Das Ende der Welt und Katastrophen

Wenn die Welt endet, wird weißer Staub auf die Erde fallen – wie der Vorhang am Ende des Theaterstücks. Menschen werden in Todesangst aus brennenden Gebäuden springen, ihre Körper werden wie Regen auf den Asphalt prasseln. Männer mit Splittern in ihren Augen werden durch die Straßen torkeln, überwältigt von den Trümmern; Frauen mit Babys in ihren Armen werden durch den Müll und durch ihre Haare wühlen. Unsere Generation wird vor ihrem Grab stehen und ihre letzten Worte in Mobiltelefone brüllen.

Oder wird das Ende der Welt doch in der Nacht ankommen, wie ein Dieb, unsichtbar und Schritt für Schritt? Dann werden Fabriken im Ausland verschwinden, mit ihnen die Konzerne, und mit diesen Jobs und Pensionen. Städte werden von innen nach außen sterben, der Tod wird sich wie ein Virus verbreiten, das Unheil der Vororte wird sich auf Wald und Wiesen ausdehnen. Kriege werden von Viertel auf Viertel übergehen, von Kontinent auf Kontinent. TerroristInnen werden keinen Frieden mit HorroristInnen machen – mit denjenigen, die Frieden zu jedem Preis auferlegen wollen, die versuchen, Harmonie zwischen Unterdrückenden und Unterdrückten zu bewahren mithilfe von Angst und Waffengewalt. Die Flut wird mit der Erderwärmung steigen, saurer Regen wird mit den letzten der Wälder fallen, Computersysteme werden gemeinsam mit Aktien und Aktienmärkten zusammenbrechen, und eines Tages werden alle an Krebs erkranken.

Vielleicht wird aber auch gar nichts passieren, und alles wird so weitergehen wie bisher: GefängniswärterInnen werden Betonbunker auf und ab gehen, PsychiaterInnen Verrücktheit definieren, Dämonen aus den Augen von MinisterInnen schauen, und KonsumentInnen auf dem Markt ge- und verkauft werden. Doch der obdachlose Mann an der Ecke flüstert uns zu: „Das ist das Ende der Welt, weißt du das nicht?“ Und andere, die bis jetzt Abstand von der Diskussion gehalten hatten, werden sich endlich einmischen: „Welche Welt?“

Wenn die Welt endet, werden Menschen aus ihren Wohnungen kommen und ihre Nachbarn zum ersten Mal treffen; sie werden Essen, Geschichten, Freundschaft teilen. Niemand wird zur Arbeit gehen oder zum Waschsalon. Menschen werden nicht in den Spiegel sehen, sich wiegen oder Emails checken, bevor sie das Haus verlassen. GraffitikünstlerInnen werden sich auf den Straßen drängen. Fremde werden sich umarmen, weinen, lachen. Jeder Moment wird eine Intensität besitzen, die zuvor in Monaten nicht zu erreichen war. Lasten werden abfallen, Menschen werden Geheimnisse gestehen und einander vergeben, die Sterne werden über New York zu sehen sein, und neun Monate später wird eine neue Generation geboren werden.

Geburtenraten steigen immer an nach Katastrophen, genauso wie es weniger natürliche Tode gibt, solange Katastrophen anhalten. In Zeiten von Katastrophen sterben Menschen selten an Altersschwäche bzw. an Langeweile. Egal wie prekär das Leben ist, es ist es wert, wach zu bleiben; schließlich hat es sich nie so süß angefühlt. Die Dringlichkeit des Notfalls schafft einen Reiz, den die Trägheit alltäglichen Stresses niemals schaffen kann.

Aber was ist mit den Menschen, die in Katastrophen sterben? Es ist wahr, dass Menschen ihr Leben in Hitzewellen, Springfluten und Flugzeugentführungen verlieren. Aber sie tun das auch aufgrund von Autozusammenstößen, Arbeitsunfällen, Überdosen, Herzattacken und Krebskrankheiten – und zwar in enormen Zahlen, oft alleine und vergessen in Heimen.

Es ist bemerkenswert, wie fixiert unsere Gesellschaft auf Katastrophen ist, und wie viel Angst sie davor hat, wo das alltägliche Leben doch statistisch gesehen so viel gefährlicher ist. Gleichzeitig ist es bezeichnend, dass unsere Gesellschaft Katastrophen nicht nur mit Angst, sondern auch mit Faszination begegnet. Um das verstehen zu können, müssen wir katastrophische Zustände und ihr vermeintliches Gegenstück, nämlich Normalität, hinterfragen. Wir müssen begreifen, was wirklich was ist. Lasst uns damit beginnen, Katastrophen von der verbotenen Perspektive aus zu betrachten, also mit den Augen jenes Teils in uns, der sich heimlich an ihnen erfreut.

Katastrophen als Intervention

Es ist ein öffentliches Geheimnis: Katastrophen sind aufregend. Egal wie groß die Herausforderungen sind, die sie an uns stellen, wir werden in Katastrophen lebendig. In unserem so genannten normalen Leben reduzieren wir die Welt auf einen kleinen Ausschnitt, auf unseren Alltag, und wir schaffen uns damit ein Gefängnis. Dann kommen Katastrophen und bringen alles durcheinander, stellen alles in Frage: die Welt öffnet sich und es wird klar, dass wirklich alles möglich ist. Plötzlich finden wir uns außerhalb unserer Gefängnisse, ob wir nun bereit dafür sind oder nicht; zitternd stehen wir vor den Ruinen. Neue Bedingungen werden geschaffen, in denen wir zu HeldInnen werden können. Wir können zu Wundern beitragen und Wunder beobachten. Wir können Tragödien statt Demütigungen erleben. Wir fühlen uns lebendig, dankbar füreinander und für alles, das wir haben, bzw. für alles, das wir jemals hatten. Gefahr und Verzweiflung kommen nicht immer zur falschen Zeit. Es kann eine wirkliche Erleichterung sein, alte schwermütige Ängste mit neuen aufregenden zu vertauschen. Unmittelbar nach einer Katastrophe hat alles Gewicht und Bedeutung. Weinen fällt genauso leicht wie lachen, und wir wissen nie, was als nächstes kommt. Wenn diese Phase vorbei ist, fällt es vielen schwer, sich wieder an den Alltag zu gewöhnen, und alles, das sie gelernt haben, zu vergessen.

Katastrophen schaffen die Gleichheit, die das Gesetz verspricht, aber nicht einlösen kann. Im Moment einer Katastrophe hat ein Geschäftsführer nicht mehr Privilegien als ein Junge im Rollstuhl: beide stehen Seite an Seite und starren auf den brennenden Wolkenkratzer. Ausgestoßene erhalten plötzlich Prestige und Anerkennung. Sie sind die einzigen, die auf die Situation vorbereitet sind: wenn das Ist verschwindet, dann sind Menschen, die an dieses gebunden waren, auf jene angewiesen, die seit jeher das Mögliche in den Augen hatten. Fähigkeiten, die fern und irrelevant schienen – etwa Riotcops zu bekämpfen oder in den Wäldern zu überleben – werden plötzlich für alle zentral, und visionäre Zukunftsbilder, von den PragmatikerInnen einst als unmöglich abgelehnt, ersetzen die Ketten von Ursache und Wirkung.

Katastrophen stellen die gesellschaftlichen Fakten, die „Realität“, in Frage. Freiheit ersetzt Konvention. Wandernde, die sich verirrt haben, machen Feuer mithilfe ihrer Armbanduhren; Mütter, die eigentlich nur einkaufen gehen wollten, heben Autos von ihren Kindern; friedliebende Flugzeugpassagiere werden Kannibalen und dafür gefeiert. Wenn die Schule zusperrt und die Straßen unpassierbar werden – wenn alles in der Luft hängt – dann sind es nicht mehr Routine, Pflicht, Feigheit und Trägheit, die unser Leben bestimmen. In den neuen und unbekannten Landschaften, die von Katastrophen geschaffen werden, ist völlige Selbstbestimmung unausweichlich.

Katastrophen werden immer wieder als Erfahrung totaler Befreiung beschrieben; eine Häresie in einer Gesellschaft wie der unseren, in der Sicherheit immer zuerst kommt. Es ist kein Zufall, dass das Millennium, das so viele religiöse Traditionen prophezeien, meist von einer Phase totaler Zerstörung eingeleitet wird – das himmlische Königreich kann sonst nicht auf Erden einziehen.

Dass die Vorstellung der Apokalypse – ob in Form eines nuklearen Krieges, des Jüngsten Gerichts oder einer allumfassenden Revolution – in unserer Gesellschaft so durchdringend ist, bestätigt die weit verbreitete Anziehungskraft des Extremen, von Zuständen, in denen gewohnte gesellschaftliche Konventionen nicht mehr gelten. Die Faszination, die von Gefahr und Tragödie ausgeht, offenbart eine kaum verschleierte Sehnsucht nach Risiko und Unsicherheit. Was würdest du tun, wenn du wüsstest, dass dir nur noch 24 Stunden zum Leben blieben? Von unseren Arbeitskabinen und Beichtstühlen aus können wir uns totale Freiheit und authentisches Leben nur in Zusammenhang mit Zerstörung vorstellen. Und das tun wir – ständig.

In unserer von Struktur, Sicherheit und Gewohnheit geprägten Welt sind Katastrophen etwas Fernes. Sie sind Spektakel: Nachrichten, Spielfilme, fantastische Geschichten. Dies erfüllt mehrere Zwecke, vor allem jenen der Einschüchterung. Je mehr wir eingeschüchtert werden, desto dankbarer sind wir für den Schutz der noblen Mächtigen. Aus der einzigen Perspektive, die wir haben, wirken Katastrophen wie das Chaos, das angeblich außerhalb der Zivilisation herrscht. Ein Alptraum, in dem das Leben kurz, brutal und hässlich ist. Gleichzeitig halten diese Bilder eine Ökonomie am Laufen, die Mächtigen verdienen an der enormen Popularität der Apokalypse. Eine Gesellschaft, in der wirkliches Abenteuer nicht möglich ist, verlangt nach Ersatz, etwa nach Actionfilmen und Videospielen. Wir lernen dabei, dass die Momente der Wahrheit, nach denen wir uns heimlich sehnen, angeblich unerreichbare Fiktionen sind – nichts, an dem wir teilhaben oder das wir initiieren können. Die noblen Mächtigen beschützen uns also vor uns selbst. Wirklich?

Welchen Platz haben die Mächtigen in der Anatomie der Katastrophe? Sie werden in Privatjets eingeflogen, um zu den Trauernden (und zu den Kameraleuten) zu sprechen. Sie tun so, als würden sie unter der Tragödie mehr leiden als die Betroffenen, obwohl sie keinerlei Konsequenzen tragen müssen.

Das Studium von Katastrophen führt zu interessanten Ergebnissen: so steigern zwar Katastrophen einerseits Ausbeutungsmöglichkeiten, andererseits reduzieren sie diese aber auch, weil die Betroffenen untereinander solidarisch werden. Ausbeutung in Katastrophensituationen wird gewöhnlich von AußenseiterInnen betrieben, von Profittreibenden, die sich die Lage zunutze machen, um Überlebende auszunehmen. Die Mächtigen selbst profitieren von Katastrophen und verwenden sie bzw. die Angst vor ihnen, um ihre Macht zu stärken. Dies funktioniert besonders gut bei Menschen, die Katastrophen nur aus dem Fernsehen, aus Zeitungen und aus Angstträumen kennen. Die tatsächliche Gefahr geht immer von den Mächtigen selbst aus. Sie sind es, die für unseren Krebs verantwortlich sind und für die SelbstmordattentäterInnen, die sich gegen uns wenden. Sie betreiben die ultimativen Schutzgeldringe.

Wie war das nochmal mit dem Schutz, der angeblich von ihnen ausgeht? Einst galten Ölspills und Amokschießereien als Katastrophen – heute sind sie mehr oder weniger gewöhnliche Ereignisse, Teil des gesellschaftlichen Gewebes, mit einkalkuliert. Sie sind nicht Anomalitäten, sondern Standard. Gleichzeitig werden Ereignisse, die das System bedrohen, wie etwa Blackouts oder Bombendrohungen, immer noch als Katastrophen beschrieben, ob nun wer stirbt oder nicht. Wir sind gelehrt worden, solche Ereignisse zu fürchten, und wir tun dies pflichtbewusst. Diejenigen aber, die diese Ereignisse erlebt haben, wissen, wie aufregend es sein kann, wenn etwas passiert.

Was Katastrophen in unserer Gesellschaft zu Katastrophen macht, ist die Tatsache, dass sie den Status quo angreifen; das ist das Einzige, das alle Katastrophen teilen. Die Definition von Katastrophen hat nichts mit Zerstörung zu tun. Schlachthäuser, Selbstmorde und unser gewöhnlicher Alltag kosten mehr Leben als alle Katastrophen zusammen. Viele Katastrophen führen zu überhaupt keinen Toden. Tatsächlich sind Katastrophenzeiten für weit weniger Tode verantwortlich als „normale“ Zeiten. Genauso wie GesetzesbrecherInnen für viel weniger Tode verantwortlich sind als jene, die Gesetzen gehorchen. Trotzdem gibt es Menschen, die in Angst vor Katastrophen leben, während sie unbeirrbar die Tugenden des Krieges loben. In Wahrheit fürchten diese Menschen die Grenzenlosigkeit und Intensität des Lebens und fühlen sich nur dort wohl, wo Ordnung herrscht. Dazu gehört Krieg. Der Krieg ist ein vertrautes Ritual, ein Garant des Status quo, die Bestätigung der Normalität. Es ist kein Zufall, dass der Katastrophe vom 11. September 2001 eine Reihe von Kriegen folgte. Was war blutiger? Die Katastrophe selbst oder ihre Folgen? (Zumindest wenn AusländerInnen als Menschen zählen.)

Nur Feiglinge fürchten Katastrophen. Allerdings gibt es einen Feigling in uns allen. Dieser will alles so haben, wie wir es gewohnt sind, egal welche Kosten dies für das Leben hat. Es handelt sich hier um die Furcht vor dem Unbekannten in ihrer reinsten Form: sie projiziert Dunkelheit, Zerstörung und Tod auf alles, das jenseits des Gewöhnlichen liegt. Diese Projektionen sind insofern besonders ironisch, als dass sie nur auf dem aufbauen können, das sie kennen. Der Schluss, den wir daraus ziehen müssen, ist, dass die Welt derjenigen, die das Unbekannte am meisten fürchten, ein Platz des Schreckens ist. Es sind die Terrorisierten, die Sklaven der Angst, die am meisten fürchten, das Feld des Terrors zu verlassen. Die Freien, die Furchtlosen, diejenigen, die bereit sind zu leben, diejenigen, die sich des Unerträglichen im Alltag bewusst sind, heißen neue Horizonte willkommen – und damit auch Katastrophen.

Katastrophen als Dauerzustand

Warte – wie können Katastrophen der Gipfel von Abenteuer, von Gemeinschaft, ja von Leben selbst sein? Bedeutet das, dass wir, um wirklich leben zu können, ein Dasein als Katastrophen-Touristen fristen müssen? Dass wir, wie Don Quixote, nicht anders tun können, als ein paar kurzen Momenten der Subversion nachzulaufen? Dass uns nichts als kurze Phasen von Zerstörung und Wiedergeburt bleiben, während wir dazwischen Jahre in Langeweile verbringen? Ist das praktisch, machbar, wertvoll? Sehnt sich die Frau, die mit ihren Autoabzahlungen und ihrer Ehe unzufrieden ist, wirklich nach Tornados und Taifunen? Oder sucht sie nur nach Befreiung?

Vielleicht steht hier alles auf dem Kopf. Vielleicht sind Katastrophen gar nicht so wichtig. Zumindest nicht im Vergleich zur richtigen Katastrophe – zur Katastrophe, die wir jeden Tag leben: die Leere unserer voll geplanten Tage; die Trivialität, die uns trivialisiert; die Maschine, die von Flüssen an Blut angetrieben wird. Dies würde erklären, warum wir uns so frei fühlen, sobald etwas – egal was, und egal wie bedrohlich – unseren Alltag auf den Kopf stellt. Vielleicht sind die Aufregung und die Unmittelbarkeit, die in Notfällen ausbrechen, einfach Indizien für eine Rückkehr zum Naturzustand. Vielleicht machen sie deutlich, welches Wrack unsere Gesellschaft ist. Wenn das der Fall ist, dann sind es nicht Katastrophen per se, die befreiend sind – es handelt sich eher um eine Frage der Perspektive: „Katastrophen“, die ein Leben von Zwang unterbrechen, werden dann zu befreienden Momenten, wenn das normale Leben die eigentliche (verschleierte) Katastrophe ist.

Die meisten Katastrophen, die wir als solche bezeichnen, können auf diese unsichtbare Katastrophe zurückgeführt werden: die Zerstörung des Regenwaldes und der Ozonschicht; Genozide, die mit biologischen Waffen und intelligenten Bomben durchgeführt werden; Pandemien wie Rinderwahn, Magersucht, Bulimie, Depression. All dies wäre nicht möglich ohne zentralistischen Staat, ohne Konzernmacht und ohne die entfremdete Arbeit von Milliarden, die diese erhalten. Im Gegensatz dazu wäre es beinahe idyllisch, wenn wir uns nur um „Naturkatastrophen“ und existentielle „Unsicherheit“ kümmern müssten, wie es unsere Vorfahren taten.

Können wir die Katastrophe mit Katastrophen bekämpfen? Wenn wir aufhören würden, für sie zu arbeiten und ihr Anerkennung zu zollen, dann würde die Katastrophe sicherlich in sich zusammenfallen und sich in Luft auflösen. Wenn der Status quo die ultimative Katastrophe ist, wenn er wirklich Verwirrung und Tragödie als System normalisiert, dann kann keine andere Katastrophe schlimmer sein. Es ist die Katastrophe, gegen die wir uns wenden müssen!

Manche von uns tun das bereits. Wir leben nicht in der „großen“ Katastrophe, sondern an ihrem Rand. Wir haben dabei mit vielen „gewöhnlichen“ Katastrophen zu tun und sehen uns vielen anderen Schwierigkeiten gegenüber, aber das ist nichts im Vergleich zum Elend des Lebens im eigentlichen Katastrophengebiet. Daher durchschauen wir die Propaganda, die uns vor Katastrophen Angst machen will, und verwenden Katastrophen, um zu experimentieren. Das bedeutet auch, dass wir nicht auf Katastrophen warten – wir führen sie herbei.

Die Katastrophonauten Dilemma Goldman und Calamity Jane

Originaltext: http://crimethinc.blogsport.de/2010/05/24/das-ende-der-welt-und-katastrophen/