Dieter Schrage - Warum Nichtwählen auch arrogant sein kann!

Dieter Schrage war einer der wenigen libertären QuerdenkerInnen in der politischen Landschaft Österreichs - anbei ein Diskussionsbeitrag von ihm aus dem Jahre 2006. Dass prinzipieller Wahlboykott nicht in jedem Fall das passende Mittel für unseren Kampf um eine bessere Welt darstellt, hat auch die Geschichte gezeigt (z.B. Spanien 1934 / 1936). Genauso steht allerdings auch fest, dass sich grundlegende Herrschaftsstrukturen dieser Gesellschaft (z.B. Eigentumsverteilung der Produktionsmittel) nicht durch Wahlen verändern lassen werden und Parlamentswahlen somit ein untaugliches Mittel für eine andere Welt darstellen...

15 Thesen zum 1. Okt. 2006

Warum ich meine, dass es bei den kommenden NR-Wahlen am 1. Oktober d. J. unbedingt – auch für Anarchos, Autonome und andere WahlverweigerInnen – wichtig ist, zur Wahl zu gehen und auch eine gültige Stimme abzugeben.

01. Schwarz-Blau bzw. Schwarz-Orange muss abgewählt werden!

Das ist sozusagen eine „soziale Pflicht". Ein Kabinett Schüssel, Westenthaler und/oder Strache – egal, was nachfolgt! – darf es in Österreich nicht mehr geben! Das sollte jeder/jedem klar sein, die/der nur einige Sekunden über die Lebenssituation von MigrantInnen und AsylwerberInnen oder von MindestpensionistInnen u.a. in unserem Land nachdenkt.

02. Es gibt a) prinzipielle – aus anarchistischen Pro-Wahlen- Minderheitspositionen abgeleitete – und b) aktuelle Gründe dafür, auch als AnarchistIn zu den kommenden NR-Wahlen zu gehen. Da ist zunächst einmal Augustin Souchys Votum, dass jede parlamentarische Form besser ist als eine Diktatur.

03. Nun zeichnet sich bei einem möglichen Kabinett mit Westenthaler/Strache & Co zwar keine Diktatur ab, doch ein autoritär-parlamentarisches System - z.B. mit Westenthalers MigrantInnen-Abschiebe-Ideen - ist angesagt. Und dieses muss ich auch!! mit den Mitteln des Stimmzettels abgewendet werden.

04. Sicher werden auch wesentlich andere Mittel wie Aktionen, Demonstrationen, antirassistische Bündnisse und eine forcierte Politik der Straße notwendig werden. Anarchistische Gruppierungen haben den Anlass von Parlamentswahlen schon immer zu nutzen gewusst, ihre Parlamentarismuskritik mit einem öffentlichen Herausarbeiten ihrer Alternativen zur Stimmzetteldemokratie zu verbinden.

05. Auf der anarchistischen Internetseite www.anarchismus.de/wahlboykott/wahlboykott.htm wird zu einem „Aktiven Wahlboykott = Ungültig wählen!" aufgerufen: „Wir akzeptieren, daß Menschen PolitikerInnen in Parlamente wählen wollen (die meisten von uns haben auch einmal gewählt), halten dies aber für nicht richtig."

Die Parlamentarismuskritik und die Propagierung des aktiven Wahlboykott ist nicht Schwerpunkt anarchistischer Arbeit sondern nur eine günstige Gelegenheit, unsere libertären Vorstellungen als Alternative zu diskutieren".

06 Entscheidend für meine ist auch ein Aspekt, der von der anarchistischen Parlamentarismuskritik selbst kommt: "(Anarchistische) Parlamentarismuskritik wird an die Bedingung geknüpft, das parlamentarischen System nur dann zu bekämpfen und zu stürzen, wenn die begründete Aussicht und eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß eine basisdemokratische, föderalistische und herrschaftsfreie Form gesamtgesellschaftlicher Entscheidungsfindung das parlamentarische System ersetzen kann." (Graswurzelrevolution Nr. 146/47/48, S. 8).

07. Diese Voraussetzung, reale, gesellschaftspolitisch relevanten Konturen einer basisdemokratischen, föderalistischen und herrschaftsfreien Alternative tatsächlich – und da will ich bestehende anarchistische Gruppierungen und Initiativen nicht gering schätzen – nachzuweisen, ist nicht gegeben. Mangels dieses Alternativen ist es für mich unumgänglich, am 1. Okt. d. J. eine gültige Anti-Schüssel & Co-Stimme abzugeben

08. Auch innerhalb des kapitalistischen Systems gibt es entscheidende, das Leben vieler Menschen betreffende Differenzierungen. Eine weitere ÖVP-Regierung wird – bei, wie bisher, gleichzeitigem Ansteigen des Vermögens der Superreichen – den Sozialabbau stärker vorantreiben als jede andere Regierungskonstellation. Man/frau stelle sich einmal vor, 1% der Superreichen besitzen erheblich mehr an Vermögen (Geld, Immobilien, Unternehmensbesitz u. a. = 320 Mrd. Euro) als die restlicher 90 % der ÖsterreicherInnen.

09. Verteilungsungerechtigkeiten gab es zwar auch unter der sozialdemokratischen Kreisky-Regierung oder unter der großen Koalition der Vranitzky-Ära, doch noch nie war die ständige Umverteilung von unten nach oben so drastisch wie unter der Schüssel-Regierung. Das bekommen sowohl die unsoziale Studiengebühren bezahlenden StudentInnen und die Jugendlichen ohne Lehrstellen als auch die Arbeitslosen und Pensionisten in ihrem Lebensalltag zu spüren.

10. Die „Zwei-Klassen-Medizin", die es in bestimmter Weise schon immer gegeben hat, nimmt jetzt drastische Formen an. Das österreichische Gesundheitssystem, das letztlich doch eine leistbare Gesundheit für alle zum Ziel hatte, wird von der Regierung selbst immer weiter „spitalsreif" gespart. Zunehmende Selbstbehalte belasten die Versicherten im Krankheitsfalle und Leistungskürzungen in der gesetzlichen Krankenversicherung treffen vor allem sozial Schwache und chronisch Kranke.

11. Eine ÖVP-Regierung wird auch weiterhin aus Rücksicht auf ihre Wählerklientel nicht bereit sein, neue, sozial gerechte Finanzierungsquellen (z. B. eine produktivitätsorientierte Wertschöpfungsabgabe) für ein leistungsfähiges Gesundheitssystem oder zur Sicherung der der Pensionen) zu erschließen. Dabei steigt – obwohl immer weniger Menschen im Arbeitsprozess stehen – das Brutto-Inlandsprodukt (BIP) von Jahr zu Jahr. Aber keine österreichische Parlamentspartei tritt dafür ein, dass diese Wertzuwächse oder die Finanzkapitalgewinne steuerlich erfasst werden.

12. Eine ÖVP-Regierung wird sicher nach 2006, wenn es ihr möglich ist, die Pflichtversicherung (z.B. bei den Pensionen) abbauen und eine Versicherungspflicht (klingt teuflisch ähnlich, ist aber sozialpolitisch ganz etwas anderes!) einführen. Durch eine Lösung wie bei der Autohaftpflichtversicherung soll die mächtige Versicherungswirtschaft am fetten Pensionskuchen mitknabbern. Und das wird weiterhin zu Lasten der PensionistInnen, vor allem der Mindestrentenbezieherin gehen. In Österreich gibt es 227.000 Menschen, die eine Mindestpension, das sind inklusive Ausgleichszulage 690 Euro im Monat, beziehen.

13. Diesen alten Menschen, von denen viele, und besonders Frauen, tatsächlich arm sind und die in der Regel noch eine Lebenserwartung von ein oder zwei Jahrzehnten haben, wird man nicht mit Sprüchen wie „Würden Wahlen etwas bringen, wären sie längst verboten" oder mit mit dem Hinweis auf eine ferne herrschaftsfrei Gesellschaft kommen können. Für diese, aber auch für viele junge, wird es nicht egal sein, wer nach dem 1. Oktober auf den parlamentarischen Regierungsbänken sitzen wird – z. B. ein Sozialminister Peter Westenthaler oder ein Karl Öllinger?

14. Den sogenannten „kleinen Leuten" (den von oben klein Gehaltenen) gegenüber ist es aus meiner Sicht sogar arrogant, dieses Mal nicht zur Wahl zu gehen. Eine Wende ist angesagt. Und diese Möglichkeit darf nicht vertan werden. Bei diesem Votum ist mir schon klar, dass ich inhaltlich nur negativ (d. h. was zu verhindern ist) argumentiert habe. Doch in dem bestehenden System ist es neben allen emanzipatorischen Aktivitäten auch wichtig, noch Schlimmeres zu verhindern. Und das kann und soll auch mit einem gültigen Wahlzettel geschehen.

15. Mein Pro-Wählen-Haltung für den 1.Oktober 06 solll mich auch als 71Jähriger nicht daran hindern, einer libertär-sozialistische Perspektive für eine zukünftige Gesellschaft treu zu bleiben: Vor allem ist das gesellschaftliche Klima ist zugunsten freiheitlich-libertärer Perspektiven zu ändern.

Gerne stehe ich zu weiteren Informationen oder – nach Terminvereinbarung – zu einem Gespräch bzw. Diskussion zur Verfügung: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! – Postanschrift: 1140 Wien, Matznergasse 8/56

* Überarbeiteter Vortrag „Warum Nichtwählen auch arrogant sein kann!" des 5. Pierre Ramus-Symposions „Stell dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin" – Anarchismus und Parlamentarismus am 22. 4. 2006 im Republikanischen Klub in Wien.

Originaltext: Dieter Schrage