Ansätze für eine anarchistische libertär-sozialistische Gesellschaft

Die kapitalistische Klassengesellschaft hat sich in ihrer Entwicklung, insbesondere nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, enormen strukturellen Veränderungen unterzogen. Die eindeutig zu definierenden sozialen Klassen aus der Zeit des Manchester-Kapitalismus sind so nicht mehr erkennbar, da sich die soziale Schichtung, der in diesen gesellschaftlichen Strukturen lebenden Menschen, zunehmend komplexer gestaltet hat. Auch die noch vor dem zweiten Weltkrieg existente nationalstaatlich orientierte kapitalistische Wirtschaft hat sich zunehmend „verinternationalisiert“. Trotzdem befinden wir uns seit dem Zusammenbruch des staatskapitalistisch-stalinistischen Ostblocks in einer global-ökonomischen Entwicklung, die mehr als ernst zu nehmen ist, da sie der Monopolisierung, von der Karl Marx in der zweiten Hälfte des 19.Jh. in seinem Werk „Das Kapital“ schrieb, entspricht. Die in allen westlichen Staaten mit ihr einhergehende Beschneidung der sogenannten sozialen Netze zeigt uns, wie wichtig es gerade jetzt ist, alternative gesellschaftliche Modelle, die eine größtmögliche soziale Gerechtigkeit als ihre Basis erklären, zu diskutieren.

Da der Grundgedanke des Sozialismus nichts anderes als diese größtmögliche soziale Gerechtigkeit in sich trägt, ist er nach wie vor von größter Relevanz. Auch AnarchistInnen begreifen sich als SozialistInnen, da ihr Ziel in der Entstehung einer herrschaftsfreien, antiautoritären Gesellschaft zu suchen ist. Im Folgenden sollen einige wichtige Ansätze besprochen werden, die Möglichkeiten des Weges aufzeigen bzw. die strukturellen Gegebenheiten einer existenten anarchistischen Gesellschaft beleuchten sollen.

Gedanken zum Prozess der gesellschaftlichen Umwandlung

Da, wie bereits in der Einleitung erwähnt wurde, die heutigen strukturellen Gegebenheiten der kapitalistischen Gesellschaft von größter Komplexität gekennzeichnet sind, ist eine gesellschaftliche Umwandlung im Sinne von herkömmlicher militanter, revolutionärer Praxis auszuschließen. Deshalb muss der Wandlungsprozess in bzw. aus der gegebenen gesellschaftlichen Realität heraus also durch politische, gegenkulturelle Aspekte, erfolgen. AnarchistInnen lehnen jedoch Parteipolitik aus den Gründen ab, da sie nicht dem Grundsatz der Herrschaftslosigkeit entspricht und sich im Laufe der Geschichte fast immer als Instrument des Demonstrierens von Macht erwiesen hat. Somit stellt sich also die Frage, wie eine breite politische Gegenkultur errichtet werden kann, ohne dabei parteipolitisch zu agieren. Einen diesbezüglich sehr positiven Ansatz stellte die außerparlamentarische Opposition (APO) der 68-er dar. Sie versuchte eine breite links-politische Gegenkraft zu entwickeln, ohne sich dabei parteipolitischer Charakteristiken zu bedienen.

Die zu ihrer Zeit nicht zu leugnenden politischen Erfolge sprechen unter anderem für einen dahingehenden politischen Ansatz. Doch was unterscheidet einen linken außerparlamentarischen, nichtparteilichen Ansatz von Strukturen innerhalb einer Partei? Da Parteien sich in ihrem gewollt demokratischen Verständnis hierarchisch von oben nach unten organisieren, schaffen sie Herrschaftsstrukturen, die grundlegend für Klassengesellschaften sind, egal wie gewollt sozialistisch sie seien möchten. Aus diesem Verständnis heraus, wollen AnarchistInnen gegenpolitische Ansätze in Form von außerparlamentarischen bzw. außerparteilichen politischen und kulturellen Interessenverbänden schaffen, welche sich zwar demokratisch, jedoch von unten nach oben, im Sinne der konsenspolitischen Entscheidungsfindung organisieren und sich mit andern Gruppen und Verbänden vernetzt zusammenschließen.

Die Ziele dieses Ansatzes sind, Interesse für gegenkulturelle und gegenpolitische Aspekte zu wecken, um Menschen aus dem vorherrschenden gesellschaftspolitischen Desinteresse herauszulösen. Von entscheidender Wichtigkeit ist dabei, dass dieser Prozess auf allen gesellschaftlich relevanten Ebenen wie bspw. der Kultur, der Wirtschaft, der Politik und der Bildung stattfindet. Das Fernziel muss selbstverständlich darin bestehen, durch das Erweitern alternativer Handlungsspielräume, den Machthabenden die für sie notwendige Basis zu entziehen. Nur so können die gegebenen Machtverhältnisse allmählich revidiert und zunehmend egalisiert werden.

Dieser gesellschaftsverändernde Prozess kann jedoch nur bis zu einer bestimmte Schwelle gewaltfrei praktiziert werden, da jene gesellschaftlichen Kräfte, die am Erhalt der bisherigen Machtverhältnisse interessiert sind, mit massiven repressiven Mitteln versuchen werden, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Spätestens dann wird revolutionäre militante Praxis unvermeidbar sein, um den Weg zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft fortführen zu können.

Das dezentralisierte, anarchistische Fundament einer anarchistischen Gesellschaft

Da Rassismus und Sexismus im erweiterten Sinne das Fundament für alle herrschaftlichen Strukturen bilden, ist es notwendig, diesen durch bewusst emanzipative Denkmuster entgegenzuwirken. Somit bilden höchste humanistische, aber auch im anders verstandenen Sinne moralische Werte, die Basis einer funktionierenden anarchistischen Gesellschaft. Das Neuentstehen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen kann nur durch alternative Organisationsstrukturen verhindert werden, deren Bestreben es ist, Entscheidungsgewalt gleich zu verteilen. Zu diesem Zweck organisiert sich eine anarchistische Gesellschaft dezentralisiert in weitestgehend autonomen Kommunen.

Die entsprechenden, für die jeweilige Kommune relevanten Themen, werden in basisdemokratisch gewählten Räten besprochen, die in relativ kurzen und regelmäßigen Abständen neu gewählt werden. Hierbei muss vermieden werden, dass, wer einmal in einen Rat gewählt worden ist, nach Ablauf seiner „Amtsperiode“, die jeweilige Position ein zweites mal besetzen darf.

In diesem Sinne ist es erforderlich, gesellschaftspolitische Strukturen zu schaffen, die für möglichst jeden in der Kommune Lebenden durchschaubar und nachvollziehbar sind. Die bewusst komplex gestalteten politischen Zusammenhänge der kapitalistischen Gesellschaft werden also durch entkomplizierte Ansätze ersetzt, um jeden Einzelnen zu integrieren bzw. seine Mitbestimmung garantieren zu können. Eine klassische 2/3-Demokratie ist abzulehnen, da sie von vorn herein eine 1/3- Minderheit reproduziert, die wiederum zur Bildung neuer Machtverhältnisse führen würde. Das wichtigste Instrument der herrschaftsfreien Entscheidungsfindung stellt deshalb der Konsens dar.

Nicht zu leugnen ist, dass eine Entscheidungsfindung im Sinne des Konsens einen zeitlich sehr aufwendigen Prozess darstellt. AnarchistInnen gehen jedoch davon aus, dass Menschen in herrschaftsfreien Zusammenhängen eher zu beiderseitigen Kompromissen neigen als in einer Gesellschaft, in der im Sinne der allgegenwärtigen Konkurrenz der Kompromiss einen verlorenen Kampf gegenüber dem Anderen bedeutet. Darüber hinaus ist nur im Rahmen einer Konsensentscheidung garantiert, dass die Belange jedes Einzelnen Berücksichtigung erfahren. Bei einigen möglichst schnell herbeizuführenden Entscheidungen wird es sich jedoch nicht vermeiden lassen, auf herkömmlichen Wege demokratisch abzustimmen. Hierbei sollte allerdings eine demokratische Mehrheit von weit über 80% gefunden werden, um den Anteil derjenigen, die dieser Entscheidung ablehnend gegenüberstehen, so gering wie möglich zu halten.

Jede einzelne Kommune innerhalb der anarchistischen Gesellschaft organisiert sich auf diese Weise weitestgehend unabhängig. Im Rahmen dieses dezentralisierten, gesellschaftlichen Gefüges ist es möglich, intensiver auf die jeweiligen kommunalen Problem zu reagieren, da der Handlungsspielraum von den unmittelbar betroffenen ausgefüllt bzw. genutzt wird.

Gedanken zu einer herrschaftsfreien Ökonomie

Da sich die kapitalistische Klassengesellschaft über die Ungleichverteilung von wirtschaftlicher Macht definieren lässt, die sich in zunehmenden Maße monopolisiert bzw. zentralisiert, ist der Anarchismus bestrebt, jene gleichmäßig zu verteilen. Ein herrschaftsfreies System basiert deshalb auf der größt möglichen ökonomischen Eigenverantwortlichkeit der jeweiligen Kommunen. Dies bedeutet, dass eine regionale Wirtschaft nach den kommunalen Gegebenheiten errichtet werden muss, die sich nach den vorhandenen Ressourcen, Produktionsstätten und Fachkräften orientiert. Die in der Kommune vorhandenen Produktionsmittel sind als Gemeineigentum zu betrachten, da ihr Privatbesitz nicht garantieren könnte, dass deren Nutzung im Sinne der Gemeinheit erfolgt.

Eine diesbezügliche herrschaftsfreie Produktionsweise erfordert einen sehr hohen Grad an vernetzter Koordination, da eine einzelne Kommune als produzierende Einheit nicht selbständig ihren eigenen Bedarf auf allen Ebenen decken kann.

Insofern besteht zwischen den Kommunen ein natürlicher Zwang der direkten Solidarität. Diese zielt auf das Bewusstsein ab, die anderen Kommunen für den Erhalt der Eigenen zu benötigen bzw. sich mit ihnen auf einer gleichwertigen Ebene zu ergänzen. Insofern wäre eine Basis für das Produzieren von Waren auf der Grundlage des Bedarfs gegeben, die weitestgehend verhindert könnte, dass es im Hinblick auf die Erzeugung künstlicher Bedürfnisse zu unökologischer Überproduktion kommt. Dies würde bedeuten, dass nicht das Angebot die Nachfrage, was zur Erzeugung künstlicher Bedürfnisse im Sinne des kapitalistischen Verstehens von Produzieren benutzt wird, sondern die Nachfrage das Angebot bestimmt. Verständlicher ausgedrückt heißt das, erst dann bestimmte Waren zu produzieren, wenn diese tatsächlich benötigt werden. Nur auf dieser Grundlage kann ein zukunftsfähiges wirtschaftliches System basieren, das den Belangen der ökologischen Verträglichkeit und vor allem der sozialen Gleichheit gerecht werden kann.

Dieser Artikel versteht sich nicht als Ansatz eines dogmatischen Programms für eine libertär-sozialistische Gesellschaft. Er ist vielmehr als Sammlung von Gedanken eines einzelnen, sich als Anarchist verstehenden Individuums zu begreifen und soll lediglich als Diskussionsgrundlage, im Hinblick auf die Möglichkeit des Entstehens von alternativen gesellschaftlichen Strukturen, dienen.

Erschienen in Talk´ Rolls´ Stachel # 7, 05.06.00

Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/a23.html