem sie alle Freiheit der Welt hätten. Die Erfüllung würden alle Frauen als Hausfrauen und Mütter finden, für mehr reichten seiner Meinung nach die weiblichen Tugenden wie Genügsamkeit, Einfachheit, Naivität oder Güte vermutlich nicht aus.

Entschlossen bekämpfte er alle feministischen Theorien und Ideen und es bleibt zu hoffen, dass Zeit seines Lebens die Frauen seiner Umgebung nicht allzu sehr unter ihm gelitten haben....

Michail Bakunin (1814-1876): Emanzipation ist o.k., aber wir müssen nicht dauernd darüber reden!

Geboren wurde Bakunin als Nachkömmling eines alten ungarischen Adelsgeschlechts in Russland, genoss eine gute Schulbildung und war vermögend. Er studierte in Moskau Philosophie, war besonders von den Werken Hegels sehr angetan und ging 1840 nach Berlin, wo er seine ersten Schriften mit anarchistischen Inhalt veröffentlichte. Bakunin reiste weiter in die Schweiz und dann nach Paris, wo er viele SozialistInnen, Proudhon, Karl Marx oder auch George Sand[31] kennen lernte. An der Februarrevolution 1848 in Frankreich nahm Bakunin mit Leidenschaft teil und nutzte die Gelegenheit, sein theoretisches Wissen mit praktischer Erfahrung zu erweitern. Ein Jahr später ging er nach Dresden, um dort die Revolutionsregierung militärisch zu beraten; der Aufstand wurde niedergeschlagen, Bakunin verhaftet und nach Russland ausgeliefert, wo er zuerst im Kerker saß und später nach Sibirien verbannt wurde. Bakunin konnte fliehen und über Umwege gelangte er nach England. Er reiste nach Italien und in die Schweiz, hielt Vorträge über das Kapital von Marx und trat schließlich der Genfer Sektion der Ersten Internationalen bei, die sich ganz dem revolutionären Kampf verschrieben hatte. In dieser Organisation wurde Bakunin zum großen Kritiker von Karl Marx, da er befürchtete, dass auch Marx ‚Volksstaat’ noch ein Staat war, dessen Absterben nicht so leicht passieren würde. 1872 wurde Bakunin auf Drängen Marx aus der Ersten Internationalen ausgeschlossen, was schlussendlich zur Spaltung und zum Ende der Organisation führte; der antiautoritäre Flügel gründete noch im selben Jahr eine eigene Gruppe. Schließlich beteiligte sich Bakunin 1871 an den Kämpfen der Pariser Kommune, 1874 erschien sein einziges abgeschlossenes Werk ‚Staatlichkeit und Anarchie’.

In seinen Schriften erklärte Bakunin Frauen und Männer zwar als unterschiedlich aber gleich an Rechten; Frauen seien genauso intelligent und frei wie Männern und sollten gemeinsam eine freie Ehe führen; die Gesellschaft sei verantwortlich für das Wohl der Kinder und für deren Erziehung. Alle würden gemeinsam die Kosten für den Unterhalt der Mütter, die erziehen wollen, und der Kinder tragen. Er akzeptierte somit die Kinderlosigkeit von Frauen und deren Wahlrecht. Bakunin hatte zwar für die Emanzipationsbestrebungen seiner Genossinnen Verständnis – ‚Ich bin so sehr wie nur jemand Anhänger der vollständigen Emanzipation der Frauen und ihrer sozialen Gleichmachung mit den Männern, aber daraus folgt nicht, dass man diese Frauenfrage überall hineinbringen muss, selbst wo von ihr keine Rede ist.’[32], sonderlich begeistert schien er aber bei so viel ‚weiblicher Eigendynamik’ nicht zu sein.

Diese Aussage spiegelt meiner Meinung nach deutlich die Einstellung Bakunins und die später als Hauptwiderspruch definierte Priorität des Kampfes gegen den Kapitalismus gegenüber ‚kleineren Kämpfen’ für z.b. die Emanzipation der Frau wieder. Zwar könnten Frauen gern um ihre Rechte kämpfen, aber sollten sich mit ihren Forderungen trotz aller Notwenigkeit nicht immer in den Vordergrund drängen. (...) Vielleicht ist diese Theorie etwas zu gewagt, jedoch wäre Bakunins Einstellung in Anbetracht der herrschenden Meinungen (auch) unter den Anarchisten nur ein Kind ihrer Zeit.

Peter Kropotkin (1842-1921): viel Spaß im Reproduktionsbereich!

Emma Goldman, die auf einer ihrer vielen Reisen Kropotkin in England kennen gelernt hatte und auch eine Amerika-Tour für ihn organisierte, beschrieb in so: ‚Einen klaren, leuchtenden Geist und menschliche Wärme, die zusammen seine harmonische, faszinierende Persönlichkeit ausmachten.’ [33]

Fürst Peter Kropotkin kam aus einer sehr reichen und feinen russischen Adelsfamilie, genoss eine gute Schulbildung und wurde sogar zum Kammerpagen des Zaren Alexander II. ernannt. Am Hof erkannte er aber bald die Grausamkeit des Zaren und seine Abhängigkeit von ihm. Um persönlich frei sein zu können, reiste er als Mitglied der Amur-Kosaken nach Sibirien und der Mandschurei, unternahm dort ausgedehnte Exkursionen und festigte so sein Ansehen als Geologe. Diese Zeit empfand er später als sehr prägend, doch das Leben als Soldat war bald mit seinem Gewissen nicht mehr zu vereinbaren. Er verließ die Armee, was dazu führte, dass er keine Unterstützung mehr von seiner Familie bekam, ging zurück nach Petersburg und studierte Mathematik und Geografie. Kropoktin las fasziniert die Schriften von Proudhon und Bakunin und beschloss bald, sich als Wissenschaftler in den Dienst des Volkes zu stellen. Als er sich in Genf der Ersten Internationalen anschloss, hatte er für sich die geistige Entwicklung zum Anarchisten abgeschlossen. Er ging zurück nach Russland, übersetzte dort sozialistische Literatur und reiste mit dem Vorwand, geographische Studien, zu betreiben durchs Land; eigentlich nutze er diese Gelegenheiten dafür, die Bauern zu agitieren. In diesem Sinne führte er ein Doppelleben: als Arbeiter oder Bauer verkleidet hielt er revolutionäre Vorträge, während er sonst im Winterpalast seinen Wissenschaften nachging.

1874 wurde er von der Geheimpolizei verhaftet, erst nach zwei Jahren gelang ihm die Flucht und er gelangte nach England, wo ihm Asyl gewährt wurde. Schließlich ging er wieder in die Schweiz, wo er die Zeitschrift, ‚Le révolté’ gründete. Nach dem Attentat auf den Zaren 1881 wurde er aus der Schweiz ausgewiesen, konnte aber nach Frankreich flüchten, wo er 1883 wegen illegaler Tätigkeit zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Nach seiner vorzeitigen Entlassung ließ er sich wieder in England nieder, wo er die Zeitschrift ‚Freedom’ herausgab, seine wissenschaftlichen Arbeiten fortsetzte und 1902 sein wohl wichtigstes und faszinierendstes Werk ‚Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt’ erschien.

Begeistert von der aufkommenden Revolution in Russland kehrte er zurück in seine Heimat, zog sich aber bald enttäuscht von den Geschehnissen in die Provinz zurück und starb dort 1921; bei seinem Begräbnis erwiesen ihm viele AnarchistInnen die letzte Ehre und es war wohl die letzte Gelegenheit für sie gewesen, in bolschewistischen Russland öffentlich zu demonstrieren.

Kropotkins Ideen beziehen sich auf die Menschen allgemein, er unterscheidet nicht zwischen Frauen und Männern, auch mokiert er sich über seine Zeitgenossen, die zwar ‚die Befreiung des Menschengeschlechts wollen, nicht aber die Frau in ihrem Befreiungstraum miteinbezogen haben...’ [34] Doch seine Theorien betreffend der Emanzipation der Frau sieht nicht vor, sie frei wählen zu lassen, wiederum wird die Kindererziehung zur Hauptaufgabe der Frauen hochstilisiert. Zwar sollen sie befreit werden von der ‚abstumpfenden Arbeit in Küchen und Waschhäusern’, doch statt dessen dürfen sie sich in einer eigenen Organisation ganz der Kindererziehung widmen. In dieser sollten sich die Frauen von den einengenden Kleinhaushalten befreit fühlen, da sie alle gemeinsam in dieser arbeiten würden.

Mit Emma Goldman kam er einmal in eine hitzigen Diskussion über die Geschlechterfrage in der anarchistischen Propaganda. Peters Meinung war, dass die Gleichstellung der Frau mit dem Mann nichts mit dem Geschlecht zu tun hätte; es wäre eine Sache des Verstandes. ‚Wenn sie ihm intellektuell gleichgestellt ist und seine gesellschaftlichen Ideale teilt, dann ist sie so frei wie er.’[35] Goldman wurde recht wütend über diese Ansichten, genauso wie sie zu Beginn die Befürwortung des (späteren) ersten Weltkrieges durch Kropotkin heftigst kritisierte und nicht akzeptieren wollte.

Im Vergleich zu den Gedankengängen Proudhons und Bakunins sind die Kropotkins sicherlich am ehesten ‚feministisch’, doch auch letzterer weist der Frau den Reproduktionsbereich zu, anstatt Frauen alleine entscheiden zu lassen, was sie mit ihrem Leben machen möchten.

Klar ist, dass es auch als gesellschaftskritischer Anarchist nicht ganz so einfach war, aus den traditionellen Rollenbildern auszubrechen... besondere Mühe hat sich außerdem keiner gemacht!

Die Quellen der Texte über Proudhon, Bakunin und Kropotkin sind in erster Linie in dem bislang einzigen und einzigartigen ‚Werk’ ‚Anarchafeminismus – Auf den Spuren einer Utopie’ von Silke Lohschelder zu finden; das Studieren und Auswerten der Originaltexte wäre zwar äußerst interessant, allerdings für das Verfassen dieser Broschüre aus Zeitgründen nicht machbar.

Emma Goldman und Johann Most – Liebe und Hass

Der viel gepriesene Johann Most (‚Die Gottespest’) stellte und stellt noch immer das Idealbild eines konsequenten Anarchisten, Idealisten und Kämpfer dar, ein Vorbild, das durch seine Tätigkeiten in Deutschland, England und den Vereinigten Staaten die anarchistischen Bewegungen stark beeinflusste und viele Menschen für die Idee des libertären Sozialismus begeisterte. Doch gerade die Person Most sollte aus feministischer Sicht kritisch hinterfragt werden, denn eben an seinen Genossinnen hatte Most viel auszusetzen, da er u.a. die politische Tätigkeit der (wenigen) Frauen in seiner Umgebung für überflüssig und lächerlich hielt und ihnen die eigenständige politische Arbeit nicht zutraute.

Der am 5. Februar 1846 in Deutschland geborene Most, seines Zeichen sozialdemokratischer Revolutionär, später dann in den Vereinigten Staaten Anarchist und Herausgeber der Zeitschrift ‚Freiheit’ war ein genialer Redner und beeindruckte so auch Emma Goldman, die ihn 1888 in New York zum ersten Mal sprechen hörte. Fasziniert von der Idee des Anarchismus wurde Most ihr Lehrer und Freund, der sie dazu ermutigte, ins ‚kalte Wasser zu springen’: ‚Der Pfad des Anarchismus ist steil und beschwerlich, viele haben schon versucht hinaufzusteigen und sind zurückgefallen. Der Preis ist erheblich. Wenige Männer sind bereit ihn zu zahlen – die meisten Frauen nicht.’[36]

Most fiel an Emma ihre imponierende Sprachgewandtheit auf, mit der es ihr gelang, Gefühle wiederzugeben und die/den GesprächspartnerIn zu fesseln; er bezeichnete sie als die geborene Rednerin und beschloss, ihr Talent für sich zu nutzen und sie zur Verbreitung seiner Ideen auf ihre erste Vortragsreihe 1890 zu schicken bzw. ließ er sie als attraktive Rednerin aus seinen Manuskripten vor ihm sprechen.

Auf die Frage, ob es denn viele Frauen in der amerikanischen anarchistischen Bewegung gäbe, antwortete Most: ‚Nein, keine, nur Dummköpfe. Die meisten Mädchen kommen zu den Treffen, um sich einen Mann zu angeln; dann verschwinden sie beide – wie der dumme Fischer, als er die Loreley sah.’[37] Most sah also in den Anarchistinnen nichts weiter als heiratswillige Frauen, die sich auf Partnersuche in ihren Kreise begaben, ein eigenes Interesse an sozialrevolutionären Tätigkeiten konnten diese Frauen seiner Meinung nach nicht haben, da ja deren primäres Bewegungsfeld in der Familie läge.

Goldman war anfangs begeistert von der Bestätigung, die sie vom ‚großartigen Most’ erhielt, empfand allerdings die Vortragsreise für sich persönlich nicht gerade gelungen, auch deshalb, weil sie bloß die Ideen Mosts nachplapperte und sich kritische Bemerkungen nicht verkneifen konnte, was ihr wiederum das Publikum übel nahm. Nach und nach begann sie, sich eigenständige Überlegungen zu machen, insbesondere legte sie viel mehr Wert auf die Freiheit des Individuums und die Autonomie der einzelnen Gruppen, was Most nicht nur missfiel, sondern was er auch nicht tolerieren wollte: ‚(...) auf der Straße brach er in wüste Beschimpfungen aus. Er hätte eine Viper herangezüchtet, eine Schlange, (...) Er hätte mich hinausgeschickt, um seine Sache zu vertreten und ich hätte ihn betrogen. (...)’ [38]

Schon Monate vorher war die mehr als freundschaftliche Beziehung zwischen Most und Goldman von Alexander Berkman (‚Sascha’) heftig kritisiert worden, insbesondere Most war wegen seinem verschwenderischen Lebensstil Auslöser zahlreicher Streiterein zwischen Sascha und Emma gewesen. Berkman, ein enger, lebenslanger Freund und später auch Geliebter Goldmans, ebenfalls aus Russland in die Vereinigten Staaten emigriert, war neben Most eine weitere schillernde Figur der anarchistischen Bewegung der USA und schrieb unter anderen das ‚ABC des Anarchismus’.

Nun begann auch Emma Mosts politische Ansichten gründlicher zu hinterfragen, hatte sie sich doch von der jungen Bewunderin zur eigenständigen Denkerin verwandelt, keine Frau (mehr), die Most für sich beanspruchen konnte, sei es in der Politik oder im Privatleben. Spätestens als sich herausstellte, dass Most in Emma nur die Mutter seiner Kinder und die Stütze seines Lebens bzw. ein frei verfügbares Sexobjekt sah und ihre politische Tätigkeit nicht ernst nahm, konnte sie seine traditionellen Rollenbilder nicht mehr ertragen und sie emanzipierte sich erfolgreich von Johann Most. Eifersüchtig warf er ihr vor, dass er schon immer gewusst hätte, dass sie diesen ‚arroganten russischen Juden’ (d.h. Berkman) ihm vorziehe[39], was für Emma Berkmans Kritik an Most bestätigte, der ihm vorwarf, mehr Antisemit als Anarchist zu sein und unter dem Deckmantel des Anarchismus als Tyrann regieren zu wollen[40].

Gerade die Erfahrungen mit Most hatten Emma gezeigt, dass Anarchismus und Patriarchat sich nicht unbedingt widersprechen müssen und dass die größten Kämpfer die schlimmsten Unterdrücker sein können. Ihre Beziehung zu Most und die Lehren, die sie daraus zog, war der Beginn ihres Kampfes gegen jegliche Form der Unterdrückung, insbesondere aber für die Rechte der Frauen und gegen die Bevormundung durch die Männer.

Als dann auch noch Most keinerlei Solidarität gegenüber Berkman zeigte, der nach einem Attentat auf den Industriellen Frick, inspiriert durch Mosts ‚Wissenschaft der revolutionären Kriegsführung’, zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ja Berkman sogar jede politische Motivation absprach und ihn als Verrückten diffamierte, standen Goldman und Most sich mehr als feindlich gegenüber. In der ‚Freiheit’ wurden Emma und Sascha immer wieder beschimpft und verleumdet, so dass Emma beschlossen hatte, Most öffentlich zur Rede zu stellen. Für diesen Zweck kaufte sie sich eine Pferdepeitsche, mit der sie bei Mosts nächsten Vortrag auf ihn losging; die wütende Menge konnte knapp daran gehindert werden, sie zu verprügeln, sie wurde aus dem Saal geworfen und Mosts Hasstiraden auf sie und Sascha gingen ohne Einschränkung weiter.[41]

Später, als Most wieder einmal mit Gefängnisstrafe bedroht war, setzte sich Emma ohne nachtragend zu sein für seine sofortige Freilassung ein, sie begegneten sich ein paar mal wieder, es kam aber nie mehr zu einem Gespräch zwischen ihnen. Most hatte Goldman ihr ‚Benehmen’ nie verziehen. Er starb während einer Vortragsreise in New York 1906.

Da auch heute noch die Bestrebung, Sexismus als Nebenwiderspruch zu sehen, existiert, kann gerade am Beispiel Most aufgezeigt werden, dass die großen Anarchisten, die für die Gleichberechtigung aller Menschen kämpften, nicht unbedingt die Frauen in ihre Überlegungen miteinbezogen. Teilweise verlieren sie kein Wort darüber, wie in einer befreiten Gesellschaft die Stellung der Frau gebessert werden soll oder wie gleich denn die Frauen nun wirklich sein werden. Sie verlassen sich nur allzu oft darauf, dass mit dem Hauptunterdrückungsmechanismus Staat die Nebenunterdrückung der Frauen durch die Männer ‚von selbst’ verschwindet, was weder logisch ist noch irgendwie prognostiziert werden kann. Tatsache ist, dass Johann Most in Emma Goldman und vermutlich auch in allen anderen Frauen seiner Umgebung nichts anderes sah als putzige Sekretärinnen, hilfsbereite nachsichtige Weibchen und dienende Hausfrauen. Diesem Frauenbild hatte Emma Goldman nicht entsprochen; sie hat ihre eigenen Träume und Ideen entwickelt und sich nicht in den Schatten des großen Theoretiker Most als ‚Groupie’ gestellt. Sie ist aus dessen Schatten herausgetreten und hat eigenständig und eigenwillig das getan, was auch wir schleunigst tun sollten: große Theorien kritisch zu hinterfragen und unsere eigenen Ideen in praktischer Arbeit zu verwirklichen.

riotgrrrls – feministischer Widerstand, Protest und Revolte

‚When she walks, the revolution’s coming
In her hips, there’s revolution
When she talks, I hear the revolution (…)
Rebel Girl, Rebel Girl you are the queen of my world…’
(Bikini Kill, 1992)[42]


Der Begriff ‚riotgrrrl‘ kommt aus der amerikanischen Punkszene und entstand Anfang der 90er Jahre durch feministische Punk-Bands wie Bikini Kill oder Bratmobile, die sich gegen die männliche Dominanz in der Punk-Szene wehrten. Riot übersetzt mensch am besten mit Aufstand, Aufruhr oder Krawall, Grrrls sind selbstbewusste Mädchen und Frauen, die sich nicht von einer männlich dominierten Welt einschüchtern lassen und ohne männliche Hilfe in der Lage sind, unabhängig eigene Musik - und darüber hinaus noch viel mehr - zu kreieren (grrrls ist also eine Mischung aus dem Wort ‚girl’ und dem Geräusch ‚grrr’, knurren). Sie verstehen sich als das Gegenteil von Püppchen, die sich widerspruchslos der männlichen Dominanz unterordnen und ihr Leben danach ausrichten, den Männern zu gefallen und sich Stile vorgeben zu lassen. Gerne kokettieren riotgrrrls mit Bezeichnungen wie ‚bitch oder slut’ (Schlampe, Miststück, Luder u.a.), was auf Selbstbewusstsein und Selbstironie hinweist, das Ziel hat, sich diese Begriffe zurückzuerobern (nach dem Vorbild afroamerikanischer Rückeroberungsversuche der Ausdrücke ‚nigga’ oder ‚black’) und außerdem männlichen Gegnern Angriffspotentiale vorwegnimmt.

‚Gezielter Separatismus’ stand ganz am Anfang einer Reihe von Projekten, zu denen ausschließlich Frauen Zutritt hatten und in denen sie sich abseits vom ‚Mann-stream’ entfalten konnten; diese Trennung war eigentlich als Übergangsstadium vorgesehen, hat sich aber mittlerweile für die Emanzipation der Frauen als immanent erwiesen; nicht nur in der männlich dominierten alternativen Musikszene waren und sind Frauen unterrepräsentiert, sondern wurden/werden meist schlichtweg ignoriert. Heute gibt es viele Frauenräume und Veranstaltungen, die ausschließlich für und von Frauen sind, um ihnen einen Platz zu geben, an dem sie sich ohne Männer frei entfalten und bewegen können.

Die riotgrrrl-Bewegung war von Anfang an politisch und radikalfeministisch angelegt: tabuisierte Problematiken, wie z.b. Gewalt gegen Frauen, sexuelle Ausbeutung oder Inzest,  wurden (werden) aufgegriffen. Im ‚riotgrrrl-Manifest’ aus dem Jahre 1992 ist Gesellschafts- und Kapitalismuskritik angesagt und die Basis des Zusammenlebens innerhalb und außerhalb der ‚Szene’ sollte auf Solidarität basieren. Die riotgrrrrls setz(t)en sich außerdem besonders für die Rechte von Lesben, Transgenders und gegen Homophobie ein, allerdings strebten die Anfänge der Bewegung, die sich oft selbst als ‚Vertreterinnen des 90er-Feminismus’ bezeichneten, eine bewusste Abgrenzung vom Feminismus der 70er Jahre an. Darin ist auch eine Erklärung zu finden, warum die Kleidung der riotgrrrrls eine wichtige Rolle in der Szene spiel(t)e – sie dient(e) als politisches Ausdrucksmittel. Ganz im Gegenteil von dem, was die Feministinnen der 70er Jahre mit ihrem kurzen Haaren und einem betont nicht femininen Kleidungsstil bzw. Anti-Kleidungsstil boykotierten: damit ihre Forderungen überhaupt Gehör fanden, wählten die Frauen der 70er Jahre bewusst kein ‚Mädchenimage’, um ja nicht auf ihre sexuelle Wirkung reduziert zu werden. Die riotgrrrls kehrten dieses Prinzip bewusst um, um ‚den Feminismus wieder interessant zu machen’ und vom ‚lustfeindlichen Birkenstock-Image’[43] zu befreien. Die ‚Krawallgören’ riefen den ‚ Revolution Girl Style Now!’ aus, eine selbstbewusste Art, sich zu kleiden, nicht darauf zu achten, was andere davon denken könnten; absichtlich wählten sie sexy Klamotten und waren stolz auf den bitch-look, den so viele Feministinnen lange Zeit gemieden hatten. Die Medien und die Textilindustrie entdeckten darauf den ‚Girliestyle’[44], schrieben bewusst verzerrte oder voyeuristische Berichte und reduzierten ab diesem Zeitpunkt die riotgrrrl-Bewegung auf ihr Äußeres (‚sexy Schulmädchen im Sperrmülloutfit’[45]). Sie wurde verharmlost und verniedlicht, die typische patriarchale Strategie, Frauen als politische Gruppe weiterhin zu unterdrücken bzw. zu ignorieren. Die Frauen und mit ihnen das bewusst gewählte Spiel mit weiblichen Stereotypen wurden auf ihre sexuelle Ausstrahlung reduziert, genau das, was die Feministinnen der 70er Jahre durch betont ‚männliche’ Kleidung vermieden hatten, passierte 20 Jahre später der riotgrrrl-Bewegung. Die Zeiten haben sich nicht wirklich geändert.

Mitte der Neunziger lösten sich viele Bands wegen interner Streiterein auf oder weil sie den Druck von außen nicht mehr ertragen wollten. Außerdem kam zunehmend Kritik von schwarzen Feministinnen, die die ‚weiße’ Bewegung darauf hinwiesen, dass in ihr schwarze und asiatische Frauen oft marginalisiert und trotz der gesellschaftskritischen Ansprüche kaum Rassismen thematisiert wurden.

Soweit zur Geschichte der riotgrrrls. Riotgrrrls haben sich zwar nie dezidiert zum Anarchismus bekannt, doch erschienen mir die undogmatische Herangehensweise, die nicht-hierarchische Organisation und der radikalfeministische Anspruch passend. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht die genauen Bezugspunkte zum AnarchaFeminismus herauszusuchen, das es welche gibt, halte ich allerdings für logisch. Die riotgrrrl-Bewegung stellt ein emanzipatorisches Frauenprojekt dar, das mir interessant genug schien, als Beispiel einer politisierenden, von außen kommenden, (wenn auch nicht bewusst) libertären ‚Organisation’ in einer Broschüre über AnarchaFeminismus vorzukommen; dass die interessierten LeserInnen dazu eigene Überlegungen anstellen werden, ist wünschenswert.

Buchempfehlung ‚AnarchaFeminismus’

Das beste und leider bisher einzige Buch zum Thema Anarchafeminismus, ‚Anarchafeminismus – Auf den Spuren einer Utopie’ von Silke Lohschelder, erschienen 2000 im Unrast-Verlag, sei den geschätzten LeserInnen dieser Broschüre wärmstens empfohlen – hier eine kurze Beschreibung des Inhalts (Originaltext geklaut von www.graswurzel.net, geringfügig abgeändert...):

Angesichts des patriarchalen ‚Backlash’ ist das Buch von Silke Lohschelder eine ermutigende Herausforderung.

Die AnarchaFeministinnen und ihre sozialrevolutionären Entwürfe sind bis heute weitgehend ein Tabu geblieben. Die Autorin geht den Spuren dieser Tabuisierung nach. Konturen sowie Strukturen des anarchafeministischen Engagements werden von ihr aufgezeigt. Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich auch mit bisher weniger berücksichtigten Anarchistinnen, beispielsweise mit der russischen Sozialrevolutionärin Wera Figner oder der Pariser Kommunardin Louise Michel. Im Gegensatz zu männlichen anarchistischen Theoretikern und Zeitgenossen versuchten die libertären Feministinnen zumeist bewusst, Theorie und Praxis zu verbinden, besonders im Hinblick auf die soziale Frage. Die Anarcha-Feministinnen ‚thematisierten die spezifisch weiblichen Lebensbedingungen, Probleme und Benachteiligungen ihrer Zeitgenossinnen’. Sie forderten die ökonomische Unabhängigkeit der Frau, berufliche Selbstverwirklichung, sexuelle Befreiung, Geburtenkontrolle, Auflösung der Ehe als Zwangsform. Exemplarisch zeigt sich das am vielseitigen Lebenswerk der bekannten Anarchistin Emma Goldman. Zu ihr schreibt die Autorin: ‚Die Grundlage von Goldmans anarchistischen Positionen bildete die Ablehnung von Staat, kapitalistischem Wirtschaftssystem und Religion als unterdrückerische Institutionen, die ihrem Ziel, der größtmöglichen Freiheit des Menschen, entgegenstanden.’ Die Erkenntnis, dass staatliche Machtapparate sowie die ausbeuterischen Mechanismen des kapitalistischen Systems die Entfaltungsfreiheit der Menschen vehement beschneiden, bildet bis heute eine wesentliche Grundüberzeugung der anarchafeministischen Position. Statt politischer Aktion wie der Teilnahme an Wahlen oder einem Engagement in Parteien propagierte Goldman ‚die direkte Aktion, (...) aber auch ein bewusstes Verhalten im persönlichen Umfeld’.

Welchen Stellenwert nimmt nun die Verbesserung der weiblichen Lebensbedingungen innerhalb des gesamten politischen Befreiungsprozesses ein? Obwohl Goldman ‚die Befreiung der Frauen als Teil der Befreiung aller Menschen’ sieht, fordert sie speziell für ihre Geschlechtsgenossinnen die radikalen Befreiung aus allen Zwängen des patriarchalischen und kapitalistischen Systems. Die Tatsache der Unterdrückung der Frauen darf nicht als Nebenwiderspruch angesehen werden, ‚der sich mit der Abschaffung des Staates von selbst erledigt’. Und Goldman fordert: wenn Frauen wirklich frei sein wollen, müssen sie sich ‚von der Emanzipation emanzipieren’. Unter ‚Emanzipation’ versteht sie ‚die gesellschaftliche Gleichstellung’ der Frauen. Diese aber kann für sie nicht das Ziel der Befreiung sein. Die Konzentration auf eine äußerlich erfolgreiche Integration in die vom kapitalistischen System beherrschte Arbeitswelt würden den Frauen Kraft und Fähigkeiten für ihre eigentlich wichtigen Befreiungsprozesse rauben. Aus diesem Grund lehnt Goldman die ‚Herangehensweise der Frauenbewegung ab, die eine Gleichstellung der Frauen innerhalb des kapitalistischen Systems anstrebt’.

Inwiefern sind die damaligen Anarcha-Feministinnen heute noch aktuell? Ein zentraler Aspekt in aktuellen feministischen Diskussionen ist die Kategorisierung des Geschlechts in 'Sex' und 'Gender'. 'Sex' meint dabei das biologische Geschlecht, 'Gender' das soziale oder kulturelle Geschlecht, also die in einer Kultur mit dem biologischen Geschlecht verknüpften Erwartungen und Handlungsmöglichkeiten. Die Konstruktivistinnen unter den Feministinnen gehen davon aus, dass geschlechtsspezifische Stereotype und Verhaltensweisen Resultate der jeweiligen Sozialisation und deshalb veränderbar (dekonstruierbar) sind. Sie arbeiten u.a. an Entwicklungsmodellen, die eine Gesellschaft zum Ziel haben, ‚in der die Geschlechtszugehörigkeit keine Rolle mehr spielt und Menschen sich individuell, aufgrund ihrer Persönlichkeit’ frei entfalten können. Für diesen Prozess der Dekonstruktion fordern die Konstruktivistinnen folglich ‚die Einbeziehung anderer Unterdrückungsverhältnisse in feministische Theorien’.

An diesem Punkt eröffnet sich die Diskussion mit anarchafeministischen Ansätzen eigentlich wieder neu. Auch ihnen ging es nicht primär um die bloße Gleichstellung der Frauen im Hinblick auf Integration. Auch sie haben ein Ziel vor Augen, in der sich die Menschen frei von geschlechtsspezifischen Stereotypen und Erwartungen entfalten können. Sie haben jedoch klar erkannt, dass eine Veränderung der Verhältnisse zugleich die Analyse und radikale Transformation des kapitalistischen Systems beinhalten muss.

Vorreiterinnen beim Aufbau einer libertär-sozialistischen Gesellschaft waren in diesem Sinne die spanischen Anarchistinnen (ca. 1927-1939). Die Feministinnen innerhalb der libertären Bewegung Spaniens befanden sich in der bedrückenden Situation, dass ‚Sexismus (...) nicht als eigenständiger Unterdrückungsmechanismus anerkannt’, sondern als Phänomen behandelt wurde, ‚das sich mit der sozialen Revolution von selbst erledigen werde’. Die Organisationsstrukturen der libertären Gewerkschaft Spaniens (CNT) etwa erlaubten es nicht, dass Anarcha-Syndikalistinnen ihre autonomen Interessen vertreten konnten. Es wurde in einem Umfeld agitiert, ‚dem kaum Frauen angehörten’. Beispielsweise wurden ‚proletarische Frauen (...) nicht als Gruppe mit spezifischen Problemen angesehen, sondern man ging davon aus, daß sie dieselben Interessen hätten wie die Männer’. Frauen wurden zwar theoretisch in anarchistische Konzepte mit einbezogen, Unterschiede in Sozialisation und Lebenssituation zwischen den Geschlechtern wurden jedoch nicht berücksichtigt. Es ging sogar soweit, dass anarchistische Männer die Ursachen für das fehlende ‚Engagement der Frauen (...) als ein Zeichen für die Minderwertigkeit der Frauen’ sahen.

Speziell die AnarchaFeministinnen, die bereits vor 1936 in separaten Frauengruppen innerhalb der CNT organisiert waren, wehrten sich. Sie gründeten eine eigene Zeitschrift, ‚Mujeres Libres’ (Die freien Frauen). Und sie gründeten eine gleichnamige autonome Organisation. Auf ihrem ersten nationalen Kongress 1937 gaben sich die ‚Mujeres Libres’ eine landesweite Struktur. Mit der anarchosyndikalistischen Bewegung Spaniens wollten sie jedoch verwurzelt bleiben. Sie verstanden sich als autonom innerhalb der Gewerkschaft, welche landesweit föderativ organisiert war. Sicher ist, dass die Gruppen der ‚Mujeres Libres’ regen Zulauf hatten. ‚So wuchsen sie zu einer Organisation mit über 20.000 Mitgliedern in etwa 150 lokalen Vereinigungen’.

Primäres Ziel ihrer organisierten Bildungsarbeit war die Förderung des Selbstbewusstseins von Frauen, damit sie ‚ein selbständiges Leben führen könnten’, jedoch auch damit sie zu ‚Akteurinnen einer revolutionären Bewegung werden’. Unter dem Slogan 'Capacitatión' (Befähigung) boten sie in Dörfern und Städten allgemein- und berufsbildende Kurse für Frauen an. Da die Analphabetinnenrate unter den armen Frauen sehr hoch war, ging es ihnen zunächst um Alphabetisierungskampagnen. Die Bildungsprogramme erweiterten sie auf möglichst viele Bereiche: handwerkliche Ausbildung, Soziologie, Wirtschaft, Fremdsprachen, aber auch Kinder- und Gesundheitsfürsorge. Obwohl die ‚Mujeres Libres’ sich vorrangig als Organisation für Arbeiterinnen verstanden, erhielten sie auch Zuwachs von Frauen aus der bürgerlichen Mittelschicht. Kernanliegen blieb jedoch die Unterstützung und Ausbildung mittelloser Frauen sowie ungelernter Arbeiterinnen. ‚Einen großen Stellenwert in der revolutionären Arbeit der Mujeres Libres hatte die Kampagne gegen die Prostitution’. Die Gruppen richteten Zentren für Prostituierte ein, um moralische Unterstützung, medizinische Versorgung, berufliche Ausbildung und materielle Hilfe bieten zu können.

Die ‚Mujeres Libres’ waren in erster Linie eine basisdemokratische Organisation, die allen Mitgliedern die Möglichkeit zur öffentlichen Meinungsäußerung gab. Da sie nicht autoritär organisiert waren, hatten sie keine erzwungen einheitliche Position, ‚was unter der angestrebten Befreiung der Frau zu verstehen sei’. Am deutlichsten zeigt sich das wohl in dem Dilemma, dass ‚führende Theoretikerinnen der Mujeres Libres den Standpunkt vertraten, Frauen dürften sich nicht auf ihre Funktion innerhalb der Familie reduzieren lassen’ , während die anarchistische Ministerin Federica Montseny die spanischen Frauen zum Kinderkriegen aufrief. Ihre Einstellung war durchaus typisch für die Mehrzahl der spanischen Anarchistinnen, selbst für viele Mitglieder der ‚Mujeres Libres’.

Fußnoten:
[1] Rebscher, Helmut, Anarchosyndikalist, in ‚Der Syndikalist’, Jg. 6 (1924), Nr. 43
[2] Reinsdorf, August, in ‚Freiheit’, 1883
[3] Proudhon; Zitat aus ‚Anarchafeminismus’, Lohschelder, Silke
[4] Anarchafeminismus, Lohschelder, Silke, S. 101
[5] Anarchosyndikalistin in ‚Die Schöpfung’, Jg. 1 (1921), Nr. 67
[6] siehe auch ‚Was will der syndikalistische Frauenbund’ von Milly Witkop-Rocker (www.anarchismus.at)
[7] Buchtipps: Volin – Aufstand von Kronstadt, P. Arschinoff – Die Machno-Bewegung
[8] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 68
[9] siehe das ‚Peitschen-Attentat auf Most’, unten
[10] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 139
[11] siehe auch die Fahndungsplakate der BRD nach den ‚Anarchistischen Gewalttätern’ in den 70er Jahren, der streng hierarchischen organisierten, kommunistischen RAF  – und das, obwohl der damalige Bundeskanzler Brandt selbst die Bürgerkriegsereignisse in Spanien miterlebt hatte und sehr wohl wusste, was AnarchistInnen sind und was für eine Gesellschaft sie mit welchen Mitteln für erstrebenswert halten. Bewusst wurde bei der medialen Hetze und staatlichen Hetzjagd auf die RAF die Schlagwörter ‚anarchistische Gewalttäter’ gewählt, um weiterhin Anarchie  mit Terror und Chaos gleichsetzen zu können...
[12] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 49
[13] siehe ‚Emma Goldman und Johann Most’ unten
[14] Goldman verbrachte große Teile ihrer Kindheit in Deutschland, außerdem bestanden große Teile der anarchistischen Szene in den USA aus deutschen AuswanderInnen.
[15] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 109
[16] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 144
[17] italienischer Anarchist
[18] eine berühmte französische Anarchistin
[19] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 217
[20] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 71f.
[21] Lohschelder, Silke, Anarchafeminismus, S. 87
[22] siehe oben, z.b. ‚Das tragische an der Emanzipation der Frau’ von Emma Goldman
[23] siehe auch Liebe und Anarchie
[24] International Workers of the World
[25] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 584
[26] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 644
[27] Goldman, Emma, Niedergang der russischen Revolution’
[28] Arrondissement = Bezirk
[29] Leighton, Marian; Frauen in der Revolution, S. 68
[30] Proudhon, ‚System der wirtschaftlichen Widersprüche’
[31] George Sand (1804-1876), französiche Schriftstellerin, die sich in ihren Romanen für die Emanzipation der Frauen, freie Liebe und soziale Gerechtigkeit einsetzte
[32] Lohschelder, Silke, Anarchafeminismus, S. 26
[33] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 196
[34] Lohschelder, Silke, Anarchafeminimus, S. 32f
[35] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 289
[36] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 42
[37] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 42
[38] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 65
[39] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 87
[40] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 88
[41] Goldman, Emma, Gelebtes Leben, S. 125
[42] Der Name ‚Bikini Kill’ sei vom Bikini-Atoll abgeleitet, dort habe die USA ein ‚grausames Verbrechen’ begangen, so Kathleen Hanna, Sängerin von Bikini Kill.
[43] Kathleen Hanna in einem Interview
[44] der Begriff ‚Girlie’ kommt von ‚gyrlie-mag(azine)’, Pornoheft
[45] Der Spiegel, Nr. 50, 1992

Originaltext: Leicht gekürzte Fassung einer Broschüre des Anarchia-Versands (2003)